Ägypten 2018 – Auf die Rebellion folgte die brutale Konterrevolution

Interview mit Kija von der Informationsstelle Militarisierung

TA:

Was mich zuerst einmal interessieren würde: Ihr habt ja eine Ägypten-Gruppe gegründet, eine Soli-Gruppe, warum gerade Ägypten?

Kija:

Ägypten ist wichtig für uns – nach der Solidarität, die es mit den Protestbewegungen, mit den zahlreichen Gruppierungen in Ägypten, die nach dem Sturz von Mubarak bei den großen Massenprotesten im Jahr 2011 entstanden sind, also danach ist diese ganze Solidarität weggefallen. Und tatsächlich ist die Situation für regierungskritische Stimmen in Ägypten gerade so schlimm wie noch nie. Die internationale Solidarität ist gerade leider so schwach wie schon lange nicht mehr.

Aus diesem Grund wollten wir versuchen, anzuregen, Solidaritätsarbeit zu Ägypten zu machen oder zumindest darüber zu reden. Wir wollten auch die Kooperation Ägyptens mit der Bundesregierung kritisieren. Von der Bundesregierung kommen kaum kritische Worte. Während 2011, zumindest im Diskurs, noch so etwas wie Menschenrechte ein Thema war – ich möchte jetzt nicht sagen, dass je der Bundesregierung oder der EU die Menschenrechtslage in Ägypten besonders am Herzen gelegen hat – aber da hat man das zumindest noch benannt.

Man hat zumindest noch nach Außen hin gesagt, man möchte die demokratischen Prozesse in Ägypten stärken. Es ging von Anfang an natürlich lediglich darum, ein Mitspracherecht zu haben, praktisch die neuen Führungspersönlichkeiten und Parteien, die sich da herausbilden, kennenzulernen, um Einfluss auf sie zu nehmen.

Dieser Diskurs ist jetzt weggefallen. Es gibt jetzt den Militärdiktator Abd al-Fattah al-Sisi und über die Menschenrechtslage wird nicht mehr geredet.

Also ich denke nicht, dass die Interessen sich geändert haben, die waren immer die Gleichen, aber jetzt tut man noch nicht mehr einmal so, als hätte man tatsächlich ein Interesse an der Menschenrechtslage und deshalb denken wir, dass die Solidarität mit den regierungskritischen Stimmen in Ägypten gerade heute sehr wichtig ist.

TA:

Die Solidarität hat sehr abgenommen, verglichen mit der Zeit des sogenannten Arabischen Frühlings oder der Arabischen Rebellion, da war ja die Solidaritätsbewegung sehr viel größer. Was glaubst du, woran das liegt?

Kija:

Ja, ich denke, es sind viele Faktoren. Der erste Faktor, wenn es diese Massenproteste gibt, und diesepositivenGeschichten und diese bekannten Gesichter vom Tahrir Platz, die man dazu hat, dann ist es, denke ich, weitaus einfacher, Solidarität zu üben. Es ist einfacher, solidarisch zu sein in einer Phase, in der absehbar ist, dass die Regierung gestürzt wird, als danach.

In Ägypten gab es viele Aktivistinnen und Aktivisten, die es sehr frustriert hat, zu merken, selbst wenn wir es schaffen, den Präsidenten zu stürzen und es danach Wahlen gibt, dann ist nicht gesagt, dass es danach demokratischer wird. Das hat man auch gesehen mit Präsident Mohammed Mursi, der sich praktisch immer mehr Rechte zugeschrieben hat.

Danach – mit dem Militärputsch – hat man dann auch gesehen, dass es auch andere Länder gibt, die sehr wohl die Zukunft von Ägypten mitformen wollen. Das bedeutet, dass man nicht nur praktisch gegen einen Präsidenten auf die Straße gehen muss, sondern im Endeffekt gegen Kapitalismus, gegen Neoliberalismus, gegen Neokolonialismus, und das ist etwas weitaus größeres.

In Ägypten ist es auch noch einmal schwieriger, weil das Militär – der ganze Militärapparat – im wirtschaftlichen Sektor als auch in der Politik so mächtig ist. Es geht nicht nur darum, nur einen Präsidenten zu stürzen, sondern es geht um einen grundlegenden Wechsel. Ich denke, sobald man merkt, dass es wirklich komplexer wird, ist Solidarität schwieriger.

Ein andere Faktor ist – es ist ja oft so mit Gruppen, die internationale Solidarität üben – dass die Solidarität oft Kampagnenform hat oder nur zeitweise ist. Danach werden die Kampagnen oder die Solidarität abgelöst von weiteren Faktoren:

Die letzten Jahre waren sehr wild und sehr frustrierend in verschiedenen Sektoren, was die Linke angeht. Z.B.: In Deutschland oder auch in Italien, ob das jetzt die Austeritätspolitik in Italien ist oder ob das der Rechtsruck ist, oder ob das der Krieg in Syrien ist oder der Krieg im Jemen, der Krieg gegen Migrantinnen und Migranten… Ich denke, daran liegt es, dass die Solidarität abgenommen hat.

TA:

Du hast ja gerade gesagt, wie frustrierend die Situation gerade ist. Wie ist die Lage in Ägypten für Menschenrechtsorganisationen oder Opposition, oder auch für die Muslim-Bruderschaft?

Kija:

Das Problem ist, es gibt nicht wirklich Zahlen. Es gab Kollektive, die eine Liste von politischen Gefangenen zusammengestellt haben – das ist aber schon bald zwei Jahre her. Die Schätzungen liegen jetzt bei 60 000 politischen Gefangenen. Viele von den politischen Gefangenen sind politische Gefangene unter dem Vorwurf „Terrorismus“.

Es ist ganz schwer herauszufinden, wer alles im Gefängnis ist. Es gibt unglaublich viele Entführungen, fast tagtäglich – auch von prominenten Persönlichkeiten. Es ist schwierig zu wissen, wo sind die Leute, sind sie entführt worden, sind sie in Gefangenschaft? Und dann ist es schwierig herauszufinden, was wirklich die Gründe sind.

Das passiert nicht nur im städtischen Raum – auch im ländlichen Raum. Und da sind manchmal gar keine Organisationen am Start, die das nachprüfen oder überprüfen. Deshalb wird eigentlich seit bald zwei Jahren mit der Zahl 60 000 hantiert. Es sind auf jeden Fall so viele, dass die Gefängnisse überfüllt sind.

Seit der Amtszeit von al-Sisi wurden rund 13 neue Gefängnisse gebaut. Es gibt Berichte von Menschenrechtsorganisationen, dass die Zellen so voll sind, dass es noch nicht einmal Platz gibt, dass alle gleichzeitig liegen und schlafen können, sondern dass man sich abwechseln muss, was horrende Vorstellungen sind. Erst jetzt gab es einen Bericht von Human Rights Watch, die darüber geschrieben haben, wie in Ägypten auch ganz strukturell Isolationshaft genutzt wird als Folter. Es gibt Berichte über zahlreiche Verstöße in den Gefängnissen: Davon dass man keine Zahnbürste haben darf, dass man keine Bücher haben darf, dass es einem nicht erlaubt wird – selbst wenn man Besuchsrecht hat – den Besuch zu empfangen.

Abgesehen davon, dass den Verwandten oft gar nicht mitgeteilt wird, dass die Person in Haft ist. Diese Entführungen – das kann lange dauern, bis man das herausbekommt. Viele Angehörige suchen nach ihren Vermissten. Und es gibt Folter – körperliche und psychische.

Wie ist es heute, Dissens zu zeigen: Wenn man sich anschaut, wie die letzte Wahl am 4. April war, ist auch sehr beispielhaft dafür, wie al-Sisi allgemein gegen Opposition vorgeht. Er hat schon vor der Wahl diejenigen, die gegen ihn kandidieren sollten, eingeschüchtert oder auch verhaftet.

Es gibt einen prominenteren Vertreter des Militärs, Sami Anan. Er wurde aus dem Auto entführt. Er war in Kairo in seinem Auto und wurde bei Tageslicht aus seinem Auto herausgezogen und wurde dann verhaftet. Es gab eigentlich keinen Grund dafür. Das ist passiert kurz nachdem er verkündigt hat, dass er kandidieren möchte.

Es gibt einen anderen, den ehemaligen Premier-Minister von Ägypten, Ahmed Shafiq, der war selber in Dubai. Nachdem er zuvor bereits kandidiert hatte, bei den letzten Wahlen 2014, ist er danach in die Vereinigten Arabischen Emirate und hat da gelebt. Und aus Angst, er könnte kandidieren oder vielleicht gab es auch Gerüchte, die an al-Sisi herangetragen wurden, hat Dubai ihn an Ägypten deportiert und in Ägypten kam er in Haft.

Es gibt weitere Beispiele. Ein Nachfahre – ich glaube ein Enkel – von Anwar as-Sadat, dem Präsidenten vor Mubarak, der wurde auch eingeschüchtert und die Anhänger seiner Gruppe wurden eingeschüchtert, so dass er die Kandidatur zurückgezogen hat usw. usf. Die Liste ist lang.

Einige, die kandidieren wollten und die zum Boykott aufgerufen haben, denen wurde vorgeworfen, dass sie die Regierung stürzen wollen würden und es gab nur einen einzigen Kandidaten gegen al-Sisi, und der ist Mitglied einer kleinen politischen Gruppe, die die Partei von Sisi unterstützt und hinter Sisi steht. Seine Kandidatur wurde erst zwei Tage vor der Wahl bekannt gegeben.

Man kann nicht von einer Wahl sprechen. Es gab eine Form von Widerstand von vielen ÄgypterInnen, auf die großer Druck ausgeübt wurde, dass sie unbedingt wählen müssen. Sisi wollte sich nicht blamieren mit einer niedrigen Wahlbeteiligung, so gab es viel Druck und Einschüchterungen, wodurch man die Leute dazu getrieben hat, in die Wahllokale zu gehen. Viele sind hingegangen und haben so getan, als würden sie wählen. Aber auf vielen der Stimmzettel wurde gar nicht abgestimmt.

Es wird diesen vielen Organisationen schwer gemacht, sich zu finanzieren. Es heißt, um den Terrorismus zu bekämpfen will man die Finanzierung aus dem Ausland überprüfen, und das ist an die Nichtregierungsorganisationen gerichtet. Viele haben nicht mehr eine Grundlage, wie sie sich finanzieren sollen. Andere wurden auch geschlossen.

Es gibt EL Nadeem. Das ist eine Organisation, die sich um Folteropfer kümmert. Der wird es ebenfalls schwer gemacht, zu arbeiten. Einerseits, indem es ihnen nicht mehr möglich gemacht wird, Finanzierung von außen zu bekommen. Andererseits, indem sie politische Repressionen erleiden.

Wenn wir uns die Muslim-Bruderschaft anschauen. Im August 2013 wurden mehr als 1 000 Menschen in Kairo erschossen bei einem Sit-In auf dem Rābiʿa-al-ʿAdawiyya-Platz in Kairo. Kurz danach wurde die Muslim-Bruderschaft als terroristische Organisation eingestuft.

Das war die Partei, die den ersten demokratisch gewählten Präsidenten in Ägypten gestellt hat. Klar, man kann die Muslim-Bruderschaft kritisieren. Ich kritisiere sie auch, einerseits steht sie wirtschaftlich für Neoliberalismus und andererseits hat Mursi die ÄgypterInnen, die die Revolution gemacht haben, stark enttäuscht, indem er sich immer mehr Rechte zugeschrieben hat. Aber es ist die Stimmevon der Opposition. Es ist schwierig für die Muslim-Bruderschaft, politisch zu agieren.

Es wurden im Laufe der Amtszeit von Sisi mittlerweile mehr als 80 Online-Nachrichtenseiten gesperrt, die jetzt nicht mehr zugänglich sind von Ägypten aus. Eine ganz wichtige und progressive ist Mada Masr. Aber die progressiven Leute haben jetzt angefangen, eine politische Satire-Show zu machen, die heißt Großer Bruder. Und es ist schön zu sehen, wie sie sich neu erfinden und nicht aufgeben, obwohl alle von ihnen ein starkes Risiko in Kauf nehmen müssen, verhaftet zu werden.

Es sind offiziell 17 Journalisten in Haft. Im Mai dieses Jahres wurde einer der letzten Journalisten, Ismail Alexandrani, die aus dem Sinai berichtet haben, verurteilt. In Sinai wurde ein Media-Blackout auferlegt, da dürfen keine Journalisten rein, Stimmen aus Sinai werden zensiert, es ist ganz schwer, Informationen darüber zu erhalten.

Ismail Alexandrani war zwei Jahre in Untersuchungshaft und wurde jetzt zu zehn Jahren verurteilt, für das Verbreiten von falschen Nachrichten, Rufmord am Staat und Verunglimpfung. Muhamed Sabry, der auch zu Sinai geschrieben hat, ist ins Exil gegangen, da er zu viel Repression erfahren hat.

TA:

Du hast vorher schon mal den Kampf gegen den Neokolonialismus erwähnt, den Kampf gegen Kapitalismus. Welche Interessen hat Deutschland an Ägypten? Klar, Ägypten ist einer der größten Waffenkäufer. 2016 waren Algerien und Ägypten die größten Waffenabnehmer von Deutschland.

Kija:

Ich denke, wichtiger als Waffenexporte sind die geostrategischen und geopolitischen Interessen. Ägypten ist verflucht, weil es am Suez-Kanal liegt.

Es gab ja bereits einen Krieg in den 1950ern, als Ägypten den Suez-Kanal verstaatlicht hat. Es ist im Interesse aller großen Exportnationen, dass der Zugang zum Roten Meer und zum Mittelmeer – vom Indischen Ozean bis in den Atlantik – sichergestellt werden muss.

Deshalb haben wir diese ganzen Missionen gegen Piraterie am Horn von Afrika. Deshalb gibt es jetzt auch immer mehr Militärbasen in Dschibuti, an der Meerenge bei Bab al-Mandab.

Es wäre der Albtraum aller großen Exportnationen, wenn Ägypten eine demokratische Regierung hätte, die selber entscheiden könnte, was die Schiffe zahlen müssen, um durch den Suez-Kanal zu fahren, oder Bedingungen auferlegen könnte usw. Ich glaube, das ist ein ganz großer Punkt: Der Suez-Kanal muss offen für die Exportnationen sein. Die Sicherheit für die Waren muss gewährleistet sein.

Der Suez-Kanal wurde jetzt ausgebaut. China ist z.B. interessiert daran, diese Infrastrukturmaßnahmen mit zu finanzieren. Es sollen ein Logistik-Hafen und ein Industrie-Zentrum entstehen, was das alles noch interessanter und profitabler macht.

Ein weiter Grund ist: Vor wenigen Tagen hat Volker Kauder, CDU, die demokratischen Prozesse, die Entwicklungen, die Ägypten durchmacht, die gute Kollaboration in der Bekämpfung von illegaler Migration und Terrorismus gelobt. Er hat gesagt, Ägypten ist und bleibt als größtes arabisches Land der Schlüssel fürStabilitätin derRegion“.

Ich denke, das ist recht bezeichnend. Ägypten ist interessant für die Bundesregierung in der Zusammenarbeit mit einer Regierung in Ägypten, die darauf hört, was der Westen sagt, weil das Land in starken Abhängigkeiten steht. Das ist nicht nur für die Bundesregierung interessant, sondern auch für die EU insgesamt und auch für die USA und weitere Staaten.

Ägypten ist das bevölkerungsreichste arabische Land. Ägypten war auch schon mal tonangebend für Befreiungsnationalismus – den ich nicht romantisieren möchte. Aber es gab auch andere Winde, die in Ägypten geweht haben.

So lange der wirtschaftliche Status quo herrscht, in dem Sinne: Man hat Eliten, mit denen man kollaborieren kann und die nicht unbedingt die Sanktionen der Bevölkerung befürchten müssen. Sie werden abgesichert durch Aufrüstung, Ausstattungen, Ausbildungen – auch in Aufstandsbekämpfung. Das ist ihnen wichtig.

TA:

Unter diesen Bedingungen hätten sie auch Mubarak behalten können. Mubarak steht ja für all das, was du gerade gesagt hast: Stabilität, Garant im arabischen Raum, dafür stand Mubarak ja auch.

Kija:

Aber im Endeffekt haben sie Mubarak gehalten. In dem Sinne, dass Mubarak als Person gegangen ist, aber was eigentlich dahinterstand, war die Macht des Militärapparats, und daran hat sich nichts geändert. Man hat ein Gesicht verloren, das war es. Aber die ganze Machtstruktur, die ganzen wirtschaftlichen Eliten, daran hat sich nichts geändert. Es war praktisch eine Entscheidung des Militärs zu sagen, o.k. Mubarak ist nicht mehr zu halten, und er war praktisch das Bauernopfer, das gefallen ist. Zudem hat sich mit der Entscheidung Mubaraks, seinen Sohn Gamal Mubarak, der im Gegensatz zu allen vorherigen Präsidenten nicht aus den Militärrängen kam, als seinen Nachfolger zu platzieren, ein Konflikt zwischen dem Militär und ihm aufgebaut. Diesen konnte das Militär mit dem Sturz Mubaraks leicht lösen. Aber es ist nicht so, dass sich mit dem Abgang von Mubarak etwas geändert hätte.

TA:

Das Militär hat ja relativ viel Macht in Ägypten. Es hat eigene Krankenhäuser, eigene Industriezentren –das hat sich im Laufe der Zeit so entwickelt. Das Militär galt bisher immer als Garant für Stabilität, seit der Suez-Kanal unter Nasser verstaatlicht wurde.

Kija:

Das war ein interessanter Moment in der Geschichte. Als die freien Generäle König Faruk stürzten, gab es einerseits Gamal Abdel Nasser und es gab Muhammad Nagib. Nagib war eigentlich die einflussreichste Person zu dem Zeitpunkt und wurde zum ersten ägyptischen Präsidenten ernannt. Er hatte gesagt, nach dem Sturz des Königs zieht sich das Militär aus den politischen Belangen raus und erlaubt eine parlamentarische Demokratie, aber Nasser setzte ihn daraufhin ab. Um sich von Anfang an die Macht zu sichern, hat er viel von den konfiszierten Ländern an die Generäle gegeben. So hat es angefangen.

Jetzt heißt es – es gibt auch da keine Statistik, weil es nicht erforscht werden darf, weil es eines der Tabu-Themen ist – es wird davon ausgegangen, dass das ägyptische Militär in 61 Prozent der Wirtschaft mit drinsteckt. Die stellen Makkaroni, Klopapier, … her. Die haben Gewächshäuser, sie haben unglaublich viel Land.

Der ganze Landverkauf, von dem die Regierung entscheidet, dass es jetzt staatlich ist, das gehört dem Militär. Das ist ziemlich willkürlich. Dagegen gibt es auch immer wieder Proteste.

Jetzt wollen sie auch die Nil-Inseln räumen, auf denen seit Jahrhunderten Menschen leben und diese bewirtschaften. Sie leisten jetzt Widerstand. Die meisten Bauunternehmen – das ist Militär. Diese ganzen Megaprojekte von Sisi dienen auch dazu, das Militär mehr an sich zu binden, weil die ganzen Unternehmen, die da mit drin stecken, sind vom Militär.

Ja, und sie können auch gut produzieren, weil in Ägypten ist der Militärdienst verpflichtend. Viele, die Militärdienst machen, verbringen so gut wie eigentlich keine Zeit in der Kaserne, weil sie dann in diesen Fabriken des Militärs arbeiten und nicht bezahlt werden. Das wird als Militärdienst gesehen. D.h. man hat eine kostenlose Arbeitskraft.

TA:

Stichwort China: Du hast gerade gesagt, dass China auch Interesse hat an dem neuen Hafen und die Infrastruktur drum herum mit aufbaut. China verwirklicht Megaprojekte in Tansania, in Südafrika – China ist stark auf dem afrikanischen Kontinent und hat auch Militär stationiert in Dschibuti in Konkurrenz zu den anderen Mächten. Wie siehst du das? Weißt du, welchen Einfluss China auf Ägypten hat, wie wirkt sich der Einfluss aus auf wirtschaftlicher Ebene?

Kija:

China finanziert jetzt Megaprojekte mit. Ägypten plant ja auch den Bau einer neuen Hauptstadt. Das ist ein Milliardenprojekt. Es ist größenwahnsinnig, kann man fast schon sagen. Vor allem wenn man bedenkt: Mit den ganzen Streichungen von Subventionen, der hohen Inflation usw. usf.

Viele Menschen wissen tatsächlich nicht mehr, was sie essen sollen. Dass man dann diese Megaprojekte realisiert. Und eines von diesen ist dieses unnütze neue Hauptstadt-Projekt, an dem auch Deutschland groß mit beteiligt werden soll und eben auch China. 85 Prozent der Kosten von diesen drei Milliarden, die für einen Teil vorgesehen sind, sollen von China geleistet werden.

Dieser Teil soll auch von einem chinesischen Unternehmen gebaut werden. Es sind praktisch Kredite, die innerhalb von wenigen Jahren zurückgezahlt werden müssen und die dadurch auch noch ein chinesisches Unternehmen finanzieren.

TA:

Wenn China die neue Seidenstraße baut, ist Ägypten auch Teil davon.

Kija:

Allein der Suez-Kanal ist auch für China von großer Bedeutung, als ebenfalls große Exportnation. Seit den 1990ern haben die Beziehungen zwischen China und Ägypten zugenommen, und in den letzten Jahren wurden sie intensiviert.

TA:

Die alte Kolonialmacht England. Zieht die sich aus Ägypten zurück?

Kija:

Von England kriegt man zum Thema Ägypten gerade tatsächlich nicht allzu viel mit. Es gab einige Proteste dort, vor allem seit Giulio Regeni umgebracht wurde, ein italienischer Politikwissenschaftler, der in Cambridge studiert hat. Es gab viele Demos an den Universitäten und in London bei dem Besuch von Sisi. Aber unter den Ländern, die groß im Waffengeschäft in Ägypten mitmachen, sticht vor allem Frankreich hervor und natürlich die USA, die einen großen Einfluss auf Ägypten haben.

TA:

Welches Interesse hat Ägypten daran, sich am Krieg im Jemen zu beteiligen?

Kija:

Ägyptens Wirtschaft steht vor dem Kollaps. Sisi könnte sich nicht an der Macht halten, wenn er nicht ständig neue Kredite aus Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten bekommen würde. Eigentlich ist es seit Jahrzehnten so, aber nochmals verstärkt seit 2007/2008 mit der Finanzkrise.

In vielen Projekten hat Saudi-Arabien Kapital aus europäischen Ländern abgezogen, aus Ländern, die massiv von der Krise betroffen waren, und hat das Kapital in den arabischen Ländern investiert – vor allem in Ägypten.

Die ägyptische Wirtschaft ist von saudi-arabischen Sponsoren und Unternehmen kaum zu trennen. Sisi hat persönlich für seine Regierung – wie viel er davon in die eigene Tasche steckt, weiß man nicht – aber er hat sehr viel Geld bekommen von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Der Krieg im Jemen, dabei trägt Saudi-Arabien zwar die Hauptverantwortung, aber Ägypten beteiligt sich, und die Welt sieht weg.

TA:

Sisi wollte die strategisch wichtigen Inseln Tiran und Sanafir im Roten Meer an Saudi-Arabien verschenken bei einem Besuch des saudischen Königs Salman in Ägypten Anfang April 2016.

Kija:

Da gab es starke Proteste und letztendlich hat sogar ein Gericht in Ägypten sich getraut zu sagen, das darf man nicht, das geht nicht. Es gab daher kurzzeitig Spannungen zwischen Ägypten und Saudi-Arabien.

TA:

Nun will Saudi-Arabien das Megaprojekt „Neom” starten. 265 000 Quadratkilometer ist das Gebiet und liegt im Nordwesten von Saudi-Arabien, in direkter Nähe zu Jordanien und Ägypten. Auch die beiden Inseln Tiran und Sanafir werden zu „Neom” gehören. Eine Brücke soll gebaut werden, die über Tiran über das Rote Meer bis auf das ägyptische Festland reicht und damit Asien und Afrika verbinden soll. Da soll eine mega innovative Digital-Industriezone mit Forschungseinrichtungen usw. usf. entstehen. Ein ehemaliger Siemens-Chef ist als Geschäftsführer eingestellt.

Kija:

Saudi-Arabien soll auch einen Militärstützpunkt errichten dürfen. Neom liegt am Golf von Akaba, am Sinai. Dort wollen sie nicht nur diese innovative Stadt bauen, sondern sie wollen Präsenz im Roten Meer haben. Es ist gerade sehr „en vogue“, eine Militärbasis am Roten Meer zu haben. Das haben jetzt fast alle großen Staaten: Die USA, Frankreich, China, Spanien, Japan, Italien und natürlich die Bundesregierung. Sie haben ihre Soldaten zumindest zeitweise in einem Fünf-Sterne-Hotel, dem Sheraton untergebracht. Es gibt dort eine sehr hohe Militärdichte.

Die Türkei in Somalia, die Vereinigten Arabischen Emirate in Eritrea, Dschibuti, Somalia und Somaliland. Sie haben Pachtverträge für Militärbasen dort abgeschlossen, trainieren die örtliche Polizei…

TA:

Das Rote Meer ist ein strategisch wichtiger Punkt.

Kija:

Ja, es gibt gerade einen Wettlauf, um Seekontrolle und strategische Einflussgebiete.

TA:

Welche Rolle spielt Ägypten in der Flüchtlingsabwehr?

Kija:

Ägypten ist von der Bundesregierung zum Partner im Kampf gegen Terror und Migration ernannt worden. Erhält dafür Ausbildung und Ausstattung.

2017 wurde ein neues Abkommen beschlossen, das jetzt noch weiter austariert wird, was dieses Abkommen alles beinhalten soll. D.h. es scheint, dass Ägypten eine Liste an die Bundesregierung gegeben hat mit den ganzen Sachen, die es gerne hätte, und die Bundesregierung entscheidet, was das Land bekommt und was nicht.

Was geplant ist, dass es praktisch Delegationsreisen gibt von Polizeioffizieren nach Deutschland, die hier Fortbildungen machen. Es geht darum, dass man einerseits zusammenarbeitet in der Bekämpfung von Schmuggel – es geht hier um Menschenschmuggel. Es ist bereits so, dass auf Druck der Bundesregierung und der EU Ägypten Migration illegalisiert hat – seit 2015 ist es praktisch gesetzwidrig, ohne gültige Dokumente sich durch das Land zu bewegen oder auch Menschen zu transportieren ohne gültige Dokumente – also vom Busfahrer zum Schmuggler.

Es wurde bereits Ausstattungshilfe geleistet u.a. Fingerabdrucklesegeräte, um feststellen zu können, welche Staatsangehörigkeit die Person hat, damit man das Abschiebehindernis der Nichtfeststellbarkeit der Staatsangehörigkeit aus dem Weg räumen kann. 70 Prozent aller Fälle von den Personen, die man gerne abschieben möchte, kann man nicht abschieben, weil man die Staatsangehörigkeit nicht nachweisen kann.

In der Polizeizusammenarbeit von 2014 bis jetzt, hat das BKA Schulungen gegeben in Internetauswertungen. Und es ist rausgekommen, dass eben dieses Wissen genutzt wurde, um in den sozialen Medien Profile von Leuten zu durchforsten, um zu verstehen, wer politisch Dissens äußert, und auch wer homosexuell ist.

Ägyptens Strategie vom Sicherheitsapparat ist: Man gaukelt den Menschen immer vor, für Ordnung zu sorgen und puscht auf diese konservativen Vorstellungen, dass die ägyptische Staatspolizei praktisch für die Ordnung in der Gesellschaft sorgt und die, die dann darunter leiden, sind oft dann eben Personen aus dem Rotlicht-Milieu oder eben auch Menschen, die nicht heterosexuell orientiert sind. Das wird dann groß aufgezogen, um zu sagen, „schaut wie die ägyptische Polizei sich für die Aufrechterhaltung unserer Werte in unserer Gesellschaft kümmert“. Ägypten hat unter Sisi noch einmal die Repressionen gegen homosexuelle Menschen ausgeweitet.

Was jetzt weiter geplant ist im Kampf gegen Migration und Flucht, ist die Errichtung von einer Art Büro – das soll die GIZ (Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) machen im Auftrag vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Die sollen ein Deutsch-Ägyptisches-Zentrum für Jobs, Migration und Reintegration machen. Das ist ein Gebäude, aus dem einerseits Kommunikations-Kampagnen organisiert werden, damit Menschen nicht übers Mittelmeer fliehen. Das ist sowohl an Ägypten als Transit- als auch als Herkunftsstaat gerichtet. Man will zudem die „Rückkehr erleichtern“.

Also wenn Deutschland abschiebt, soll Ägypten die Menschen aufnehmen. Nach außen hin soll dieses Zentrum so eine Art „freundliches Gesicht“ geben, dass man sagen kann, aber guckt, wir machen doch was gegen Fluchtursachen, wir haben hier dieses Zentrum für Jobs. Sie wollen auch versuchen, dort Ausbildungen anzubieten, sie zu beraten, wie sie an Job kommen können.

Aber das Problem von Ägypten ist ja nicht, dass ihnen eine Art Arbeitsagentur fehlt. Aber das wird eben dargestellt.

Zum Abkommen zur Migration: Einerseits geht es darum, dass man Migration als Schmuggel bekämpft, dass man Rückführabkommen abschließt, dass man das Ablegen von Booten an der Küste sicherstellt und dass man verhindert, dass Menschen ohne gültige Papiere vom Süden nach Ägypten reinkommen.

Ägypten ist auch Teil von dem Khartoum-Prozess, der von der EU aufgestellt wurde. Die Länder, die an dem Prozess beteiligt sind, sollen verhindern, dass die Menschen nach Libyen kommen, wenn man Libyen nicht unter Kontrolle bekommt. Da macht Ägypten mit.

Sie bekommen da z.B.: Von Italien eine Polizeiakademie. Ägypten ist sehr wichtig im Kampf gegen Migration. Und das, obwohl man weiß, dass die ägyptische Küstenwache wiederholt „shoot to stop“ benutzt hat. So nennt man das, wenn ein Boot ablegt und man schießt auf das Boot und nimmt in Kauf, dass die Menschen auf dem Boot sterben, um sie aufzuhalten. Das ist mehrmals vorgekommen. Da gibt es verschiedene Menschenrechtsorganisationsberichte dazu.

Das hat auch viele Menschen aus Syrien betroffen, die eine Weile versucht haben, über Ägypten nach Europa zu kommen.

Aus Ägypten betrifft es meistens Minderjährige, weil sie noch eine bestimmte Chance haben, in Europa ein Recht zu haben, weil sie als Ägypter nur schwer Asyl bekommen. Und wenn man sich anschaut, was in Sinai passiert, da gibt es den sogenannten Krieg gegen den Terror. Da gibt es sehr viele Luftschläge von denen hier kaum berichtet wird. Diese Route ist auch nicht mehr möglich.

Früher war es eine der Routen, die man genommen hat, um von Eritrea, Äthiopien oder Sudan durch Ägypten und durch den Sinai nach Israel zu gelangen. Im Sinai ist Krieg und für die Menschen auf der Flucht ist es nicht mehr möglich diesen Weg zu nutzen. Und auf dem anderen Weg mit der Küste wird „shoot to stop“ angewandt. Es gibt keine Kritik daran.

Im Gegenteil: es gibt Bekräftigung darin. Volker Kauder hat in seinem schönen Interview vor kurzem auch gleich gelobt, wie gut sie doch jetzt zusammenarbeiten, dass viel weniger Menschen aus Ägypten ablegen, dass das in der Migrationszusammenarbeit hervorragend funktioniere. Der Preis ist hoch.

Es gibt auch kaum noch eine Organisation, die sich einsetzt für z.B. sudanesische Migrantinnen und Migranten. Es gab eine, aber aus unterschiedlichen Gründen wurde sie auch geschlossen.

Man hat dieses Gesetz erlassen gegen die Finanzierung von NGOs von außerhalb. Andererseits ist es den Leuten auch zu heiß geworden, zum Teil. Es waren auch viele aus England, die da mitgemacht haben, bei dieser Gruppe. Es machen jetzt hauptsächlich noch kleine Kirchen etwas. Aber viel ist nicht geblieben.

In Ägypten gab es immer wieder große Skandale. 2009 oder 2010 haben Hunderte Menschen vor dem UNHCR-Büro in Giza protestiert. Die DemonstrantInnen wurden auseinander gejagt, Menschen erschossen, andere in der Wüste ausgesetzt. Es gibt kein Recht auf Asyl in Ägypten, es ist kein „sicherer Drittstaat“ für die Menschen.

TA:

Es war einmal der „Arabische Frühling“, jetzt sieht es mehr wie ein „Arabischer Winter“ aus. Nicht nur in Ägypten sondern auch in Tunesien. Dort sind vielleicht minimale Verbesserungen erkämpft worden. Gibt es die Hoffnung, dass in den nächsten Jahren die Oppositions-Bewegungen oder widerständige Bewegungen die Volksaufstände wieder aufleben lassen?

Kija:

Sagen wir es so: Ich denke nicht, dass Sisi sich halten kann. Also, vielleicht will ich da auch nur optimistisch sein. Aber ich denke, es gibt so viele Punkte auch, wo man sieht, dass er sich dessen bewusst ist, wie instabil seine Macht ist. Z.B. gab es jetzt diesen Trend, dass in Ägypten so Schlüsselanhänger verkauft wurden. Und du hast dann diesen silbernen Kranz, den du an deinen Schlüssel machst. Daran sind zwei Fäden und an jedem dieser Fäden ist ein Bällchen. Und das wurde als Sisis Eier bekannt und so verkauft. Er hat von mehr als 1 475 Straßenverkäufern diese Dinger konfisziert. Und es war eine Riesen-Kampagne, und alle haben darüber gelacht, außer die Leute, von denen es konfisziert wurde – es war ja ihr Einkommen. Aber es zeigt, wie verletzlich er ist.

Seine Macht ist nicht stabil – er ist sich dessen bewusst. Deshalb benutzt er so viel Repression. Darauf ist seine Macht aufgebaut. Sollte er auch die internationale Unterstützung, die er bekommt – auch von der Bundesregierung – auf der politischen Weltbühne verlieren, dann stürzt er auch. In Ägypten ist seine Macht nicht stabil. Er hatte schon einmal befürchtet, dass es einen Staatsstreich gegen ihn geben wird und hat Generäle festnehmen lassen.

Er hat vor kurzem auch noch einmal die wichtigsten Posten austauschen lassen. Er traut auch seinen engsten Kreisen nicht. Es gibt trotz der großen Repression ständig Demonstrationen in Ägypten.

Es gab Demonstrationen, als die Pensionen gestrichen wurden und der Preis der Metro-Tickets hochgegangen ist – was ein Desaster ist für Menschen, die in der Metropole Kairo wohnen, wo man Stunden damit verbringen kann, von einem Ort zu einem anderen zu kommen. Es ist eine der größten Städte Afrikas – wenn nicht sogar der Welt – mit mehr als 20 Millionen EinwohnerInnen. Das ist eine krasse Maßnahme, da die Metro-Preise zu erhöhen.

Es wurden zehn der wichtigsten Personen, die man irgendwie ausgemacht hat festgenommen, aber die Proteste sind überall, an verschiedenen Punkten aufgepoppt und sind nicht gut zu kontrollieren.

Es gibt weiterhin zahlreiche kleine Proteste und auch Streiks. Ich glaube, es war der Innenminister, der gesagt hat, dass in Ägypten keine Streiks geduldet werden und auch keine Proteste,sondern nur legale Formen des Dissens möglich seien. Er hat Proteste illegalisiert und kriminalisiert.

Heidelberg Zement hat eine Fabrik in Ägypten, da wurde gestreikt – das Militär kam und hat geräumt. Aber es wird trotzdem gestreikt, protestiert und demonstriert. Es gibt nicht mehr diese Massenproteste, wie die von 2011. Aber ich glaube, neue Formen werden sich entwickeln und darauf bin ich auf jeden Fall gespannt. Aber es brodelt – und Sisi weiß das.

TA:

Dann hoffen wir mal, dass dein Optimismus auch eintrifft.

Zum Abschluss: Möchtest du noch etwas ergänzen?

Kija:

Es ist zwischen der EU – vor allem Deutschland und Frankreich – und Ägypten eine militärische Zusammenarbeit geplant. Es gibt sie zwischen polizeilichen Geheimdiensten und militärischeZusammenarbeit. Das alles hat einen sehr kolonialen Ansatz, man sagt: Wir bringen es denen bei, die wissen nicht, wie man ordentlich Untersuchungen macht, die denken nicht strategisch, die sind nicht kompetent, die sind nicht operativ und strategisch nicht kompetent.

Wir müssen vielleicht noch mehr darüber reden, in wie vielen Ländern, das der Fall ist, dass der Sicherheitsapparat aufgeplustert wird, was das für Folgen hat und wie das demokratische Entwicklungen unterbindet und wie das auch „unsere“ Polizei verändern wird.

Ich habe neulich mit einem Bundespolizisten gesprochen – ja das passiert, ich habe mich dumm gestellt – und habe gefragt, wo er denn alles so im Einsatz sei, ob das nur hier lokal wäre. Und dann hat er gemeint „nein, die Bundespolizei ist deutschlandweit im Einsatz, was sag ich WELTWEIT.“

Das ist auch so eine „Re-Kolonalisation“, die da stattfindet. Ich denke, es ist wichtig, sich solidarisch zu zeigen mit den regimekritischen Stimmen in Ägypten und zu sagen, dass das, was die Polizei dort macht und das, was das Militär im Sinai macht, dass das nicht geht und dass da keine Zusammenarbeit passieren darf.

TA:

Da ist Solidarität natürlich total gut. Es ist auch gut, dass ihr die Gruppe gegründet habt. Ich denke, dass wir natürlich hier in Deutschland in erster Linie dagegen ankämpfen und sagen müssen, hey Leute unsere Regierung steckt mittendrin. Wir müssen hier kämpfen.

Kija:

Es wäre bestimmt auch spannend herauszufinden, wenn sie diese Delegationsreisen haben, wo die stattfinden, weil es durchaus Orte von Protest sein können.

TA:

Sisi war doch vor einigen Jahren in Berlin, da gab es kaum Proteste.

Kija:

Stimmt. Es gab eine Journalistin, die selber Ägypterin war, die gerufen hat, er sei ein Mörder. Die wurde dann raus gebracht. Es gab keine Proteste. Sisi wurde mit rotem Teppich, mit militärischen Ehren im Schloss Bellevue empfangen.

Aber ich hoffe, wenn sie wieder zu Besuch kommen, dass das auf jeden Fall nicht so laufen wird.

TA:

Vielen Dank für das Interview.

Ägypten in Zahlen

Ägypten ist mit einer Mio. Quadratkilometern – ca. dreimal so groß wie Deutschland – das größte arabische Land und das bevölkerungsreichste Nordafrikas. In Ägypten leben 94,8 Mio. Menschen, in der BRD 82,4 Mio. Allerdings leben 99 Prozent aller ÄgypterInnen im Niltal und -delta. Ein Fünftel der Bevölkerung lebt im Großraum Kairo. Das Gebiet um Kairo – und Kairo selbst – gehört zu den am dichtesten besiedelten der Welt.

Knapp vier Mio. ÄgypterInnen leben im Ausland, v.a. in den Golfstaaten und Libyen, aber auch in Europa und in Nordamerika.

Im Süden und in den östlichen und westlichen Wüsten leben mehrere Völker:

Die Nubier, mit eigener Kultur und Sprache, sind vorwiegend im Süden. Im nördlichen Teil der östlichen Wüste und auf der Sinaihalbinsel siedeln mehrere beduinische Stämme. Sie bezeichnen sich selbst allerdings nicht als BeduinInnen, sondern als Arab (AraberInnen) im Gegensatz zu den Sesshaften (NichtnomadInnen), Al-hadar. In den Oasen der westlichen Wüste leben Imazighen (BerberInnen), die ihre eigenen Sprachen und Dialekte haben.

90 Prozent aller ÄgypterInnen sind Muslima, fast alle SunnitInnen, neun Prozent gehören der orthodoxen ägyptischen koptischen Kirche und ca. ein Prozent gehören anderen christlichen Konfessionen an.

Frauen und Rechte

Laut Global Gender Gap Report i belegt Ägypten von 144 untersuchten Länder den Platz 134.

Frauen werden psychisch und physisch gefoltert. Seit 2000 Jahren wird die Genitalverstümmelung (Female genital mutilation, FGM) praktiziert, begründet mit der notwendigen Zähmung des sexuellen Verlangens von Frauen, ästhetischen Aspekten und der Religion. Auch häusliche Gewalt und sexuelle Belästigung sind für Frauen in Ägypten an der Tagesordnung.

Die Erwerbslosigkeit bei Frauen ist mit über 27 Prozent mehr als dreimal so hoch wie die von Männern. 90 Prozent der erwerbstätigen Männer finden vor ihrem 30. Geburtstag eine Arbeit. Bei Frauen trifft das nur auf 15 Prozent zu. Nur ca. 23 Prozent aller ägyptischen Frauen über 15 Jahren sind überhaupt erwerbstätig.

(Alle Zahlen: liportal.de/aegypten/gesellschaft/, eingesehen Juli 2018)

Armut und Erwerbslosigkeit

Ägyptens EinwohnerInnenzahl hat sich in den vergangenen 30 Jahren fast verdoppelt. Etwa ein Viertel der Menschen (also jede/r Vierte!) lebt unterhalb der nationalen Armutsgrenze und etwa zwei Mio. Kinder zwischen fünf und 15 Jahren müssen arbeiten, um ihre Familien finanziell zu unterstützen.

Die offizielle Erwerbslosenquote der 15-64 Jährigen liegt bei 11,6 Prozent. Aber Erwerbslosigkeit in Ägypten ist vor allem ein Problem der Jugend. Die offizielle Erwerbslosenquote der 15-24 Jährigen liegt bei 33,1 Prozent.

(wko.at/statistik/laenderprofile/lp-aegypten.pdf, Stand April 2018)

Wirtschaft

Das nominale BIP ii Ägyptens beläuft sich im Jahr 2017 auf geschätzte 193,7Mrd. US-Dollar. Zum Vergleich: Das nominale BIP Algeriens auf geschätzte 175,5Mrd. US-Dollar.

(cia.gov/library/publications/resources/the-world-factbook/fields/2195.html#eg, eingesehen August 2018)

Das nominale BIP je EinwohnerIn liegt im Jahr 2017 bei geschätzten 2501US-Dollar. Zum Vergleich: In Algerien bei geschätzten 4225 US-Dollar.

(wko.at/statistik/laenderprofile/lp-aegypten.pdf, Stand April 2018)

Das Wirtschaftswachstum liegt 2018 bei geschätzt 4,1Prozent, die Inflationsrate 2017bei geschätzt 26,8Prozent.

(cia.gov/library/publications/resources/the-world-factbook/geos/eg.html)

Der Dienstleistungssektor ist der größte Wirtschaftssektor. Er trägt mit rund 49Prozent etwa die Hälfte zum BIP bei. Der industrielle Sektor trägt 37Prozent und der Agrarsektor 11,2Prozent zum BIP bei.

Im Dienstleistungssektor arbeiten etwa 50Prozent der Erwerbstätigen, in der Industrie 17Prozent und im Agrarsektor 35Prozent. In den 1970er Jahren arbeiteten noch 90 Prozent aller Erwerbstätigen in der Landwirtschaft.

Industrie

Wichtige Industriezweige sind die Textilindustrie, die Nahrungsmittelverarbeitungs-, die Zement- und die Automobilindustrie.

Dienstleistung

Die Tourismusindustrie ist einer der wichtigsten Zweige des ägyptischen Dienstleistungssektors. Er steuerte nach Angaben der ägyptischen Zentralbank 2010 rund 11 Prozent zum BIP bei und erzielte rund 20 Prozent der Deviseneinnahmen. Etwa 12,5 Prozent aller Arbeitsplätze hingen direkt oder indirekt vom Tourismus ab. Weitere wichtige Dienstleistungszweige sind Handel, Transport und Bau.

Landwirtschaft

Die landwirtschaftliche Nutzfläche in Ägypten beträgt ca. 4 Prozent der gesamten Staatsfläche.

Rohstoffe

Ägypten verfügt über Erdöl, Erd­gas, Eisenerz, Phosphate, Mangan, Sandstein, Gips, Talg, Asbest, Blei und Zink.

(liportal.de/aegypten/wirtschaft-entwicklung/, Stand Juni 2018)

Todesstrafe

Brutale Rekorde stellt das faschistische al-Sisi- Herrschaftssystem nicht nur in der willkürlichen In­haftierung und grausamen Folter auf (siehe Interview), sondern auch bei der Verhängung der Todesstrafe und Hinrichtungen. Das Land steht auf Platz 3 der weltweiten Liste gefällter Todesurteile – gegen 402 Menschen im Jahr 2017. Ein Anstieg von 70 Prozent gegenüber 2016. Auf Platz 6 der Länderliste für 2017 landet Ägypten bei der Anzahl der vollzogenen Todesstrafen mit mindestens 35 hingerichteten Menschen.

(amnesty.at/media/2654/todesstrafen-statistik-2017_vollstaendiger-bericht.pdf)

China und Ägypten – eine ganz spezielle Beziehung

Beide Länder haben 2014 ihre politischen und Handelsbeziehungen zu einer „umfassenden Partnerschaft” ausgebaut. Das Handelsvolumen zwischen Ägypten und China belief sich von Januar bis Juni 2017 auf 5,18 Mrd. US-Dollar. Die Neue Seidenstraße wird das Handelsvolumen zwischen Ägypten und China noch weiter erhöhen. Bisher hat Ägypten Verträge mit chinesischen Firmen unterzeichnet, um ein Kraftwerk, eine Wasserentsalzungsanlage und eine Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Kairo und Alexandria bauen zu lassen. Zudem soll China den Suez-Kanal ausbauen als Teil der maritimen Seidenstraße. Ägyptens Präsident Sisi und Chinas Kollege Xi Jinping unterzeichneten im März diesen Jahres zwei Abkommen. Eines für den Bau eines elektrischen Zuges im Wert von 739 Mio. US-Dollar. Das andere beinhaltet, dass Ägypten 45 Mio. US-Dollar in den zweiten Fernerkundungs-Erdbeobachtungssatelliten (SAT 2) der russischen RSC Energia investiert.

Darüber hinaus ist Ägypten der größter Waffenabnehmer Chinas in Afrika.

(deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2018/03/18/neue-seidenstrasse-chinas-stabilisiert-muslimische-laender/Stand 13.03.2018)

i Der Global Gender Gap Report ist ein vom World Economic Forum 2017 erstellter Bericht, der die Gleichstellung der Geschlechter analysiert.

ii Das BIP ist die Messgröße für das Wirtschaftswachstum einer Volkswirtschaft, ein Maß für ihre wirtschaftliche Leistung in einem Jahr. Es ist die Summe aller Waren, die in einem Land erzeugt wurden, und zwar unabhängig davon, von wem sie produziert werden. Allgemein kann man BIP als Gesamt Output bezeichnen.