„Wichtigste Wahl des Jahres in der Welt?“

Gegen Desinformation & Propaganda des Westens Fakten und Einschätzungen…

Am Sonntag, dem 14.Mai finden in der Türkei sowohl Präsidentenwahlen als auch Parlamentswahlen statt. Nach der geltenden Verfassung sollten diese Wahlen am 18.Juni stattfinden. Sie wurden aber von Präsident Erdoğan fünf Wochen vorgezogen.Dieses Vorgehen wurde von der Opposition scharf kritisiert, ja sogar als Verfassungsbruch bewertet.

Das ist dieselbe Opposition, die jahrelang „sofortige Neuwahlen“ gefordert hatte. Und es ist dieselbe Opposition, die die Erzählung generiert und ständig wiederholt hatte, Erdoğan würde seine Macht nie durch Wahlen abgeben und deswegen die Wahlen auf jeden Fall verschieben werden. Zuletzt wurde diese Erzählung nach den fürchterlichen Erdbeben am 6. und 7. Februar wieder in Stellung gebracht. Erdoğan hatte in elf, direkt betroffenen Städten, den Notstand erklärt. Erdoğan würde jetzt bestimmt das Erdbeben dazu verwenden, die Wahlen zu verschieben oder sogar sie zu annullieren.

Erdoğan hatte aber am 10. März per Dekret die anstehenden Wahlen auf den 14. Mai vorgezogen. Und das trotz dem großen Erdbeben, welches Millionen von Wähler:innen direkt betraf und zu Nomad:­innen machte. Technisch spielt dies keine große Rolle, weil die Digitalisierung der Verwaltung in der Türkei viel weiter fortgeschritten und zentralisiert ist, als z.B. in Deutschland.

Das große Problem ist allerdings, dass ungefähr 1,3 Millionen der Erbebenopfer vorübergehend in anderen Gebieten leben müssen. Dort konnten sie sich vor Ort für die Wahlen anmelden. Bisher haben sich aber über eine Million Menschen noch nicht bei den Wahlämtern gemeldet. Die Frist dafür ist allerdings jetzt abgelaufen.

So müssten die vom Erdbeben vertriebenen Menschen am Wahltag in ihre Heimatstädte fahren, um ihre Stimme abgeben zu können. Das ist völlig illusorisch. Außer Parteien, die zur Wahl stehen, organisieren Fahrmöglichkeiten für die davon betroffenen Menschen.

Jede/r türkische Staatsbürger:in, damit jede/r Wähler:in ist zentral erfasst, auch der aktuelle Wohnort. Das ist natürlich nicht dafür gedacht und gemacht, die Dienstleistungen des Staates für die Bürger:innen zu optimieren, so die offizielle Begründung, sondern um sie allumfassend und vollständig kontrollieren zu können. Für die aktuell anstehenden Wahlen heißt das eine wahlentscheidende Manipulation mit den Namen der registrierten Toten des Erdbebens ist fast unmöglich. Die anstehenden Wahlen werden von verschiedenen politischen Kräften in der Türkei, sowohl von der Regierungs- als auch der Oppositionsseite, als „die wichtigsten Wahlen in der Geschichte der türkischen Republik“ eingeschätzt. In dieser Opposition sind leider auch eingeschlossen die Mehrheit der vom Staat „als Terroristen“ bekämpften Linken.

Laut dem amtierenden Präsidenten Erdoğan, seiner AKP, seinem ultranationalistisch, faschistischen Bündnispartner MHP mit ihrem „Führer“Devlet Bahçeli wird diese Wahl über „die Existenz der Türkischen Republik” und „über die territoriale Integrität des Staates” entscheiden.

Für die Opposition wiederum ist diese Wahl „der letzte Ausgang vor dem Untergang der Türkei”. Sie ist „die letzte Möglichkeit, um das autokratische Ein-Mann- Regime zu stürzen, und die Türkei wieder auf den Weg der Demokratie zu lenken”. Es ist die „letzte Chance“, um die „dem zivilisierten Westen zugewandte, laizistische Türkei Atatürks vor der Gefahr zu einem beliebigen islamischen Nahost-Staat zu werden“, retten zu können.

Selahattin Demirtaş, ehemaliger Co-Vorsitzenden der HDP, der seit über fünf Jahren mit der haarsträubenden Begründung, er hätte die Bevölkerung gegeneinander aufgehetzt und zum Aufstand aufgerufen, im Knast sitzt, hat getweetet: „Diese Wahl entscheidet darüber, ob die Türkei sich zu Afghanistan oder zur Schweiz entwickeln wird!“.

Auch für alle politischen Akteure im Ausland sind die Wahlen in der Türkei sehr wichtig. In der Presse werden die Entwicklungen genau beobachtet und kommentiert.

In einem Artikel der FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) der die wichtigsten Wahlen in 2023 auflistet, wird die Wahl in der Türkei wie folgt bewertet: „Eine der bedeutendsten internationalen Wahlen im Jahr 2023 wird in der Türkei abgehalten.“ i

Der Stern mischt sich in der Ausgabe 5/2023 in die Debatte ein. Auf dem Cover ein Foto von Erdoğan mit einer Fackel in der Hand. Die Titelstory lautet: „Erdoğan der Brandstifter. Um sich die Macht zu sichern schürt der türkische Präsident gefährliche Konflikte – Auch in Deutschland“. In einem in der New York Times am 9.Januar veröffentlichten Artikel des Bloomberg Analysten/Kommentator Bobby Ghosh heißt es: „Unter den vielen Parlamentswahlen von internationaler Tragweite, die in diesem Jahr zu beobachten sind, werden die für Februar geplanten Wahlen in Nigeria bei weitem die größten sein. Pakistan ist fälligbis Oktober und wird wahrscheinlich am lautesten sein.

Aber die wichtigste wird zweifellos am 18.Juni stattfinden, wenn Präsident Recep Tayyip Erdoğan versucht, seine Herrschaft über die Türkei in ein drittes Jahrzehnt auszudehnen.“ii

In allen Mainstream-Medien des Westens, aber auch in der linken Presse wie z.B. junge Welt, finden wir in allen Artikeln und Kommentaren der Türkei-Berichterstattung eine wilde Mischung von fake news, Halbwahrheiten sowie unisono Erdoğan-Bashing.

Einstimmig wird die Hoffnung befeuert, dass die Opposition endlich die Wahlen gewinnt und Erdoğans Herrschaft ein Ende setzt. Vorschläge, Taktiken werden der Opposition empfohlen, wie sie Erdoğan am besten besiegen könnten etc.

Ghosh führt in seinem Artikel weiter aus: „Die westlichen Staats- und Regierungschefs werden froh sein, Erdoğan nur noch von hinten zu sehen. Er hat die Sicherheit der NATO untergraben, indem er Raketenabwehrsysteme von Russland erworben hat, er hat das Bündnis frustriert, indem er die Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands blockiert hat, und er hat wiederholt Europa gedroht es mit Flüchtlingen zu fluten und schleuderte in den letzten Monaten zunehmend kriegerische Rhetorik in Richtung Griechenland.

Ankaras Beziehungen zu Washington sind so angespannt, dass hochrangige türkische Beamte die USA routinemäßig beschuldigen, einen Putsch gegen Erdoğan zu unterstützen und eine Komplizenschaft mit terroristischen Gruppen einzugehen. Die USA und Europa wären ohne Erdoğans störenden Einfluss in der Weltpolitik besser dran, zumal sich ihre Konfrontation mit Wladimir Putin verschärft. Sein Nutzen als Gesprächspartner ist begrenzt: Obwohl er im vergangenen Sommer geholfen hat, ein Abkommen auszuhandeln, das den weiteren Transport von Getreide und Pflanzenöl aus der Ukraine sicherstellt, hat Erdoğan keinen ausschlaggebenden Einfluss auf seinen ‚lieben Freund‘ Wladimir.

Es gibt auch keine Zurückhaltung von Erdoğan. Obwohl viele in den außenpolitischen Kreisen Washingtons und der europäischen Hauptstädte an der Hoffnung festhalten, dass er mit einem Köder zurückgelockt werden kann, ist Erdoğans Weltsicht ‘weit mehr radikaler, als die meisten Westler denken’, sagt der Politologe Selim Koru. Seine Ambitionen für die unmittelbare Nachbarschaft der Türkei, in der Ankara zunehmend an Einfluss gewinnt, bestehen nicht darin, den amerikanischen und europäischen Einfluss zu ergänzen, sondern ‘sie zu ersetzen und ihnen entgegenzuwirken’“.

Sollte Erdoğan besiegt werden, meint Sinan Ulgen, Direktor des Istanbuler Think Tanks EDAM, ‚wird sein Nachfolger die Türkei zu einem anderen außenpolitischen Akteur machen, der sich wohler fühlt in seiner Position als westliche Nation.‘

Gosh spricht mehr oder weniger das aus, was in den westlichen „Hauptstädten“ gedacht und propagiert wird. Schon bevor Biden zum Präsidenten gewählt wurde, hat er in einem Interview im Wahlkampf 2019 die Linie des „Westens“, der in der Erdoğan-Türkei zurecht einen widerwilligen, nicht mehr unter seiner Kontrolle stehenden, unsicheren NATO-Partner sieht, festgeschrieben:

Es sei notwendig, die Gegner des türkischen Führers zu stärken, … damit sie Erdoğan herausfordern und ihn besiegen können. Nicht durch einen Staatsstreich, sondern durch Wahlen.“ Biden bezeichnete Erdoğan außerdem als „Autokraten“.iii

Aktuelle Regierungsform der Türkei: Präsidialsystem à la Turca!

Mit dem Referendum zur Verfassungsänderung am 16.April 2017 wurde in der Türkei das bis dahin geltende Regierungssystem verändert. In der Parlamen­tarischen Demokratie wird der Staatspräsident vom Parlament gewählt und hat eher repräsentative Funktionen.

Dieses System wurde durch eine Präsidialdemokratie, in der der Präsident vom Volk direkt gewählt wird und als der Kopf der Exekutive seine Regierung bildet und führt.

Allerdings sind die in dieser Verfassung für den Präsidenten vorgesehenen Zuständigkeiten und Rechte viel umfassender als in jeder Präsidialdemokratie in der „westlichen Welt“. In der „Präsidialdemokratie türkischer Art“ hat der Präsident das Recht mit Präsidentenerlassen und Verordnungen alleine durchzuregieren. Vor allem wenn seine Partei auch im Parlament über eine Mehrheit verfügt.

Dem Wesen nach sind diese beiden Regierungssysteme, Parlamentarische Demokratie und Präsidialdemokratie (auch wenn sie je nach verschiedenen Ländern unterschiedliche Ausformungen haben) das Selbe: Regierungssysteme der Diktatur der Bourgeoisie.

„Die Demokratie“ ist lediglich ein Anhängsel-Begriff und hat nur die Funktion den wahren Charakter der Herrschaft der Bourgeoisie zu verdecken und zu suggerieren diese sei die Herrschaft des Volkes!

In der Türkei sind wiederum sowohl die Regierungsform der Parlamentarischen Demokratie als auch die der Präsidialdemokratie à la Turca, reine Demokratie-Masken, die die faschistische Fratze der Diktatur der Bourgeoisie verdecken sollen.

Bei der ersten Präsidentenwahl im neuen Regierungssystem am 24.Juni 2018 wurde Recep Tayyip Erdoğan schon in dem ersten Wahlgang mit 52,6 Prozent der gültigen Stimmen (bei 85 Prozent Wahlbeteiligung) für fünf Jahre zum Präsidenten der Republik gewählt.

Die AKP, die islamisch orientierte Regierungspartei von Erdoğan wurde bei den gleichzeitig abgehaltenen Parlamentswahlen, wie seit 2001 November in allen Parlaments- und Regionalwahlen, zur stärksten Partei (42,6 Prozent), mit großem Abstand zur stärksten Oppositionspartei, der CHP (22,6Prozent).

Zu den Wahlen 2018 trat die Regierungspartei AKP im Bündnis mit der extrem nationalistischen, offen faschistischen MHP unter dem Namen „Cumhur Ittifakı“, (Bündnis des Volkes) auf. Der Grund für diese „unheilige Allianz ist die Tatsache, dass für die Präsidentenwahl mindestens 50Prozent +1 der Stimmen notwendig sind.

Die Zeiten, als die AKP alleine über 50 Prozent gekommen ist, waren spätestens seit den WahlenJuni 2015 vorbei. Sie brauchte und braucht unbedingt Bündnispartner, um den Präsidenten zu stellen, d.h. um regieren zu können. Diese hat sie in der MHP gefunden.

Voraussetzung dieser Allianz war die Abkehr von der hoffnungsvollen „Öffnungspolitik“ der AKP in der kurdischen Frage. Die AKP-Regierung hattebis März 2015 intensive Gespräche mit Vertreter:innen der PKK geführt. Unter anderem mit dem Gründer und Führer der PKK, Abdullah Öcalan, der seit 1999 zu lebenslanger Haft verurteilt im Knast sitzt.

Ziel war die Beendigung des Kriegs in Nordkurdistan zwischen dem türkischen Staat und der PKK auszuhandeln und umzusetzen. Diese Politik wurde von der gesamten bürgerlichen Opposition, vor allem von den kemalistisch-faschistischen Kräften in Staat und Gesellschaft als „Vaterlandsverrat“ gebrandmarkt und mit allen Mitteln sabotiert und bekämpft. Die MHP und die CHP waren diejenigen, die sich dabei am meisten darüber ereiferten.

Diese Politik, die die westlichen imperialistischen Kräfte bei der Lösung der kurdischen Frage in Nordkurdistan/Türkei nicht in die Verhandlungen mit einbezog, war auch ein Dorn in deren Augen. Sie haben Druck auf Kräfte in der PKK ausgeübt und sie zur Weiterführung des Kriegs gegen die Türkei animiert.

Die im heldenhaften Kampf der PKK/PYD Kämpfer:­innen gegen den IS (Islamischen Staat) in Rojava entstandene Allianz mit den USA; die Anerkennung und Unterstützung durch die USA hat die PKK Führung dazu geführt die Politik der Friedensverhandlungen mit der türkischen Staatsmacht aufzugeben.

Durch den massiven Druck der faschistischen Kräfte in Staat und Gesellschaft sowie durch die Intrigen der Imperialisten erklärte die AKP-Regierung die Verhandlungen mit der PKK für obsolet.

Der Krieg, der seit 1984, mit kurzen Unterbrechungen läuft, wurde wieder und dieses Mal viel intensiver, aufgenommen. Der Krieg des türkischen Staates gegen die PKK und das sie unterstützende kurdische Volk, bedeutet nicht nur Krieg in Nordkurdistan, Rojava, Südkurdistan gegen die PKK.

Sondern dieser Krieg bedeutet gleichzeitig die Intensivierung des Faschismus gegen alle Völker in der ganzen Türkei.

Alle demokratischen Kämpfe, alle Kämpfe der anders Denkenden und Lebenden werden mit faschistischem Terror unterdrückt. Seit dem Wiederaufflammen des Kriegs gegen die PKK im Jahr 2015 erlebte die Türkei unter der AKP/Erdoğan Regierung eine der schlimmsten Perioden der faschistischen Herrschaft. Seit der Allianz mit der MHP und besonders nach dem gescheiterten Putschversuch der Gülen-Sekte am 16.Juni 2016, die von den USA unterstützt wird, nahm und nimmt der Faschismus zu.

Nach diesem Putschversuch riefen die AKP und Erdoğan alle Parteien zu einer „Nationalen Einheit“ gegen die imperialistischen Interventionen und vor allem gegen Putsche auf. Zwei Tage nach dem Putsch am 18. Juni wurde eine große Massenkundgebung mit über einer Million Teilnehmer:innen, auch unter Beteiligung der CHP veranstaltet. Für eine sehr kurze Zeit entstand eine Atmosphäre, als könnten die gegenseitigen Feindschaften der Parteien überwunden werden.

Der Vorsitzende der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu hat allerdings kurz nach dieser gemeinsamen Kundgebung begonnen, den Putschversuch, genau so wie der Chef der Gülen-Sekte als „Theater” abzutun.

Das sei ein Theaterstück, das von Erdoğan inszeniert worden sei, um seine Macht zu erhalten. Vier Tage nach dem Putsch, am 20.Juni hat die AKP im Parlament den Antrag eingebracht für drei Monate den Ausnahmezustand zu verhängen, und den Präsidenten in dieser Zeit zu bevollmächtigen mit Dekreten zu regieren. Das Parlament bewilligte diesen.

Diese Frist von drei Monaten wurde dann immer wieder verlängert und der Ausnahmezustand hielt über ein Jahr an. CHP-Vorsitzender Kılıçdaroğlu bezeichnet noch heute „den Putsch vom 20.Juni“ als den „eigentlichen Putsch“. 2017 wurde dann die oben schon angeführte Verfassungsänderung zum Referendum gebracht. Verfassungsrechtlich ist seitdem die Türkei eine Präsidialdemokratie.

Und Erdoğan ist der erste Präsident der präsidial-demokratischen (in der Wahrheit präsidial-faschistischen) Türkei.

Die MHP ist nicht in der Regierung direkt vertreten, sondern bildet nur im Parlament faktisch einen Block mit der AKP. Aber ihre Politik wird heute durch Erdoğan und die AKP an der Macht durchgeführt.

Wahlen 14.Mai 2023: Wahlprozedur & Wahlsystem & Sicherheit der Wahl

Für die Vorbereitung und Durchführung ist die „Hohe Wahlkommission“ zuständig. Diese besteht aus sieben Mitgliedern und vier Ersatzleuten. Alle elf Personen sind Richter:innen. Sechs von ihnen werden vom Kassationsgerichtshof (Yargıtay) und fünf vom „Staatsrat“, Oberstes Verwaltungsgericht (Danıştay) für sechs Jahre gewählt. Außerdem nehmen an den Sitzungen je ein/e Vertreter:in von den im Parlament vertretenen Parteien teil. Die Beschlüsse der „Hohen Wahlkommission“ (HWK) sind unwiderruflich.

In jedem Wahlgebiet werden Wahlkommissionen eingerichtet, die bei etwaigen Widersprüchen bzw. Unregelmäßigkeiten tätig werden. Falls ihre Urteile nicht von allen Seiten anerkannt werden, geht der Fall zur HWK.

Alle Kandidat:innen, die sich zur Wahl stellen werden von der Hohen Wahlkommission geprüft, ob sie die Bedingungen für die Zulassung zu Wahlen erfüllen. Sie müssen ihre Bewerbungen und Unterlagen bis zu einem von der HWK festgelegten Zeitpunkt abgeben. Die HWK spricht die Zulassungen aus und veröffentlicht die Listen der zugelassenen Parteien und Kandidat:innen.

Für die Wahlen am 14. Mai ist die Zahl der Wähler:innen (Türkische Staatsbürger:innen ab 18. Lebensjahr) von der HWK festgestellt und veröffentlicht. Demnach gibt es 60 Millionen 904 Tausend 341 Wähler:innen in der Türkei, die Ihre Stimme bei 190 736 Wahlurnen zwischen 8.00 und 17.00 Uhr am Wahltag abgeben können.

Dazu kommen 3Millionen 286Tausend 786Wähler:­innen im Ausland, die ihre Stimme entweder in dem ihrem Wohnort am nächsten liegenden Konsulat oder aber an den Urnen, die an Grenzübergängen stehen ab 27. April abgeben können.

Es gibt in jedem Wahllokal eine „Urnen-Kommission“, die aus einem Vorsitzenden, plus sechs Mitgliedern und sechs Ersatzmitgliedern besteht. Sie sind Ver­treter:innen der fünf stimmstärksten Parteien der letzten Wahl. Außerdem können diese fünf Parteien je eine/n Wahlbeobachter:in stellen. De facto wird nur der Vorsitzende von der örtlichen Wahlkommission durch Losverfahren bestellt. Die Stimmabgabe ist geheim. Die Auszählung der Stimmen ist offen. Die Öffentlichkeit ist durch Mitglieder des Urnenvorstands, plus Wahlbeobachter:innen gewährleistet. Das Ergebnis der offenen Auszählung wird in einem Ergebnisprotokoll, das die eigenhändigen, analogen Unterschriften der sieben Mitglieder der Urnenkommission trägt festgestellt. Das Ergebnis wird sofort digital an die zuständige Wahlkommission weitergeleitet. Die Stimmen und das Originalprotokoll werden in einem verplombten Sack an die zuständige Wahlkommission weitergeleitet.

Da die Vertreter:innen der Parteien und die Wahlbe­obachter:innen die Ergebnisprotokolle an Ort und Stelle fotografieren und an die Zentrale ihrer Parteien bzw. ihrer Organisationen weiterleiten, ist jederzeit ein Vergleich der Ergebnisse der Zählung, die vom staatlichen Fernsehen, aber auch durch Privatfernsehen laufend übertragen werden, möglich.

Zivilgesellschaftliche Organisationen wie z.B. „Oy ve Ötesi“ (Stimme und Weiteres), die sich von den Parteien als Wahlbeobachter:innen aufstellen lassen, verfügen über ein ziemlich breites Netzwerk. Auch ausländische Beobachter:innen sind zugelassen.

Das heißt, eine wahlentscheidende Manipulation der Wahlergebnisse ist kaummöglich. Das wäre bei der Präsidentenwahl nur bei einem sehr, sehr knappen Ergebnis möglich.

Zum Beispiel wenn ein/e Kandidat:in mit nur 10Tausend Stimmen Unterschied gewinnen sollte. Dann würde eine Neuauszählung durchgeführt. Sollte es dann noch immer Probleme geben, wird eine Wahlwiederholung stattfinden. Das passierte 2019 bei den Regionalwahlen in Istanbul. Trotzdem redet die Opposition ständig davon, dass die Sicherheit der Wahl in Gefahr ist.

Eine gängige These der Opposition ist: Erdoğan hat schon verloren. Er hat keine Chance diese Wahl zu gewinnen. Das wäre nur möglich, wenn er die Wahl durch Wahlmanipulation im großen Stil „stiehlt“. Diese weitverbreitete Propaganda ist eine Vorbereitung für den 15. Mai, im Falle des eventuellen Wahlsieges Erdoğans, um das Wahlergebnis nicht anzuerkennen und einen eventuellen Machterhalt von ihm für illegitim zu erklären. Zudem wird die Propaganda hinzukommen: Seine Kandidatur war bereits illegal.

Einmal, da Erdoğan kein Hochschuldiplom habe. Zudem war er zweimal Präsident. Seine Zulassung als Kandidat zum dritten Mal sei Verfassungsbruch. Seine Präsidentschaft ist illegitim!

Zwei Wahlen an einem Tag

Nach der geltenden Verfassung von 2017 werden Präsidenten- und Parlamentswahlen einmal in fünf Jahren am selben Tag durchgeführt. Am 14.Mai 2023 werden der Präsident und das Parlament gewählt. Als Kandidat:innen können sich alle aufstellen lassen, die die Voraussetzungen erfüllen:

Mindestalter 40 Jahre, Absolvent:in einer Hochschule oder Universität, keine Vorstrafen wegen „sittlicher Delikte“ oder Strafen, die über ein Jahr hinausgehen. Als Kandidat:in kann eine Person nur von den Parteien, die im Parlament vertreten sind, vorgeschlagen werden.

Eine Kandidatur ist aber auch möglich mit Unterschriften von mindestens 100000 Wähler:­innen. Für die Wahl des Präsidenten ist die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, d.h. 50Prozent + 1 Stimme notwendig. Wenn in der ersten Runde keine/r der Kandidat:innen die absolute Mehrheit erreicht, wird zwei Wochen nach der ersten Runde eine Stichwahl durchgeführt. Zwischen den zwei Kandidat:innen, die in der ersten Runde die meisten Stimmen errungen haben. Da die Türkei jetzt eine Präsidialdemokratie ist, noch dazu à la Turca, in der der Präsident der Kopf der gesamten Exekutive ist und eine fast grenzlose Machtfülle hat, ist diese Präsidentenwahl die entscheidende.

Parlamentswahlen

Das türkische Parlament besteht aus 600 Parlamen­tarier:innen. Jede der 81 Städte der Türkei sendet unabhängig von der Bevölkerungszahl, mindestens zwei gewählte Vertreter:innen ins Parlament. Ansonsten schicken die Städte, die in Wahlbezirke gegliedert werden, eine ihrer Wähler:innenzahl entsprechende Anzahl von Parlamentarier:innen ins Parlament.

Die Durchschnittszahl der Stimmen, die ein/e Kandidat:in braucht um ins Parlament zu kommen, hängt von der Wahlbeteiligung und Zahl der ungültigen Stimmen ab.

Sie wird aber am Anfang als „Wähler:innenzahl durch 600“ angenommen. Das entspricht am 14. Mai etwa 107 000 tausend Stimmen. Bei einer Wahlbeteiligung von 85 Prozent würde das etwa 91 000 Stimmen bedeuten. D.h. ein/e einzelne unabhängige Kandidat:in braucht etwa 91 000 der Stimmen in einem Wahlbezirk um gewählt zu werden.

Wahlsystem für das Parlament

Zu den Parlamentswahlen können Parteien oder Parteien-Bündnisse mit Kandidat:innen-Listen und unabhängige Einzel-Kandidat:innen antreten. Jede/r türki­sche/r Staatsbürger:in ab 18 Jahren, der/die ein Grundschuldiplom (fünf Jahre) hat, kann, wenn ihr/sein Strafregister ok ist Kandidat:in werden.

Alle Kandidat:innen müssen dem Staat eine für türkische Verhältnisse sehr hohe Gebühr von 26213 Euro zahlen. Diese erhalten sie nicht zurück, egal ob sie gewählt wurden oder nicht.

Mit einer Wahlgesetz-Änderung im April 2021 hat die AKP die Sperrklausel für Parteien und Bündnisse von 10 auf 7Prozent herabgesetzt.

Das heißt, für Parteien, die als Teil eines Bündnisses an den Parlamentswahlen teilnehmen, gilt die sieben Prozent-Sperrklausel nicht, sofern das Bündnis über 7 Prozent der Stimmen erhält. Das animiert die kleineren Parteien sich Bündnissen anzuschließen, die die größeren Parteien anführen.

Sie können dann trotzdem als Parteien ihre Kandidat:­innenlisten aufstellen. Das in der Türkei geltende d’Hont Wahlsystem iv verschafft der Partei mit den meisten Stimmen eines Wahlkreises sehr große Vorteile. Bisher hat das der AKP sehr genutzt, da sie in 64 von 81 Städten die erste Partei war.

Parteienlandschaft in Nordkurdistan/Türkei

Bei den Parlamentswahlen sind insgesamt 37 Parteien zugelassen. Von diesen 37 sind nur drei Parteien imstande die sieben Prozenthürde sicher zu überspringen, wenn sie alleine als Partei antreten würden:

AKP: Die Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ist die islamistisch-nationalistische, sich selbst „konservativ-demokratisch“ bezeichnende langjährige Regierungspartei Erdoğans. Sie führt heute eine nationalistische, faschistische, teils imperialistische Politik durch.

CHP: Die Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volks­partei) ist die älteste Partei und wurde von dem Republikgründer Mustafa Kemal als Staatspartei gegründet.

Sie kommt aus der streng nationalistisch, laizistisch-kemalistischen Tradition, definiert sich als „sozialdemokratische Partei“. Sie war immer eine Partei der kemalistischen Staatselite.

Sie vollzieht unter der Regie von Kılıçdaroğlu einen Verwandlungsprozess. Die auf das Volk von oben herabschauende, verächtliche Politik hatte diese ehemalige Staatspartei dem Volk entfremdet.

Sie konnte mit ihrer kemalistischen Politik keine einzige Wahl seit 1950 gewinnen. Ihr Stimmanteil bei den Wahlen stagnierte um die 25 Prozent herum.

Kılıçdaroğlu hat die streng nationalistisch-laizistische Linie verlassen. Er versucht die CHP auf eine populistische Linie à la Erdoğans-AKP zu bringen. Mit dem Unterschied, dass die „Westanbindung der Türkei“ unbedingt aufrechterhalten werden soll.

Dieser Umwandlungsprozess ist ziemlich vorangeschritten, allerdings noch nicht abgeschlossen und nicht umkehrbar.

Diese Wahlen sind für die politische Zukunft Kılıçdaroğlus und seiner Linie entscheidend. Gewinnt er diese Wahl nicht, verliert er auch seine politische Zukunft. Es droht im Falle einer eventuellen Wahlniederlage eine neuerliche Spaltung.

HDP: Die Halkların Demokratik Partisi (Demokratische Partei der Völker) wird in der Auslandspresse als „pro kurdische Partei“ definiert. Sie selbst definiert sich als die Partei, die für eine Demokratisierung der Republik Türkei kämpft. Ihr Markenzeichen ist, dass sie für die übergroße Mehrheit der kurdischen Wähler:innen als die erste Adresse bei den Wahlen gilt, weil sie die nationalen Rechte der kurdischen Nation vehement vertritt.

Diese Verteidigung bedeutet aber nicht die Verteidigung des Rechts der kurdischen Nation auf Lostrennung, das Recht auf einen eigenen Staat. Die HDP bleibt bei der Verteidigung der kulturellen Autonomie und Erweiterung der Autonomie der Regionalen Verwaltungen innerhalb des türkischen Staates. Trotzdem wird diese Partei, von den bürgerlichen Parteien als verlängerter Arm der PKK im Parlament, als Unterstützerin des Terrorismus als „sezessionistische Partei“ diffamiert.

Die CHP Kılıçdaroğlus verzichtet seit einiger Zeit auf eine offene Verunglimpfung der HDP, weil die Anti-Erdoğan-Front ohne die Stimmen der HDP überhaupt keine Chance hätte, zu gewinnen. Für die HDP wiederum ist „der Sturz des AKP/MHP Faschismus“, „der Sturz des Palast-Regimes,“v „das vorrangige Ziel bei diesen wichtigsten Wahlen in der neueren Geschichte des Landes.“ vi

Die HDP tritt zu diesen Wahlen nicht als HDP auf, sondern stellt ihre Kandidat:innen in den Listen der „Yeşil Sol Parti”, YSP (Grün Linke Partei) auf. Der Grund dafür ist, dass gegen die HDP ein Partei-Verbotsverfahren beim Verfassungsgericht läuft und die, wenn auch geringe, Möglichkeit besteht, dass die HDP kurz vor den Wahlen verboten wird.

Wahrscheinlich, aber nicht sicher, könnten weitere drei Parteien auch die sieben Prozent Hürde alleine schaffen:

MHP: Die Milliyetci Hareket Partisi (Partei der Nationalistischen Bewegung). Diese ultra-nationalistisch-faschistische Partei befindet sich in einem Bündnis mit der AKP. Sie ist nicht direkt Teil der Regierung. Aber ihre Politik ist heute durch die AKP Regierung an der Macht.

İYİ Parti: (Gute Partei) Sie wurde 2015 von Frau Meral Akşener neu gegründet. Akşener hat eine wüste politische Karriere hinter sich.

Sie war Innenministerin in den 1990er Jahren und dafür mitverantwortlich, dass über 17 000 Menschen in Nordkurdistan „verschwanden“.

Die Opfer wurden von durch den Staat organisierte zivile, bewaffnete Personen entführt, getötet, und verscharrt. Akşener hat mehrere Parteien gewechselt. Ihre letzte politische Station vor der Gründung der İYİ Parti war die faschistische MHP.

Sie versuchte in der MHP die Führung des langjährigen Führers Devlet Bahçeli zu übernehmen. Als das nicht klappte, gründete sie ihre eigene Partei. Sie hat den Anspruch das „Mitte Rechts“-Spektrum in der İYİ Parti zu vereinen. In den Verhandlungen des vor den Wahlen im Jahre 2018 zwischen CHP und İYİ Parti gegründeten Wahlbündnisses, der Millet İttifakı, „Bündnis der Nation“ wurde 2022 der sogenannte „Altılı Masa“, „Sechser Tisch“ gebildet. vii

Vor allem durch die İnitiative von Kılıçdaroğlu wurde das Bündnis auf sechs Parteien erweitert. Mit drei aus der islamistischen Ecke kommenden kleinen Parteien und einer Partei der „Mitte“, deren Stimmenanteil im zehntausendstel Bereich liegt.

Bei den Verhandlungen am „Sechser Tisch“ hat Meral Akşener als Vorsitzende der zweitstärksten Partei des Bündnisses versucht, die von ihr favorisierten CHP Bürgermeister von Istanbul, İmamoğlu und von Ankara, Yavaş als Präsidentschaftskandidaten durchzusetzen. Gegen den ihrer Meinung nach ungeeigneteren Kandidaten Kılıçdaroğlu. Als klar wurde, dass das nicht klappte, verließ Akşener den „Sechser Tisch „mit großem Tamtam. Sie hat gegen den „Sechser Tisch“ als „Zocker-Tisch“ an dem „unehrliche Lügner Postenschacher betreiben“ gewütet. Der İYİ Parti würde diktiert, sich „zwischen Tod und Malaria“ zu entscheiden. Die İYİ Parti sei dagegen, dass mit der HDP im Namen des „Sechser Tisches“ verhandelt werde. Sie würde mit ihrer Partei ihren eigenen Weg allein weitergehen, und die Wahlen als erste Partei siegreich beenden. Sie würde „Nicht Geschichte werden, sondern Geschichte schreiben“.

Antiasylkampagne der İYİ Parti

Diesem furiosen Aufständchen folgten dann massenhafte Austritte von ihren Parteimitgliedern. Eine Lynchstimmung gegen Akşener wurde in den „sozialen Medien“ angefacht. Sie wurde sexistisch, „als Hure, als Verräterin, die Erdoğan die Wahl schenken würde“ etc. beschimpft. Drei Tage nach diesem Aufständchen musste sie kleinlaut durch den öffentlichen Druck an den Tisch zurückkehren.

Im Gegenzug erhielt sie das Versprechen von Kılıçdaroğlu, die von der İYİ Parti favorisierten CHP-Bürgermeister, nebst den Vorsitzenden der fünf Tischparteien zu Vizepräsident:innen zu ernennen. Falls Kılıçdaroğlu die Präsidentenwahl gewinnt.

Memleket Partisi: Die MP (Partei der Heimat) wurde von dem langjährigen CHP-Mitglied, Parlamentarier, Bürgermeister Muharrem İnce nach den verlorenen Wahlen 2018 gegründet. Ihre Selbstdarstellung lautet, „Partei die den Gründungsprinzipen der CHP treu bleibt“. İnce trat bei den Präsidentenwahlen 2018 als Kandidat der CHP gegen Erdoğan an und hat hoch verloren.

Obwohl er bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen einen mehr als 10 Prozentigen Stimmenzuwachs für die CHP im Vergleich zu den vorhergehenden Wahlen, erzielte. Ihm wurde Verrat vorgeworfen, da er in der Wahlnacht, als klar wurde Erdoğan hat in der ersten Wahl-Runde mit über 52 Prozent der Stimmen gewonnen, in einem Telefoninterview den Wahlsieg Erdoğans anerkannt hat mit den Worten „Adam kazandı“ (Der Mann hat gewonnen).

Die gängige CHP-Propaganda der Wahlfälschung hatte damit ihre Glaubwürdigkeit verloren. İnce hat wiederum die CHP beschuldigt ihn bei seiner Wahl-Kampagne allein gelassen zu haben. Es kam zum Bruch mit der CHP und zur Gründung der MP.

Durch die Turbulenzen am „Sechser Tisch“ über die Festlegung des Präsidenten-Kandidaten und den Kuhhandel bei der Verteilung der Posten im Falle eines Wahlsieges, hat die MP bei unzufriedenen CHP und İYİ Parti Wähler:innen an Anziehungskraft gewonnen.

Es scheint möglich zu sein, dass diese Partei die siebenProzent-Sperrklausel überspringen kann. Falls das passiert, würde das den Zersetzungsprozess sowohl bei der İYİ Parti als auch bei der CHP Kılıçdar­oğlus beschleunigen.

Alle anderen Parteien, vor allem die Geleçek Partisi (Partei der Zukunft), gegründet vom ehemaligen Außenminister und Ministerpräsidenten der AKP, Ahmet Davutoğlu und die DEVA Partisi (Partei der Heilung) des langjährigen Finanz- und Wirtschaftsminister der AKP-Regierungen unter Erdoğan, Ali Babacan, die vollmundig verkündet haben, sie würden bei den Wahlen als eigenständige Parteien auftreten, sind 1 Prozent Parteien, die keine Chance haben die Prozent-Hürde zu überspringen.

Auch alle anderen Parteien im rechten Spektrum sind Klein- und Kleinstparteien, die als Partei nur eine Chance haben, wenn sie als Teil eines Bündnisses agieren.

Die legalen Parteien im linken Spektrum, ausgenommen der HDP, sind in der Wählergunst Parteien im tausendstel Bereich. Selbst wenn alle ein gemeinsames eigenes Wahlbündnis organisieren würden, würden sie aktuell nicht einmal in die Nähe von sieben Prozent der Stimmen kommen. In diesem Spektrum würde der Weg ins Parlament nur über ein Bündnis, das von der HDP angeführt wird, möglich sein.

Die Kräfteverhältnisse zwingen die kleinen Parteien zu Bündnissen mit großen. Unter diesen Bedingungen treten zu den Wahlen am 14. Mai 5 Wahlbündnisse, und mehrere Parteien an.

Fünf Wahlbündnisse treten bei den Parlamentswahlen an:

1. Cumhur İttifakı – Bündnis des Volkes

Vier Parteien sind in diesem Bündnis. Die AKP, MHP, BBP, Büyük Birlik Partisi (Partei der Großen Einheit) und seit kurzem die YRP (Yeniden Refah Partisi/Partei des Wohlstands von Neuem). AKP, MHP, BBP bilden seit der Präsidentenwahl 2018 dieses Bündnis. In Wahlen und Parlamentsarbeit arbeiten sie eng, als ein Block zusammen. Aber alle drei achten aber auch darauf, dass sie eigene Parteien sind.

BBP ist eine Partei, die aus der „Ülkücü gelenek“ (Idealisten Tradition) kommt. Ülkücüler (İdealisten) nannten sich die Anhänger:innen der militant antikommunistischen, pantürkisch faschistischen Bewegung, die nach dem zweiten Weltkrieg von Alpaslan Türkeş bis zu seinem Tod 1997 angeführt wurde. Die von ihm gegründet, legale faschistische Partei wechselte mehrmals ihren Namen. Seit 1969 nannte sie sich MHP.

1993 kritisierte Muhsin Yazıcıoğlu, ein Kader der Jugendorganisation Ülkü Ocakları (Idealisten Verbände), die faschistische MHP wegen „fehlender Militanz“. Er verließ die Partei und gründete seine eigene Partei, die BBP. 2009 starb er bei einem Hubschrauber „Unfall“.

Nachforschungen legen die These eines generalstabsmässig geplanten Attentats durch die Gülen-Bewegung nahe. Die BBP versteht sich als die Partei, die die „Ülkücü“ Bewegung in der Türkei weiterführt. D.h. die BBP ist genauso wie die MHP eine pantürkisch faschistische Partei. Der kleinere Bruder der MHP.

YRP ist eine Partei der pan-islamistischen Bewegung. Sie wurde von Necmettin Erbakan gegründet und bis zu seinem Tod geführt. Diese politische Richtung wurde immer wieder verboten. Daher hat sie immer wieder ihren Namen geändert. Bis Januar 1998 hieß sie Refah Partisi (Partei des Wohlstands), wurde aber verboten und Erbakan mit einem fünfjährigen Politikverbot belegt.

Aus der Refah Partisi wurde Fazilet Partisi (Partei der Tugend). In dieser Partei gab es zwei Strömungen, die sogenannten „Erneuerer“ um den İstanbuler Bürgermeister Erdoğan und die „Traditionalisten“ um Erbakan. Im Juni 2001 wurde die Fazilet Partisi verboten. Die „Erneuerer“ gründeten die AKP die Traditionalisten die Saadet Partisi (Partei der Glückseligkeit)unter Führung von Temel Karamollaoğlu. Diese Partei ist heute in einem anderen Bündnis, dem Millet İttifakı. Erbakans Sohn Fatih kritisierte die Haltung der Führer der Saadet Partisi und gründete im November 2018 die YRP.

Die Parteien der Cumhur İttifakı werden bei den Parlamentswahlen mit eigenen Listen in die Wahl gehen. Es gibt in diesem Bündnis noch weitere kleinere Parteien, wie die HÜDAPAR (Freie der Sache dienende Partei). Sie ist eine islamistische Partei vorwiegend in Nordkurdistan, deren Kader teilweise aus der islamistisch terroristischen Hizbullah/Türkei stammen, aber vorgeben, dass sie dem Terror abgeschworen haben. Eine weitere kleinere Partei ist die DSP (Demokratische Linke Partei), gegründete von Bülent Ecevit.

Sie hat erklärt, dass sie zwar mit eigener Liste an den Parlamentswahlen teilnehmen, aber Erdoğan wählen werden.

HÜDAPAR verzichtete darauf, mit eigener Liste teilzunehmen. Daher werden drei bis fünf Parteimitglieder auf AKP-Listen aufgestellt. In Gebieten, wo eine Chance besteht, dass sie gewählt werden.

Diese Zusammenarbeit der AKP mit der HÜDAPAR wird in diesem Wahlkampf von CHP-Sprecher:innenn und Jour­na­list:­innen vehement als Zusammenarbeit mit den IS (Islamischer Staat)-Terroristen propagiert. Dies würde den wahren Charakter der AKP zeigen. Allerdings wird diese Propaganda außer bei denen, die in der AKP sowieso eine Scharia-Partei sehen, nicht ernst genommen.

Bei diesen Wahlen ist die Cumhur İttifakı in der Hauptsache ein Bündnis für die Präsidentenwahl. Ihr Wahlprogramm und ihre Versprechen sind „ganz bescheiden“:Das 21.Jahrhundert zum „Jahrhundert der Türkei“ zu machen.

Die Türkei würde sich mit Großprojekten so weit entwickeln, dass sie zu einer Großmacht wird und sich aus der Energie- und Hochtechnologie-Abhängigkeit vom Ausland befreien kann. Präsident Erdoğan sei der Garant für diese Entwicklung. Aktuell wird vorrangig mit dem Thema „Erdbeben“ Politik gemacht. Nur Erdoğan sei der Garant dafür, dass alle Menschen die durch die Katastrophe ihre Häuser bzw. Wohnungen verloren haben, innerhalb eines Jahres in neu errichtete einziehen können. Die durch das Erdbeben verwüsteten Städte würden auch in einem Jahr erneuert und wieder aufgebaut werden. Also ein reines NUR Erdoğan Programm!

Tatsächlich ist aktuell noch nicht einmal das Abtragen der Trümmerberge abgeschlossen. Und das Problem wohin mit dem Bauschutt, der auch sehr viel Asbest enthält, ist nicht gelöst. Hunderttausende Menschen leben noch in Zelten und warten darauf vorübergehend in Containern untergebracht zu werden. Gleichzeitig werden eifrig neue Grundsteinlegungen für hunderttausende staatlichen Neubauten unter Teilnahme der AKP-Granden gefeiert. Natürlich mit Live Übertragung! Es ist ein Kampf um die Wahrnehmung. Es ist Wahlkampf!

2. Millet İttifakı – Bündnis der Nation

In diesem absurden Bündnis tummeln sich CHP, İYİ Parti, Saadet Partisi, DP, Gelecek Partisi, sowie die DEVA Partisi.

+ Auf die CHP (Republikanische Volkspartei) sind wir bereits in unserem Überblick der Parteienlandschaft in der Türkei eingegangen.

+ Auch auf die İYİ Parti sind wir bereits eingegangen. Sie tritt bei den Wahlen in 72 Städten mit eigener Liste an. Bei einem Wahlsieg hätte sie einen Vizepräsi­dent:innen-Posten sowie mehrere Minister:innen­posten und zahlreiche Posten in der höheren Bürokratie sicher in der Tasche.

+Die Saadet Partisi tritt mit 26 Mitgliedern auf den CHP-Listen an. 10 bis 26 Mandate im Parlament sind möglich. Wie viel Posten in der Bürokratie vergeben werden, sind Verhandlungssache.

+ Die DP (Demokratische Partei) sieht sich als Nachfolgerin der Partei von Süleyman Demirel, der in der Türkei sieben Mal Ministerpräsident und einmal Staatspräsident war. Demirels Partei war als konservative, moderate, islamische Partei jahrelang bis Ende der 1990er Jahre die stimmstärkste Partei. Dann brach sie in verschiedene Parteien auseinander und wurde mit dem Aufkommen der AKP zu einer kleineren, politisch unwichtigen Sekte, eine der eintausendstel Parteien.

Während der Wahlvorbereitungen hat sich gezeigt, dass diese Partei von Kılıçdaroğlu, genauso wie die anderen vier kleinen Parteien als Mehrheitsbeschaffer für seine Präsidentenschafts-Kandidatur an den „Tisch“ geholt worden sind. Der Vorsitzende der DP, Gültekin Uysal, dessen Namen bis dahin vielleicht eine Handvoll Parteimitglieder kannte, wurde durch die Teilnahme am „Sechser Tisch“ auf einmal „ein wichtiger Mann“.

Er fiel dadurch auf, der eifrigste Verteidiger von Kılıçdaroğlus Kandidatur zu sein. Dafür wurde er am Ende auch damit belohnt, bei einem eventuellen Wahlsieg Kılıçdaroğlus als einer der Vizepräsidenten der Türkei an der Macht beteiligt zu werden.

Dazu wird er auf jeden Fall mindesten drei seiner engen Freunde durch die CHP Listen ins Parlament bringen. Außerdem einen Ministerposten im Kabinett und einige Posten in der Bürokratie. Wahrlich kein schlechter Kuhhandel! Natürlich im Namen der Interessen des Volkes, des Sieges der Demokratie über die Autokratie etc. etc.!

+Gelecek Partisi (Partei der Zukunft) von Ahmet Davutoğlu. Dieser Professor der Politikwissenschaften war ab 2002 Chefberater Erdoğans für die Außenpolitik. Er wurde laut eigener Aussage „als treuester Freund und Anhänger Erdoğans“ ins Kabinett gehievt. 2009 wurde er Außenminister unter Ministerpräsident Erdoğan. Er wurde damals vom seinem jetzigen Freund Kılıçdaroğlu als „der unfähigste Außenminister den die Türkei je hatte“ angegriffen.

Als Erdoğan sich 2014 für das Präsidentenamt der noch „parlamentarisch-demokratischen“ Türkei zur Wahl stellte, musste er gemäß der damaligen Verfassung seine Verbindung zu seiner Partei kappen und seine Parteimitgliedschaft aufgeben. Die AKP brauchte einen neuen Vorsitzenden, der zugleich Ministerpräsident werden sollte.

Die Wahl Erdoğans, damit auch der Partei, fiel auf seinen „treuesten Weggefährten“ Ahmet Davutoğlu. Von August 2014 bis Mai 2016 war er AKP Vorsitzender und Ministerpräsident der Türkei. Da aber in seiner Amtszeit vieles falsch lief, wurde er „gebeten“ seine Ämter einem anderen treuerenFreund zu übergeben. In seiner Abschiedsrede auf dem Parteitag der AKP zum Verzicht auf alle seine Ämter, verkündete Davutoğlu theatralisch: „Ich werde dieser Partei der heiligen Sache und seinem Führer bis zum Ende meines Lebens treu bleiben. Niemand wird von mir je ein schlechtes Wort über Erdoğan hören.“ Stehende Ovationen! Vorhang.

Bis 2019 geht Davutoğlu seiner Professorentätigkeit in einer Privatuni nach, in deren Vorstand er auch saß. Als seiner Uni ein Gelände für einen Erweiterungsbau nicht genehmigt wird, „erkennt“ er, „wie korrupt die AKP Regierung ist!“ August 2019 kommt er einem Disziplinarverfahren der Partei zuvor, in dem er seine Parteimitgliedschaft aufgibt. Dezember 2019 gründet er die Gelecek Partisi, mit dem Anspruch „Die Gründungswerte der AKP zu vertreten,“ und die AKP erneuern.

Er wurde zu einem der schärfsten Kritiker der AKP und Erdoğans, der immer wieder droht „Wenn ich einmal auspacke, wird die Türkei beben!“ Nun die Türkei bebte anders! Davutoğlu hielt sein Versprechen auszupacken nicht ein, weil er sich damit auch selbst belastet hätte.

Auf jeden Fall hat er für die CHP die sehr vorteilhafte Funktion, mit diesem ehemaligen Weggefährten Erdoğans einige Stimmen von der AKP auf die Oppositionsseite zu ziehen. Außerdem natürlich ein prominenter Mehrheitsbeschaffer am „Sechser Tisch“. Belohnt wurde dieser Dienst ebenfalls mit einem Vize-Präsidentenschafts-Posten und zwischen 10 (sichere) bis 19 Mandate über CHP Listen im Parlament. Außerdem mindestens ein Ministerposten im Kabinett und natürlich einige Posten in der Bürokratie. Auch kein schlechtes Ergebnis des Kuhhandels. Und wieder natürlich im Namen der Demokratisierung der Türkei!

+DEVA Partisi: (Partei der Heilung) Der lange Name dieser Partei lautet „Demokrasi ve Atılım Partisi“ (Partei der Demokratie und des Vorstoß). Sie tritt mit dem Kürzel DEVA Partisi auf. Ihr Gründer Ali Babacan war eines der Gründungsmitglieder der AKP. Zwischen 2009 und 2015 war er Stellvertretender Ministerpräsident und Staatsminister verantwortlich für Finanzen und Ökonomie. Eine Zeitlang hat er auch als Gesandter der AKP-Regierung die Beitrittsverhandlungen mit der EU geführt. 2015 wurde er gebeten „den Stab anderen zu übergeben“.

Er war und ist eng verbandelt mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten und Präsidenten der Türkei, AKP Mit-Gründer Abdullah Gül. Dieser wiederum sollte 2018 bei der Präsidentenwahl der gemeinsame Kandidat der Opposition gegen Erdoğan werden. Der Vorschlag wurde ihm von der CHP gemacht. Er hatte zugesagt, aber nur unter der Bedingung, dass alle Oppositionsparteien ihn unterstützen. Da Akşener (İYİ Parti) ablehnte, platzte der Deal.

Babacan hat jetzt in einem Interview stolz erklärt, er habe damals bei diesem Deal „mitten im Geschehen, aktiv als Vermittler mitgemacht, und für die Kandidatur Güls gearbeitet.“ Er war damals noch AKP Mitglied. Erst Juli 2019 ist er von der AKP-Mitgliedschaft zurückgetreten. Mit der Begründung, er sei mit der Ausrichtung der Partei nicht einverstanden. Denn diese sei „mit den ursprünglichen Werten der Partei nicht mehr vereinbar.“ Sehr edel! Aber das Mitmachen am runden „Sechser Tisch“ mit der CHP, das ist ok.

Es geht nicht um Werte und dergleichen mehr. Es geht nur um Posten, im Falle eines Wahlsieges, zu dem man auch ein wenig beiträgt. Natürlich gegen Belohnung: In diesem Fall wieder ein Vize-Posten des Präsidenten plus 15 bis 25 Mandate im Parlament und mindestens ein Ministerposten im Kabinett und einige Posten in der hohen Bürokratie. Erfolgreiches Feilschen im Namen der Freiheit und Demokratie, gegen die Tyrannei der Ein-Mann Diktatur!

Das Haupt-Wahlversprechen dieses Millet İttifakı Bündnisses ist der Sturz des undemokratischen Ein-Mann Diktatursystems, die Rückkehr zur „verstärkten parlamentarischen Demokratie.“

Hinzu kommen natürlich jede Menge Demokratisierungsversprechen. Angefangen von der Freilassung aller politischen Gefangenen, (Für die Linke aber auch für Gülen-Bewegung sehr wichtig), bis hin zur Wiedereinsetzung der, mit Präsidentendekreten während der Notstandszeit entlassenen Staatsbediensteten, auf ihre Posten. Davon würden etwa 1000 Linke, aber vor allem 10 Tausende Gülen-Anhänger:innen profitieren. Gülens „Parallelstaat“ würde wieder halbwegs errichtet.

Ein weiteres Versprechen ist die Außenpolitik der Regierung um 180Grad umzudrehen, die „gestörten Beziehungen mit unseren westlichen, strategischen Verbündeten“ zu reparieren. Darauf freuen sich die westlichen Imperialisten schon lange. Dazu kommen tagespolitische ökonomische Versprechungen. Diese laufen unter dem Motto: Wir werden das Doppelte dessen geben, was die anderen versprechen.

Auf die Frage der Finanzierung antwortet der Präsidentschaftskandidat Kılıçdaroğlu in einem Fernsehinterview: „Ganz einfach, ich werde gleich 300 Milliarden Dollar sauberes Geld in die Türkei bringen. … Ja, das Geld der Drogenbarone. Sauberes Geld, 300 Milliarden Dollar.“

Zu dem Hauptversprechen „Rückkehr zum Regierungssystem der parlamentarischen Demokratie“ ist festzustellen, dass das nur mit einer Verfassungsänderung möglich ist. Diese wiederum ist nur möglich durch eine zwei Drittel Mehrheit im Parlament, d.h. eine Mehrheit von 400 Stimmen.

Das ist unter den heutigen Kräfteverhältnissen, in der die AKP die größte Fraktion im Parlament stellen wird; die Erdoğan- und Anti-Erdoğan-Fraktionen etwa gleich stark sind, der Unterschied sehr gering zu sein scheint, unmöglich. Eine andere Möglichkeit ist eine drei Fünftel Mehrheit plus Referendum. D.h. 360 Stimmen im Parlament. Dann geht es automatisch zum Referendum. Das scheint unter den heutigen Kräfteverhältnissen auch unmöglich zu sein. Auch wenn die heutige Opposition Mantra artig wiederholt, sie werden diese „Ein Mann-Diktatursystem“ stürzen und in kürzester Zeit zur parlamentarischen Demokratie zurückkehren. Realistisch ist, wenn die heutige Opposition die Präsidentenwahl gewinnen sollte, der neue Präsident nach der heute geltenden Verfassung mit dem Präsidialsystem regieren wird. Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie ist heiße Luft, wenn die AKP das nicht will!

Was das Millet İttifakı-Bündnis zusammenbringt ist der Hass auf Erdoğan, der Machthunger und die Verteilung der Posten durch reines Schachern, bevor das Bündnis überhaupt an der Macht ist. Das kann für demokratische und revolutionäre Kräfte keine Alternative zu dem faschistischen AKP/MHP Regime sein. Zudem wird auch eine etwaige Millet İttifakı-Regierung nicht demokratisch agieren. Sie wird faschistisch regieren, diesmal gegen die anderen 50 Prozent der Bevölkerung. Für die wirklichen Revo­lutionär:innen wird sich nicht viel ändern.

Wie beurteilte Frau Akşener, als sie den „Sechser Tisch“ für ganze drei Tage mit einem großen Knall verließ, die Wahl zwischen Erdoğan und Kılıçdaroğlu?„Eine Wahl zwischen Tod und Malaria.“

Wahrlich die Wahl zwischen diesen zwei Bündnissen zwischen Cumhur İttifakı und Millet İttifakı, und den Präsidentenkandidaten Erdoğan und Kılıçdaroğlu ist für die Völker eine Wahl zwischen Pest und Cholera! Und es ist eine Schande der Linken in Nordkurdistan/Türkei, dass fast die gesamte Linke, außer einer ganz kleinen Minderheit, die in der Arbeiter:innenklasse und unter den Werktätigen sehr geringen Einfluss hat, ihre Hoffnungen auf Kılıçdaroğlu und die Millet İttifakı setzt, diese als „Kräfte der Demokratie“ einschätzt.

Fast die gesamte Linke hat der HDP hinterhertrabend, Kılıçdaroğlus Kandidatur begrüßt, und ruft zu seiner Wahl auf. Es gibt keinen linken Präsidentschaftskandidaten der/die als demokratische Alternative auftritt.

Bei den Parlamentswahlen stellen sich „linke“ Kräfte auf Listen zweier „Bündnisse“ zur Wahl. Bei beiden „linken“ Bündnissen ist aber das Hauptziel bei den Wahlen nicht vorrangig gegen den Kapitalismus zu kämpfen, sondern „Dem Palastregime Erdoğans“ ein Ende zu setzen. Und da man dazu allein nicht die Kraft hat, werden sie alle zum Anhängsel der bürgerlichen Opposition, die käme sie an die Macht, auch faschistisch herrschen wird.

3. Emek Ve Özgürlük İttifakı – Bündnis der Arbeit und Freiheit

Dieses Bündnis besteht aus Yeşil Sol Parti, YSP, (Grün Linke Partei) und Türkiye İşçi Partisi, TİP (Arbeiterpartei der Türkei). Auch EMEP (Emek Partisi), (Partei der Arbeit)hat nach einigem Hin und Her erklärt, sie sei Teil dieses Bündnisses. TİP und EMEP sind kleinere, legale, reformistische linke Organisationen, die nicht imstande sind über die Prozent Hürde zu springen. Für sie ist hat die Teilnahme an dem Bündnis den Vorteil mit ihren eigenen Listen und Kandidat:innen bei den Parlamentswahlen anzutreten.

Denn die Yeşil Sol Parti, die 2012 als eine linksliberale, reformistische Grüne Partei gegründet wurde, ist bei dieser Wahl die HDP. Die HDP hat angesichts der Verbotsdrohung bei diesen Wahlen alle ihre Kandidat:innen in Listen der YSP aufgestellt. Da die HDP die sieben Prozent-Hürde überspringen kann, bedeutet das, dass die YSP bei diesen Wahlen die Adresse für alle Linken Kräfte sein wird, die ins Parlament kommen wollen. Die HDP Politik ist aber klar: Die Hauptsache bei diesen Wahlen ist der Sturz des Palastregimes. Mit dieser Politik werden sie ihre Wähler:innen zu Unterstützer:innen von Kılıçdaroğlus Präsidentschaft und einer Parlamentsmehrheit der Millet İttifakı machen. Denn alleine können das die HDP und die reformistische Linke heute nicht schaffen. Also hängt man sich an die bürgerliche Opposition. Auf die Idee sich niemandem anzuhängen, sondern mit einem wirklich demokratischen Programm allein gegen alle bürgerlichen und faschistischen Parteien aufzutreten, kommen sie nicht.

Nein, als die Revolutionär:innen in den Diskussionen über die Haltung zu den Wahlen, das gefordert haben, wurde gegen diese polemisiert, das sei doch keine Politik! Natürlich haben die Linke und die HDP einen Verhandlungs­spielraum, aber der ist sehr eng. Weil sie von Anfang an erklärt haben, dass sie auf jeden Fall den Gegenkandidaten von Erdoğan unterstützen werden. Und das, bevor die Kandidatur Kılıçdaroğlu überhaupt feststand. Auch im Parlament werden die Linke und die HDP vor allem gegen Erdoğan und seine Bündnispartner kämpfen, weil sie nur diese als faschistisch einschätzen. Also werden sie de facto mit Faschisten gegen Faschisten kämpfen. Das ist das Ergebnis der hohen! Politik des kleineren Übels!

TİP, die in den Wahlen 2018 auf den HDP-Listen mit drei Leuten ins Parlament getragen wurde, wird zu den Wahlen mit einer eigenen Liste auftreten. Sie rechnet damit, in einigen Großstädten durchaus Chancen zu haben, gewählt zu werden. Begründet durch ihre Arbeit im Parlament, durch einige Aktionen außerhalb des Parlaments und zuletzt ihrer Hilfe nach dem Erdbeben. Ihre Entscheidung wurde zuerst als Spaltung kritisiert, aber später erklärte YSP/HDP, jede/r sollte die Entscheidung anderer akzeptieren und mit der Diskussion und Kritik sollte aufgehört werden.

4. Sosyalist Güç Birliği İttifakı – Bündnis der sozialistischen Zusammenarbeit

In diesem Bündnis sind Türkiye Komünist Hareketi, (Kommunistische Bewegung der Türkei), Türkiye Komünist Partisi (Kommunistische Partei der Türkei) und Sol Parti (Linke Partei). Das sind allesamt reformistische, legale, linke Kleinparteien. Dieses Bündnis hat überhaupt keine Chance annähernd an die sieben Prozent Hürde heranzureichen. Warum dann sich als eigenständiges Bündnis zur Wahl stellen? Als Bündnis stehen die Parteien mit ihren Logos und Namen auf den Wahlzetteln. Außerdem können sie sich ein wenig „unabhängiger” und „linker“ gebärden als diejenigen die sich der HDP anschließen. Einige Mitglieder dieser Parteien werden trotzdem auf der Liste der YSP auftauchen.

5. ATA İttifakı – ATA-Bündnis

ATA ist das Kürzel von Atatürk (Mustafa Kemal), dem vergötterten Gründer der Republik. Jede/r bürgerliche Politiker:in in der Türkei ist „Atatürkist“. Und alle streiten darum, wer der echte Atatürkist ist. Dieses Bündnis besteht aus zwei Parteien. Die größere ist die Zafer Partisi (Partei des Sieges). Diese extrem nationalistisch-faschistische Partei wurde August 2021 von Ümit Özdağ gegründet. Seine politische Karriere begann in der MHP, ging in der İYİ Parti weiter, bis er sich März 2021 von dieser trennte. Das Markenzeichen dieser Partei, gegenüber anderen faschistischen ist der extrem aggressive Rassismus gegenüber allen Geflüchteten, aber vor allem gegen die syrischen. Kılıçdaroğlu, der natürlich auch verspricht, in seiner Präsidentschaft wird er spätestens in zwei Jahren „alle Syrer und anderen Flüchtlinge nach Hause schicken“, „aber natürlich freiwillig“ wird von Özdağ folgendermaßen kritisiert: „Was für zwei Jahre? Sofort! Was heißt freiwillig? Natürlich werden wir sie mit Gewalt verjagen. Wenn nötig mit Waffengewalt!“. Hauptschuldiger in dieser Frage ist für Kılıçdaroğlu und Özdağ aber natürlich Erdoğan „der unsere Grenzen, die unsere Ehre sind, zerlöchert, und allen Flüchtlingen geöffnet hat.“ Da treffen sich Light- und Hardcore-Rassismus auf einer Ebene!

Die zweite Partei dieses Bündnisses ist die Adalet Partisi, AP (Partei der Gerechtigkeit). Das ist mehr ein Traditions-Name als eine Partei. Sie hat den Anspruch die Partei zu sein, die Süleyman Demirel 1961 gegründet und bis zu ihrem Verbot 1980 geführt hat. Die heutige AP ist eher eine Internet-Partei für Nostalgiker. Dieses Bündnis hat auch einen Faschisten Sinan Oğan als Präsidentschafts-Kandidaten zur Wahl gestellt. Dieses Bündnis hat auch keine Chance die 7 Prozent Hürde zu schaffen.

Unter den Rest-Parteien, die nicht innerhalb dieser fünf Bündnisse agieren, hat nur die Memleket Partisi von Muharrem İnce. eine – wenn auch geringe – Chance die 7 Prozent Hürde zu schaffen. Sie tritt alleine an. Es kommt darauf an, wie sich die İYİ Parti Wähler:innen, und CHP Wähler:innen, verhalten werden, die über den Posten-Schacher frustriert sind. Wenn sie zur Memleket Partisi übergehen wird Muharrem İncis Partei eine ernsthafte bürgerliche politische Kraft in der Türkei werden.

Präsidentenschafts-Kandidat:innen und ihre Chancen

Zu der Präsidentenwahl am 14. Mai sind 4 Kandidaten – allesamt Männer – allesamt Türken – zugelassen. Und zwar in der ausgelosten Reihenfolge auf dem Wahlzettel:

Recep Tayyip Erdoğan, Muharrem İnce,
Kemal Kılıçdaroğlu und Sinan Oğan.

Diese Vier stehenauf dem Wahlzettel als Kandidaten. Es kann gut sein, dass es sich einer von ihnen noch vor den Wahlen „anders überlegt“ und sich zugunsten eines anderen Kandidaten zurückzieht. Denn der Druck ist enorm: Viele CHP-Anhänger:innen, eine ganze Schar von CHP nahen „Journalist:innen“, ehemalige CHP-Parlamentarier:innen, CHP- Künstler:innen und Intellektuelle haben nach wie vor die Hoffnung, Muharrem İnce für einen Rücktritt zugunsten Kılıçdaroğlus zu „überzeugen“. Einerseits durch massiven Druck: „Du wirst der Grund der Niederlage sein, wenn Kılıçdaroğlu verlieren sollte, du wirst verantwortlich sein für den Untergang der Republik Atatürks …etc“. Andererseits durch verlockende Angebote: „Er könne beim Sturz der Ein-Mann-Diktatur in der Erneuerung und Demokratisierung der Türkei eine entscheidende Rolle spielen; als selbstloser Held in die Geschichte eingehen; er könnte in der Regierung Kılıçdaroğlu eine wichtige Rolle spielen, …etc.

In den A-Sozialmedien wird er von Erdoğan-Hassern mit Schimpf und Schande belegt und richtig gelyncht. Trotz der Beteuerungen von İnce, sollte es zu einer zweiten Präsidentschafts-Wahlrunde kommen, in der sich Erdoğan und Kılıçdaroğlu gegenüberstehen, würde er natürlich für Kılıçdaroğlus Sieg kämpfen, wird ihm vorgeworfen, er sei ein „Agent Erdoğans“. Das alles hat bisher nicht gefruchtet. Bisher steht İnce fest zu seiner Kandidatur und behauptet sogar er selbst würde derjenige sein der in der zweiten Runde gegen Erdoğan antreten wird. Aber es ist noch ein Monat Zeit bis zu den Wahlen. 24 Stunden sind eine sehr lange Zeit in der bürgerlichen, prinzipienlosen Politik. Das sehen wir in allen Ländern wie bürgerliche Politiker:innen von heute auf Morgen ihre angeblichen „roten Linien“ vergessen!

Realistisch gesehen haben nur zwei der Kandidaten eine Chance spätestens in der zweiten Runde Präsident der Türkei zu werden: Erdoğan und Kılıçdaroğlu. Die anderen zwei Kandidaten werden höchstens, wenn überhaupt, die Funktion haben die Wahl in die zweite Runde zu tragen.

In Nordkurdistan/Türkei gibt es kaum verlässliche, wissenschaftlich fundierte Wähler:innenbefragungen, die aussagekräftig sind. Alle veröffentlichten Wähler:innenumfragen sind mehr Wunsch der Auftraggeberinnen oder der Befragungs-Institute, die sich wichtigtuerisch ins Gespräch bringen wollen, als die Wirklichkeit.

Die publizierten Umfragen sind Teil der Wahl-Kampagnen der Parteien. Gestützt auf die „wissenschaftlichen“ Wählerbefragungen, die die Parteien selbst in Auftrag gegeben haben, verkünden die Parteien des Cumhur İttifakı Bündnisses, den Sieg Erdoğans in der ersten Runde. Die Vertreter:innen der Parteien des Millet Ittifakı-Bündnisses wiederum haben von vornherein und immer wieder erklärt, dass die Millet İttifakıden 13. Präsidenten der Türkei stellen wird!

Einige eifrige Blogger:innen und youtuber-Anhänger:innen von Millet İttifakıwaren sich so sicher, dass sie in ihren Kanälen sagen und schreiben konnten: „Wer der Kandidat gegen Erdoğan sein wird ist unwichtig. Sogar ein paar Toiletten-Schlappen würden gegen Erdoğan gewinnen.“ Das sagen auch manche „Befragungsinstitute“, die von der CHP in Auftrag gegeben wurden. Manche sagen sogar Kılıçdaroğlu 60 Prozent der Stimmen voraussagen! Nun wenn dem so ist, dann wäre ja Kılıçdaroğlus Sieg in der ersten Runde sicher. Auch eine Kandidatur eines Muharrem İnces würde daran nichts ändern. Warum dann die Panik?

Unabhängig von diesem Propagandagetöse ist die Faktenlage folgendermaßen: Zum ersten Mal seit 21 Jahren hat die Opposition bei den Wahlen am 14. Mai eine Chance die Parlaments- und den Präsidentschaftswahlen zu gewinnen. Nicht weil sie mit einem positiven, glaubwürdigen Programm die Mehrheit der Wähler:innen auf ihre Seite ziehen konnte. Nicht weil sie besser und fähiger ist.

Nein! Wenn sie gewinnt, dann wegen der ökonomischen Lage des Volkes. Sie ist unheimlich schlecht.

In den letzten Jahren hat die Verarmung der werktätigen Bevölkerung massiv zugenommen hat. Auch die Mittelschicht verarmt. Durch die ökonomische Krise, verstärkt durch die Corona Krise, durch den Krieg, den der faschistische türkische Staat gegen die PKK führt, durch die manipulativen Finanz-Operationen der internen und externen Kräfte, die Erdoğan weghaben wollen, durch den Krieg in der Ukraine. Das ist die stärkste Opposition gegen Erdoğan. Dazu kam im Februar 2023 die größte Naturkatastrophe in der Geschichte der Republik Türkei. 14 Millionen Menschen waren und sind direkt betroffen und das Krisenmanagement der Regierung ist von Anfang an kläglich gescheitert.

Das alles zusammengenommen würde in einer „normal-bürgerlichen“ Gesellschaft nicht nur eine, sondern gleich mehrere Regierungen hinwegfegen. Deswegen hat die Opposition zum ersten Mal eine Chance, Erdoğan abzulösen. Zumal sie auch die Unterstützung der westlichen „Verbündeten“, der imperialistischen Mächte hat. Wenn sie das auch unter diesen Umständen nicht schafft, dann wird die Türkei sich in die Richtung weiter entwickeln, die Erdogan bestimmt:

Eine unabhängig agierende, imperialistische Macht, die mit allen imperialistischen Mächten Beziehungen hat. Die nicht als Befehlsempfängerin oder „Junior Partnerin“ fungiert. Deswegen ist Erdoğan bei den westlichen Imperialisten auch so verhasst. Deswegen sind die westlichen Imperialisten für Kılıçdaroğlu. Und deswegen ist Erdoğan für Russland und China ein gern gesehener „Staatsmann!“.

Dass die Erdoğan-Regierung trotz der katastrophalen, ökonomischen Lage für die Werktätigen noch immer eine breite Unterstützung erhält, höchstwahrscheinlich wird sie wieder die stärkste Partei im Parlament werden, hat mit der Soziologie der Türkei zu tun:

Die Gesellschaft in Nordkurdistan/Türkei setzt sich aus religiösen aber auch säkularen Glaubensgemeinschaften, aus organisierten gläubigen Menschengruppen zusammen.

Die Individualisierung ist in breiten Teilen der Gesellschaft noch nicht weit vorangeschritten. Seit Erdoğan an der Macht ist, haben sich verschiedene kleinere oder größere Glaubensgemeinschaften in zwei Hauptgemeinschaften gruppiert: Die Gemeinschaft derer die Erdogan vergöttern und der Gemeinschaft der Erdogan-Hasser.

Über 90 Prozent oder mehr der Bevölkerung kann man in diesen Kategorien unterbringen. Diese zwei Hauptgruppen sind annähernd gleichstark. Allerdings konnten die Erdoğan-Hasser:innen bisher nicht ihre Kräfte bündeln und gemeinsam auftreten. Nur bei den letzten Regionalwahlen hat das geklappt. Die bürgerliche Opposition ist zusammen aufgetreten, und die HDP hat sie auch vorbehaltlos unterstützt. Was sie alle zusammengebracht hat, war vor allem die Feindschaft gegen Erdoğan. Bei den Wahlen am 14. Mai scheint es, als ob sie trotz sehr großer Differenzen untereinander den gemeinsamen Nenner gefunden haben: Erdoğan muss weg! Alles andere ist zweitrangig.

Im Vergleich zu den Regionalwahlen muss man aber Erstens wissen: Auch wenn die Opposition in zwei der bevölkerungsreichsten Großstädten der Türkei, İstanbul und Ankara das Bürgermeisteramt gewonnen hat, hat das Erdoğan-Bündnis die Cumhur İttifakı in diesen beiden Städten die Mehrheit in den Stadtparlamenten errungen. Zweitens: Im Landesmaßstab hatte die Cumhur İttifakı über 52 Prozent der Stimmen. An die 70 Prozent aller Bürgermeister:innenämter. (d‘Hont System!) Drittens: Erdoğan, dessen Stimmenanteil über dem Stimmenanteil der AKP liegt, stand nicht selber zur Wahl.

Was aber allerdings auch anders ist als 2019: Die ökonomische Lage war damals unvergleichlich besser. Vor der Coronakrise, vor der schweren Finanzkrise und der sich vertiefenden ökonomischen Krise. Und der Krieg in den westlichen Teilen der Ukraine hatte noch nicht begonnen. Dieser Krieg hat eine gravierende Energiekrise mit sich gebracht. Und noch hatte sich die schlimmste Erdbebenkatstrophe der Geschichte der Türkei nicht ereignet. Was das Ergebnis der Wahlen betrifft werden alle diese Faktoren eine Rolle spielen.

Letztendlich wird diese Wahl, was das Wähler:­innenverhalten betrifft, eine Wahl zwischen der Gemeinschaft derer die Erdogan vergöttern und der Gemeinschaft der Erdogan-Hasser sein.

Da diese beiden Blocks etwa gleich stark sind, wird das Ergebnis der Wahlen knapp sein.

Tja! Wer gewinnt die Wahl? Gewinnen wird das Bündnis, welches die Mehrheit der „Unentschlossenen“ auf ihre Seite zieht. Diese wiederum bestehen in ihrer Mehrheit aus ehemaligen AKP-Wähler:innen, die sich wegen Korruption, Vetternwirtschaft etc. von ihr abgewendet haben.

Kann Erdoğan die Mehrheit der unentschiedenen Wählerinnen, die ihn in den letzten 21Jahren irgendwann gewählt haben, überzeugen, er sei der Macher, der auf jeden Fall die Krisen besser managen kann, dann wird er auch diese Wahl gewinnen, wenn auch knapper als vorher.

Oder kann Kılıçdaroğlu mit seiner Strategie, einen beträchtlichen Teil des Reservoir der islamischen AKP Wähler:innen und den Unentschiedenen auf seine Seite zu ziehen, erfolgreich ist? Dann wird er gewinnen. Wenn auch knapp.

Unklar ist bisher auch, ob die Wähler:innen der CHP, die mit der Linie der Erneuerung der CHP von Kılıçdaroğlus, nicht einverstanden sind, ihn trotzdem wählen oder aber nicht. Diese Linie der „Erneuerung“ rüttelt vehement an den genetischen Codes der CHP. Fraglich ist auch, ob diejenigen Wähler:innen der İYİ Parti, die mit dem Zusammengehen mit der HDP nicht einverstanden sind, Kılıçdaroğlu bei der Präsidentenwahl wählen werden oder nicht, bzw. die İYİ Parti bei den Parlamentswahlen.

Wer, welches Bündnis auch gewinnt, eins kann man sicher voraussagen, diese Wahl wird knapper ausgehen als alle vorhergehenden Wahlen.

Wahrscheinlich wird die Präsidentschaftswahl erst in der zweiten Runde entschieden, sollte Muharrem İnce an seiner Präsidentschaftskandidatur festhalten. Denn dann wird Kılıçdaroğlu keine Chance haben gewählt zu werden. Und wenn Erdoğan in der ersten Runde ebenfalls nicht gewinnt, entscheidet sich alles in der zweiten Runde.

Wenn die Millet İttifakı mit YSP zusammen eine Mehrheit im Parlament bilden, wird das für Kılıçdaroğlu ein großes Plus sein und starken Rückenwind bedeuten. Gewinnt die Cumhur İttifakı 301 Mandate, heute hat sie über 330 im Parlament, wird Erdoğan der alte, neue Präsident in der zweiten Runde.

Welche Wahl haben die Werktätigen?

Das Ergebnis dieser Wahlen ist für die Bourgeoisie sowohl in der Türkei als auch in der Welt enorm wichtig.

İn der Türkei wird entschieden, ob Teile der Bourgeoisie, die mit der AKP Herrschaft in den letzten 21 Jahren groß und mächtig geworden sind und nun einen wichtigen Teil der Großbourgeoisie ausmachen, weiterhin den Großteil der Staatsaufträge erhalten und noch mächtiger werden. Oder aber, ob die ehemals allein herrschenden „alten“ Teile der Großbourgeoisie vorwiegend aus İstanbul wieder die Staatsmacht mehr für sich instrumentalisieren können.

Unter der Erdoğan-Herrschaft sind diese Zeiten lange vorbei. Bis dahin konnte die Klassenorganisation dieser Teile der Bourgeoisie, TÜSİAD (Verein der industriellen Unternehmer:innen der Türkei), die Wirtschafts- und Finanzpolitik den Regierungen diktieren. Sie konnte unliebsame Regierungen stürzen. Bisher hatten ihre offen politischen Interventionen keinen großen Einfluss. Ihre Aufrufe zur Rückkehr „zu einer vernünftigen, wissenschaftsbasierten Ökonomiepolitik“ blieben und bleiben bei der Erdoğan Regierung ungehört. Bei ihnen heißt es: „İnflation kann man nur mit Hochzinspolıtık bekämpfen“. Bei der ökonomischen Politik muss man „mit anerkannten internationalen İnstitutionen wie Weltbank, EZB zusammenarbeiten“, man darf „die Sanktionspolitik des Westens gegen Russland, China, Iran nicht unterlaufen“.

Insofern sind diese Wahlen für die Bourgeoisie sehr wichtig. Aber für die Arbeiter:innenklasse, für die werktätigen Menschen, die von ihrem miesen Arbeitslohn zu überleben versuchen und die den Reichtum der Bourgeoisie vermehren, ist es völlig egal, welcher Teil der Bourgeoisie Vorrang im Staatsapparat hat.

Nicht Teile der Bourgeoisie sind der Feind der Arbei­ter:innen, sondern die Gesamtheit der Bourgeoisie als Klasse. Es gibt für die Arbeiter:innenklasse auch bei diesen Wahlen, wo es um Machverteilung unter den Bourgeois-Cliquen geht, und es keine sozialistisch-kommunistische Alternative gibt, nichts zu wählen. Außer den Klassenkampf gegen die Bourgeoisie für die Revolution zu intensivieren.

Auch für die imperialistischen Mächte ist diese Wahl sehr wichtig. Denn bei dieser Wahl wird auch entschieden in welche außenpolitische Richtung die Türkei in den nächsten fünf Jahren geht.

Unter Erdoğans Regierungszeit seit den 2010er Jahren, entwickelt sich die Türkei langsam aber sicher weg von der einseitig auf „Westbindung“ ausgerichteten Außenpolitik. Sie versucht bei den Widersprüchen zwischen den Großmächten „neutral“ zu bleiben, mit allen Beziehungen zu haben und Handel zu treiben. So versucht sie ihrem Ziel eine unabhängige, imperialistische Macht zu werden, näher zu kommen.

Dies erzürnt die bisherigen Herren in der Türkei, die westlichen imperialistischen Mächte. Sie wollen die Erdoğan Regierung weghaben. Die Opposition in der Türkei, die verspricht, die Außenpolitik im Falle des Wahlsieges um 180Prozent herum zu reißen, ist für sie natürlich ein zu unterstützender „Partner“. Russland und China wiederum, mit denen Erdoğans Regierung gute Beziehungen hat, wollen Erdoğans Macht erhalten und ein militärisch starkes NATO-Mitglied neutralisieren.

Sie würden gerne weiter Erdoğan als Präsident in der Türkei haben. Er ist in diesen Wahlen ihr Partner in der Türkei. Ja, darum sind die Wahlen am 14. Mai für die Imperialisten wichtig. Aber für die Arbeiterinnen und Werktätigen ist es völlig egal, ob die Türkei sich weiterhin auf dem Weg zu einer unabhängig agierenden, imperialistischen Macht entwickelt, die nicht Block gebunden ist, oder aber zu einer imperialistischen Macht als Juniorpartner der westlichen imperialistischen Mächte.

Keine dieser Entwicklungen ist im Interesse der Arbeiter:innenklasse und der werktätigen Menschen der Türkei. Es gibt auch in dieser Hinsicht nichts zu wählen, außer den antiimperialistischen Kampf gegen jeden Imperialismus zu intensivieren!

Weder Cumhur İttifaki , noch Millet İttifaki !

Weder Erdoğan, noch Kiliçdaroğlu !

Unsere Wahl: Revolutionärer Kampf für Volksdemokratie und Sozialismus

Das sind die Hauptparolen des Proletariats am 14.Mai 2023!

15. April 2023

i https://www.fr.de/politik/wahlen-2023-europa-weltweit-tuerkei-polen-schweiz-nigeria-91910492.html

ii https://www.washingtonpost.com/business/energy/the-worlds-most-important-election-in-2023-will-be-in-turkey/2023/01/09/ac2cf916-8fe3-11ed-90f8-53661ac5d9b9_story.html

iii https://www.focus.de/politik/Erdoğan-als-autokrat-bezeichnet-tuerkei-droht-biden-wegen-frueherer-aussagen-wird-den-preis-fuer-pure-arroganz-bezahlen_id_12324668.html

iv https://de.wikipedia.org/wiki/D%E2%80%99Hondt-Verfahren. Im Prinzip ist das eine Form des Mehrheitswahlrechts. In dem Hondt-System wird die stärkste Partei bevorteilt, aber auch die anderen Parteien haben die Möglichkeit, Mandate zu gewinnen.

v Der pompöse Präsidenten-Amtssitz in Ankara unter Erdoğan erbaut, wird von der Opposition als „Palast“, und das Regime von Erdoğan als „Palast-Regime“ bezeichnet.

vi Erklärungen des Parteivorstandes der HDP 2023

vii Bei den Treffen des Bündnisses wurden ernsthafte (!) Diskussionen über die Sitzordnung bei den Zusammenkünften geführt. Am Ende einigten sich die Parteien auf einen runden Tisch. Seit dem wurde das Bündnis auch „Sechser Tisch“ genannt.