Kein Vergessen! Kein Vergeben!

Februar 2022 – Zwei Jahre nach dem Nazi-Anschlag in Hanau

Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin

Hanau vor zwei Jahren: In der Terrornacht am 19. Februar 2020 wurden neun Menschen mit Migrationsgeschichte von einem Nazi-Mörder im wahrsten Sinne des Wortes hingerichtet. Die migrantische Community und antifaschistischen Menschen in Deutschland waren zutiefst erschüttert. Eine Welle der Empörung in Hanau und in vielen Städten! Schluss mit den rassistischen Morden! Das Zerschlagen der faschistischen Netzwerke, Aufklärung und Konsequenzen werden von den Angehörigen und den überlebenden Opfern des Anschlags, von antifaschistischen, antirassistischen Initiativen sowie revolutionären Bewegungen eingeklagt.

In den zahlreichen Aktionen am ersten Jahrestag des Massaker in Hanau haben Transparente den Sachverhalt der Verharmlosung der faschistischen Morde durch die Herrschenden klar auf den Punkt gebracht: „Deutschland Du Einzeltäter“, „Hanau! Das war Deutsche Leitkultur!“.

Auf dem Marktplatz in Hanau halten Angehörige, Überlebende, Freund:innen der Opfer von Hanau, Ansprachen. Auf dem schwarzen  Transparent hinter dem Redner werden die Tage, die Stunden und die Minuten aufgeführt, die seit dem faschistischen Anschlag  vor zwei Jahren in Hanau vergangen sind.  Es folgt der Text: Ohne Aufklärung & Konsequenzen Wir kämpfen weiter. Und eine grafisch gemalte Menschenkette, die sich an den Händen hält.

Der Aufruf der Initiative „19.Februar Hanau“ zu den Aktionen in diesem Jahr lautet:

Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen. Gegen die Angst. Für das Leben.

Erinnern heißt verändern!“.

Die Mordserie in Hanau ist ein weiteres Glied in der langen Kette der gewalttätigen Geschichte faschistischer Angriffe und Morde. Seit 1945 zieht sich eine Blutspur durch Deutschland. Nach der Befreiung vom Faschismus haben „entnazifizierte“ Alt-Nazis in führenden Positionen den Staat BRD mit aufgebaut. Rassistische Nazi-Netzwerke konnten weiter morden: Terror gegen Roma und Sinti, gegen jüdische Menschen, gegen migrantische Arbeiter:innen aus Italien, später der Türkei, Marokko, Tunesien, das Bombenattentat auf dem Münchner Oktoberfest 1980. Bis hin zu den NSU-Morden an neun Migranten quer durchs Land. Das ist „deutsche Tradition“.

Elf Jahre lang, von 2000 bis 2011 wurden die Angehörigen der Opfer des NSU-Netzwerkes von den staatlichen Behörden als angebliche Täter:innen massiv verdächtigt und gnadenlos verfolgt. Im Münchener NSU-Prozess wurden die Familien der Opfer und Überlebende der Anschläge vom Gericht rassistisch zum Schweigen gebracht und NSU-Täter:innen zu grotesk niedrigen Strafen verurteilt. Von Aufklärung keine Spur. Involvierte V-Leute oder Staatsbeamte wurden noch nicht einmal angeklagt. Die von der Bourgeoisie, dem Staat und der Politik, vorneweg von Merkel, angekündigte lückenlose Aufklärung ist nie erfolgt und wird nicht erfolgen. Das ist nicht „Versagen der Behörden“ oder ähnliches. Sondern der Staat hat überhaupt kein Interesse an der „lückenlosen“ Aufklärung der NSU-Morde, weil er in diese rassistischen Morde mit involviert war.

Keine Illusionen in den Staat –
Auf unsere eigene Kraft vertrauen!

Dieses Muster wiederholt sich in allen Fällen rassistischer Angriffe und Morde. Mölln, Rostock-Lichtenhagen, Dessau. In Hanau stehen nach wie vor viele Fragen ungeklärt im Raum: Über den Täter, seine Netzwerke, seinen Vater als mutmaßlichen Unterstützer. Dubios auch der Ablauf des gesamten Polizeieinsatzes in der Tatnacht, wie die von der Polizei ignorierten Notrufe. Notausgänge an einem Tatort waren versperrt.

Angehörige und die Initiative 19feb-Hanau recherchieren, decken Hintergründe auf, beharren auf umfassender Aufklärung, fordern Konsequenzen und Entschädigung für die Opfer. Trotzdem stellt die Generalbundesanwaltschaft Karlsruhe Mitte Dezember 2021die Ermittlungen zu dem Anschlag in Hanau ein. Mit der Begründung der Mörder war Einzeltäter. Aktuell läuft der Untersuchungsausschuss (UNA) in Wiesbaden. Die Angehörigen und Überlebenden berichten erschüttert über das rassistische geprägte, brutale Verhalten und Vorgehen der Einsatzkräfte während der Mordnacht und in den darauffolgenden Wochen.

Wir alle müssen gemeinsam diesen Kampf um Aufklärung führen. Das sind demokratische Grundrechte, die in diesem Land ständig von Staatswegen ausgehebelt werden. Wir müssen uns aber auch fragen, warum? Weil dieser Staat, weil die „da oben“ in die Machenschaften der Nazi-Netzwerke verstrickt sind und die Faschisierung vorantreiben. Die sogenannten Lügen, Pannen, Versäumnisse sind nichts anderes als ein Gewähren lassen wenn nicht sogar Fördern von faschistischen Netzwerken, um rassistische Hetze gegen Menschengruppen, die als „nicht deutsch“ markiert werden, zu betreiben.

Nach Hanau im Februar folgt im Herbst 2020 der antisemitische und antimuslimische Anschlag in Halle.

Die Losung der deutsch-chauvinistischen „Leitkultur“, die völkisch-nationalistischen Kampagnen gegen Geflüchtete, Migrant:innen, Jüd:innen, Schwarze Menschen, der sich alle bürgerlichen Politiker:innen in der einen oder anderen Weise bedienen – das ist der Nährboden und der Sumpf in dem die Nazi-Netzwerke agieren und stärker werden! Auch innerhalb des bürgerlichen Staatsapparates.

Strukturelle rassistisch-faschistische Gewalt in Polizei und Militär bis hin zu den bekannten Morden in Polizeigewahrsam wie in Dessau, in Celle und in Kleve sind an der Tagesordnung. Nicht zu vergessen die Morddrohungen des NSU 2.0. Wohnadressen von bedrohten Personen werden aus hessischen Polizeicomputern von Polizist-:innen selbst abgegriffen und weitergegeben.

Insofern ist der kapitalistische Staat direkt das Problem. Wollen wir tatsächlich die Grundlagen von Rassismus und Faschismus angreifen, dürfen wir uns keinerlei Illusionen in dieses kapitalistische System und seinen Staat machen. Die rassistischen Angriffe werden nicht gestoppt solange sie existieren und herrschen.

Wir können, sollen und werden uns nicht auf diesen Staat verlassen. Wir müssen auf solidarischen, antifaschistischen Selbstschutz und Selbstverteidigung setzen.

Darum unser Aufruf: Staat und Nazis Hand in Hand – Organisieren wir den Widerstand!

Solidarisches Gedenken und Kämpfen! Gegen staatliche Heuchelei!

In Hanau und in vielen anderen Städten werden Antifaschisten auf die Straße gehen und zeigen dass wir nie vergessen und vergeben werden und unsere Solidarität mit den Angehörigen und Überlebenden demonstrieren. Aber nicht nur Antifaschist:innen und Antirassist:innen gedenken der Opfer der feigen Nazi-Morde.

Auf der Website der Stadt Hanau wird zum zweiten Jahrestag „des rassistischen Anschlags vom 19.Februar 2020 in Hanau“ vom hessischen Ministerpräsidenten Bouffier offiziell verkündet: „Hanau war ein Anschlag auf uns alle. Gemeinsam nehmen wir Anteil an dem traurigen Schicksal der Opfer und ihrer Hinterbliebenen und nur gemeinsam können wir gegen Hass und Hetze zusammenstehen. Wir sind ein weltoffenes Land. Rassismus, Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit jeglicher Art haben in unserer Gesellschaft nichts zu suchen“. Was für eine Heuchelei!

Bouffier, der sich als Antirassist gebärdet, hat die Sperrung der NSU-Akten, die höchstwahrscheinlich den V-Mann Temme beim NSU-Mord an Halit Yozgat in Kassel belasten, erst für 120 Jahre, später für 30 Jahre unter Verschluss gestellt. Gemeinsam mit seinem Regierungspartner „Die Grünen“. Die Ankündigung, der Stadt Hanau ist eine einzige Litanei aus selbstbeweihräucherndem Eigenlob, ob des angeblich umfassenden antirassistischen Engagements und der Großzügigkeit der hessischen Regierung, der Politiker und der Stadt Hanau für die Opfer des Anschlags, ihrer angeblich engsten Verbundenheit mit den Angehörigen. Dieser grenzenlosen, unverschämten Heuchelei treten wir mit unseren Forderungen massiv entgegen.

Die Angehörigen, die Initiative19feb-Hanau, die antifaschistische und antirassistische Bewegung, wir alle werden an diesem Jahrestag an das Leben der Opfer in Hanau erinnern.

Wir tragen sie in unseren Herzen und Kämpfen mit uns. Wir bekunden laut unsere Solidarität mit allen Opfern von Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus und Islamfeindlichkeit. Wir machen die Heuchelei von Politik und Staat sichtbar und klagen an. Wir zeigen auf, dass Rassismus und Faschismus ein Problem des Systems sind! Tragen wir am 19. Februar unser Gedenken und Erinnern, unsere Empörung und Wut, unsere Solidarität und Forderungen, unseren Kampf für eine andere befreite, sozialistische Gesellschaft aufdie Straßen!