Das Deutsche Volk und Möllner Briefe
Das Deutsche Volk
(Deutschland 2025) 132 Min. (schwarz-weiß)
Dokumentarfilm Regie & Drehbuch: Marcin Wierzchowski
Hanau ist eine Stadt im deutschen Bundesland Hessen, deren berühmteste Bürger die Brüder Grimm sind. Und eine Stadt, die stolz darauf ist. Auf dem zentralen Marktplatz der Stadt steht ein riesiges Denkmal der Brüder Grimm, das nach dem Zweiten Weltkrieg originalgetreu renoviert wurde. Unter dem Denkmal befindet sich die Inschrift „Dank der Brüder Grimm. Das deutsche Volk“.
Einer der eindrucksvollsten Dokumentarfilme der 75. Berlinale, der Schwarz-Weiß-Dokumentarfilm „Das deutsche Volk“, hat seinen Titel von diesem Denkmal. Dies wird in der letzten Szene des Films deutlich, wenn die Kamera auf das Grimm-Denkmal auf dem Hanauer Marktplatz gerichtet ist.
Bekannt ist Hanau nicht nur als Geburtsstadt der Brüder Grimm. Nein, am 19. Februar 2020 erschoss und ermordete ein junger deutscher Nazi in dieser Stadt neun junge Menschen:
Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin.
Überlebende Opfer verletzte er schwer. An drei verschiedenen Orten in knapp einer Stunde. Ihr gemeinsame Merkmal war, dass sie in Hanau lebende Menschen mit Migrationshintergrund waren.
Ein junger Mann namens Vili Viorel Păun, verließ nach der Ermordung der ersten drei Menschen den Ort, an dem sich junge Menschen mit Migrationshintergrund gewöhnlich treffen, und verfolgte mit seinem Auto den Mörder, um ihn daran zu hindern, weitere Massaker zu begehen. Er rief während der Verfolgungsjagd viermal! die Notrufzentrale der Polizei an. Unbeantwortete Anrufe! Drei junge Menschen sind in der Hanauer Innenstadt brutal ermordet worden! Ein Jugendlicher, der den Vorfall beobachtet hat, verfolgt den Mörder und ruft die Polizei an. Doch die Polizei ist nirgends zu finden. Der Mörder weiß, dass er verfolgt wird. Er ist bewaffnet. Als er sein Auto in der Nähe des Tatorts des zweiten Anschlags parkt, auch einem Ort, an dem sich junge Leute treffen, ermordet er als erstes Vili Viorel Păun. Er tötet ihn in der Manier eines Profikillers, indem er ihm in den Kopf schießt. Dann betritt er den Café-Kiosk, in dem sich Jugendliche mit Migrationshintergrund aufhalten, und erschießt zwei Personen im vorderen Bereich. Als die anderen Jugendlichen die Schüsse hörten, liefen sie zum Notausgang, mussten aber feststellen, dass die Notausgangstür verschlossen war und sie zurückgehen mussten. Viele von ihnen wurden durch Schüsse getroffen und drei verstarben. Nachdem er „seinen Job erledigt“ hat, steigt der Mörder kaltblütig wieder in sein Auto und fährt nach Hause. Nachdem er dort seine Mutter erschossen hat, begeht er Selbstmord. Seinen Vater, der wie er ein Nazi ist, lässt er unbehelligt.
Eine Stunde nach all diesen Ereignissen trifft die deutsche Polizei im Haus des Mörders ein. Andere „Tatorte“ werden von der Polizei umstellt. Die Angehörigen der toten und verletzten jungen Menschen, die zum Tatort kommen, werden nicht richtig informiert. Erst Stunden später erfahren sie, ob ihr Sohn, ihre Tochter, ihr Neffe tot oder lebendig ist, ob sie ins Krankenhaus gebracht wurden oder nicht, wo sie sich befinden. Die Leiche von Vili Viorel Păun wurde 18 Stunden lang in seinem Auto „am Tatort“ zurückgelassen!
In „Das Deutsche Volk“ berichtet der Regisseur Marcin Wierzchowski über diese Ereignisse anhand der direkten Zeugenaussagen junger Menschen, die den 19. Februar erlebt und mit Verletzungen überlebt haben, und von den Angehörigen derjenigen Menschen, die am 19. Februar ihr Leben verloren haben.
Die Informationen, Erkenntnisse, Beweise, Gutachten, polizeiinterne Korrespondenz usw., die durch die Bemühungen der Bürgerinitiative 19. Februar zusammengetragen wurden, zeigen deutlich, dass die zuständigen Institutionen des deutschen Staates für dieses Nazi-Massaker verantwortlich sind. Aber sie übernehmen diese Verantwortung in keiner Weise.
Die Film-Aufzeichnung eines Treffens des sozialdemokratischen Bürgermeisters der Stadt mit den Angehörigen der Opfer des Anschlags vom 19. Februar am Ende des Films ist ein Dokument der völlig mangelnden Empathie der deutschen Bürokratie und ihrer Versuche, sich selbst zu entlasten.
Die Angehörigen der Opfer fordern, dass das Mahnmal für ihre Toten im Zentrum der Stadt, an einem möglichst gut sichtbaren Ort, aufgestellt wird, um zu zeigen, dass „Das deutsche Volk“ gegen die faschistischen Morde ist, dass es sich mit den Opfern solidarisiert, und dass dies in einem Kontext des anwachsenden Faschismus wichtig ist. Der Oberbürgermeister der „weißen“ deutschen sozialdemokratischen Partei (SPD) lehnt diesen Vorschlag ab, weil die Brüder Grimm ein gemeinsamer Wert von Hanau und allen Deutschen seien, weil sie ein wichtiges Mittel sind, um Touristen in die Stadt zu holen, weil ein bedeutender Teil der Bevölkerung ein Denkmal für die Opfer des Massakers vom 19. Februar auf demselben Platz ablehnen würde und weil dies die Bevölkerung spalten würde. Überall, nur nicht auf dem Marktplatz!
„Das deutsche Volk“ ist ein wichtiger, aktueller Dokumentarfilm, der die tatsächlichen Grenzen der „antifaschistischen“ Solidaritätsdemonstrationen der Mehrheit der „weißen“ Deutschen und vor allem der unehrlichen bürgerlichen Politiker:innen angesichts der zunehmenden rassistischen Angriffe auf Migrant:innen in Deutschland aufzeigt.
Das ist auch eine Dokumentation des beeindruckenden Kampfes der überlebenden Opfer dieses Anschlags und ihrer Angehörigen, sowie des Versprechens, dass die Namen und die Erinnerung an die neun jugendlichen Opfer nicht vergessen werden, dass der Slogan „Erinnerung ist Kampf!“ nicht vergessen wird.

Möllner Briefe
(Deutschland 2025) 96 min.
Regie & Drehbuch: Martina Priessner
Dokumentarfilm mit Hava Arslan, İbrahim Arslan, Namık Arslan, Yeliz Burhan und weiteren Personen
Mölln ist eine der berüchtigtsten Städte Deutschlands, international bekannt für die NS-Morde an Migrant:innen in den 1990er Jahren. In den ersten Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung ereigneten sich in Deutschland eine Reihe von Nazi-Anschlägen.
Einer dieser Anschläge fand im November 1992 in Mölln statt. Drei Nazis setzten in einer Nacht zwei Häuser in Brand. In einem der in Brand gesteckten Häuser, dem Haus in der Mühlenstraße, lebten drei Generationen der Familie Arslan zusammen.
Drei Mitglieder der Familie Arslan, Großmutter Bahide (51), ihre älteste Enkelin Yeliz (10) und Nichte Ayşe Yılmaz (14), starben bei dem Anschlag.
Der 7-jährige İbrahim Aslan, der in nasse Decken gewickelt und von seiner Großmutter in die Küche getragen wurde, entkam mit Verbrennungen dem Tod. Sein Bruder wurde von seiner Mutter aus dem Fenster geworfen und überlebte. In dem anderen Haus in der Ratzeburgerstraße gab es keine Verletzten, aber das Haus brannte nieder und machte Dutzende von Familien obdachlos. Sie sind für ihr ganzes Leben lang traumatisiert.
Der deutsche Staat, seine Bürokratie und bürgerlichen Politiker:innen haben sich nie um die Opfer gekümmert. Das Einzige, was sie taten, war, am Tatort aufzutauchen, Krokodilstränen zu vergießen und offizielle Gedenkfeiern zum Jahrestag der Brandstiftung zu veranstalten, um die empörten betroffenen Migrant:innen zu beschwichtigen und ihr eigenes schlechtes Gewissen zu beruhigen.
Auch dort haben sie nichts anderes getan, als sich selbst mit Eigenlob für ihr ach so demokratisches Verhalten zu loben. Es kam ihnen nie in den Sinn, die Familien der Opfer, die Zielscheibe der Nazi-Anschläge, zu diesen Treffen einzuladen, sie zu befragen usw.!
Die Familie Arslan organisierte zu Recht jedes Jahr eine eigene Gedenkfeier als Alternative zum offiziellen staatlichen Gedenken. Diese Gedenkveranstaltungen, die von den Opfern und ihren Perspektiven ausgehen, waren schon immer die wirkliche Alternative zu den Scheingedenkveranstaltungen der Bourgeoisie.
In den „Möllner Briefen“ zeichnet Martina Priessner einen weiteren der endlosen Skandale der deutschen Bürokratie im Zusammenhang mit den Nazi-Morden in Mölln nach. Unmittelbar nach Bekanntwerden der Morde in Mölln eilten migrantische Gemeinden in Deutschland und wirkliche deutsche Antifaschist:innen nach Mölln.
Sie bekundeten ihre Solidarität mit den Opfern und Leidtragenden und demonstrierten ihren Hass gegen den Faschismus. Es gab zahlreiche Kundgebungen und Demonstrationen.
Die zunehmenden Übergriffe der Nazis in dieser Zeit stießen auch bei demokratischen Deutschen auf Hass und Entsetzen. Viele Menschen schrieben Karten und Briefe an die Familien der Opfer, drückten ihre Solidarität und ihr Beileid aus. Einige spendeten Geld zur Unterstützung. Die Existenz dieser Briefe, Postkarten, gemalten Bilder usw. war den Empfänger:innen, den betroffenen Familien jedoch nicht bekannt.
Die Existenz dieser Dokumente wurde 2019, 27 Jahre nach dem Anschlag in Mölln, zufällig entdeckt, als eine Studentin im Rahmen ihrer Diplomarbeit das Archiv der Stadt Mölln durchforstete!
Hunderte von Briefen, Karten und Bildern waren akribisch archiviert worden. Im Archiv fanden sich nicht nur Briefe und Karten, die an die Familien geschickt worden waren, sondern auch Antwortschreiben im Namen der Stadtverwaltung. In diesen Antwortschreiben wurde den Verfasser:innen für ihre Schreiben gedankt und mitgeteilt, dass „die von Ihnen gesendeten Briefe an die Adressaten weitergeleitet wurden“.
Der Film begleitet İbrahim Arslan und Namık Arslan, die nach 27 Jahren von der Existenz dieser Unterstützungs-/Solidaritäts-/Entschuldigungsbriefe erfahren haben, bei ihrer Suche nach den an sie gerichteten Briefen. Gemeinsam mit ihnen besucht der Filmden Archivar der Gemeinde und den Bürgermeister. Gemeinsam mit den Betroffenen stellt er die Frage, warum diese Briefe nicht an ihre Besitzer gegeben wurden. Er begleitet Ibrahim und seinen Sohn, um einige Verfasser:innen der Briefe zu treffen und dokumentiert diese Besuche.
In dem Film „Möllner Briefe“ kommen auch die vergessenen Geschichten der Opfer der Ratzeburger Straße zum Vorschein.
„Die Möllner Briefe“ ist ein Film, der sehr einfühlsam die Empathielosigkeit der deutschen Bürokratie entlarvt und gleichzeitig den ermutigenden Kampf der Opfer des Möllner Anschlags, insbesondere İbrahim Arslan, und das nicht enden wollende Trauma der Opfer und ihrer Angehörigen dokumentiert.
Tatsächlich ist es ein Film, der zum gemeinsamen Kampf gegen den Faschismus aufruft. Ein Film über das Vertrauen in die eigene Kraft, nicht in den Staat.
„Die Möllner Briefe“ erhielten den „Panorama-Publikumspreis“ in der Kategorie Dokumentarfilm.
Auch der Preis für den besten Film, der im Namen von Amnesty International vergeben wird, ging bei der 75. Berlinale an „Die Möllner Briefe“.
Meiner Meinung nach war „Die Möllner Briefe“ einer der besten Filme des Festivals. Ich hoffe, dass er auch in der Türkei ein Publikum finden wird.
Kulturzeitung „Güney“, Ausgabe 112/2025
Übersetzung aus dem Türkischen von TA