Chile 1973 – 2023

Am 11. September 2023 jährt sich zum 50. Mal der Militärputsch in Chile. In der Trotz alledem! Nr. 29, September 2003, vor zwanzig Jahren, haben wir uns mit dem faschistischen Putsch in Chile und mit der Politik der Unidad Popular (UP) auseinandergesetzt.

Wir wollen daran erinnern, dass es einen ganz anderen 11.September gibt, der sich in das Gedächtnis der ausgebeuteten Völker eingeprägt hat. Der 11.September 1973 – der blutige faschistische Putsch in Chile. Er ist zum Symboltag für die unterjochten ArbeiterInnen und Werktätigen weltweit geworden.

in Symbol:

Für die Entfachung eines faschistischen Putsches durch die imperialistischen Großmächte gegen die gewählte links-reformistische Allende Regierung!

Für die brutale Unterdrückung und Ermordung der revolutionären und demokratischen Bewegungen in Chile!

Für das brutale Ausbluten der chilenischen Völker durch die Marionetten-Faschisten unter Pinochet!

Der 11.September 1973 hat aber auch klar gezeigt, dass das Paktieren Allendes und der Unidad Popular mit den Imperialisten und die Losung der Opportunisten in Chile vom ‚friedlichen Hineinwachsen in den Sozialismus‘ auf parlamentarischem Wege und unter Vermeidung revolutionärer Gewalt, die Revolution auf halbem Wege stehen gelassen hat. Oder wie Karl Marx schon betont hat: Auf eine halbe Revolution folgt eine ganze Konterrevolution.“1

In diesem Artikel wollen wir folgende Fragen beantworten

Wo steht Chile fünfzig Jahre nach dem Putsch? Welche Entwicklung nahm Chile seit dem Tod des Faschisten Pinochet?

2019: Revolten, revolutionärer Aufschwung. 2020 stimmten die chilenischen Wähler:innen erst mit überwältigender Mehrheit für eine neue Verfassung. Die verfassunggebende Versammlung wurde im Mai 2021 direkt vom Volk gewählt. Es keimten große Hoffnungen für die Demokratisierung Chiles. Warum kam es anders als gehofft wurde?

Ringen um neue Verfassung endet mit bitterer Niederlage

Am 24. Oktober 1970 wurde Salvador Allende vom Parlament im Präsidentenamt bestätigt. Genau 40 Jahre später, am 25. Oktober 2020 fand in Chile die Abstimmung über eine neue Verfassung statt, die „die erste legitime und demokratische Verfassung“ Chiles nach Pinochet hätte sein können.

Was hat es mit dieser Verfassung auf sich?

Mit dem Referendum vom 5.Oktober 1988 wurde die Amtszeit Pinochets als Staatschef begrenzt. Ende 1989 fand eine freie Präsidentschaftswahl statt. Mit 55,2 Prozent der Stimmen wurde der Christdemokrat Patricio Aylwin von dem breiten Parteienbündnis „Concertación“ gewählt. Im März 1990 trat Aylwin das Präsidentenamt an. Pinochet nutzte die Zeit, um sein Wirtschaftsmodell zu sichern und seine Kumpane aus Industrie und Militär, sowie andere Faschist:innen in einflussreiche Positionen zu hieven und so seine Macht zu sichern.

Der Prozess der „Transition“,2 bezeichnet den Wandel des politischen Systems in Chile ab 1988, der die angebliche Rückkehr von der seit dem Putsch in Chile 1973 bestehenden Militärdiktatur unter einer von General Augusto Pinochet geführten Junta zurück zur Demokratie einleitete.

Die faschistische Verfassung wurde 1980, legitimiert durch eine pseudodemokratische Volksabstimmung, von der herrschenden Militärdiktatur Pinochets angenommen. Das Parteienbündnis Concertación, das bis 2010 alle Präsident:innen stellte, akzeptierte diese Junta-Verfassung.

Pinochet war Präsident bis 1990 und blieb bis 1998 Oberbefehlshaber des Heeres. Er wurde auf Grundlage der Verfassung Senator auf Lebenszeit, wodurch er auch politische Immunität genoss. 2006 starb er, selbstverständlich ohne angeklagt, geschweige denn verurteilt worden zu sein. Sein Erbe lebt bis heute fort: Die Verfassung von 1980 ist nach wie vor in Kraft.

Sie bildet die verfassungsmäßige Grundlage des neoliberalen Wirtschaftsmodells: Die Rolle des Staats wird minimiert und wirtschaftliche Interessen sind die ausschlaggebenden Faktoren.

Die sozialen und demokratischen Grundrechte sind völlig ausgehebelt. Zwar wurde 2005 eine Verfassungsreform vorgenommen, die 58 Stellen in dem Verfassungstext veränderte, um den Einfluss der Militärs auf die Politik zu begrenzen, aber es gab keine qualitativen Veränderungen. Militär und Polizei spielen in der Verfassung Chiles nach wie vor die erste Geige.

Dem Militär wird erheblicher Einfluss zugeschrieben. Der Nationale Sicherheitsrat besteht aus sieben Mitgliedern, darunter vier Oberbefehlshaber der Armee. Er hat weitreichende Kompetenzen und kann politische Ämter besetzen und in die Innenpolitik eingreifen.

In den Jahren 2019 und 2020 entwickelten sich in Chile starke Protestbewegungen gegen die schreienden sozialen Ungerechtigkeiten und die nach wie vor anhaltende massive militärische und polizeiliche Repression. Eine der zentralen Forderungen war, eine neue Verfassung auszuarbeiten.

Die massive Gewalt gegen die Protestierenden und Revoltierenden ist nicht zuletzt auf den Beschluss des Nationalen Sicherheitsrats zurückzuführen.

Ursachen und Protest

Das Regime unter Pinochet privatisierte 1980 das staatliche Rentenversicherungssystem und ersetzte es durch ein Kapitaldeckungsverfahren. Dazu wurden private Rentenfonds gegründet. Auch die Strom- und Wasserversorgung, das Bildungswesen und das Gesundheitssystem wurden privatisiert. KeineBildung – ohne Geld, keine Gesundheitsversorgung, für all dies müssen die Werktätigen in Chile selbst bezahlen. Die Lebenshaltungskosten sind fast so hoch wie in Deutschland – allerdings bei deutlich niedrigeren Löhnen: Das durchschnittliche Monatseinkommen liegt heute bei 610 Euro.

Die Miete für eine Zwei-Zimmer Wohnung außerhalb der Stadt kostet zwischen 273 und 600 Euro. Die Nebenkosten (Strom, Heizung, Klimaanlage, Wasser, Müll) für eine Wohnung mit 85 m² ca. 121,5 Euro. Eine einfache Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln kostet fast 80 Cent. Für den Weg zur Arbeit müssen die Werktätigen in Chile durchschnittlich 20 Prozent ihres Einkommens ausgeben. 3

Viele halten sich mit Krediten über Wasser: 80 Prozent der über 18jährigen Chilen:innen sind verschuldet. Zudem ist Chile der OECD-Staat mit der größten sozialen Ungleichheit: Auf das reichste einProzent entfallen 30Prozent des gesamten Nationaleinkommens. Auf die reichsten 0,01 Prozent der Bonzen (rund 500 Haushalte) über zehn Prozent.

50 Prozent der Chilen:innen arbeiten im Niedriglohnsektor und verdienen so wenig, dass sie eine durchschnittliche Familie nicht allein versorgen könnten ohne unter die Armutsgrenze zu rutschen. 4

Doch erstmal zurück zu den Protesten

Gegen die umfassende Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und die soziale Ungleichheit entwickelten sich seit der Transition immer wieder große, heftige und militante Proteste. Ja, auch Klassenkämpfe breiter Schichten der Werktätigen.

Die Schüler:innenproteste 2006 mit der Forderung nach einer Reform des Bildungssystems. 2011 entbrannten gemeinsame Bildungsproteste von Schüler:innen und Studierenden. Sie forderten: „Bildung soll kein Konsumgut, sondern ein soziales Recht sein. „

Oder die Bewegung „No Más AFP“ gegen die privaten Rentenfonds „Administradoras de Fondos de Pensiones“ und die Protestwelle gegen die Privatisierung des Wassers „Movimiento por el Agua y los Territorios“.

No Más AFP

Oder die Proteste und Aktionen der indigenen Mapuche gegen Chauvinismus, Rassismus und Landraub. 5

In breiten chauvinistisch-rassistischen Kreisen der Großbourgeoisie und der oberen Mittelschicht Chiles wird die Existenz des Mapuche-Volkes bis heute geleugnet. Bezeichnend ist der Ausspruch Pinochets: „Es gibt keine Ureinwohner, wir sind alle Chilenen.“

Konflikte um die natürlichen Ressourcen Wald und Wasser sind seit der Kolonialisierung der Mapuche auf der Tagesordnung. Stand 2021 waren über zwei Millionen Hektar – teils tausend Jahre alte – einzigartiger Araukarien- und Mischwälder von Holzkonzernen gerodet, verarbeitet und mit schnell wachsenden Eukalyptusbäumen und Kiefern bepflanzt worden. 2008 besetzten Aktivist:innen der Mapuche Farmen und setzten Lastwagen von Holzfällern in Brand. Dabei wurde ein 22-jähriger Aktivist von der Polizei getötet.

Als Reaktion steckten die Mapuche Bulldozer, Fahrzeuge, Lagerhäuser und Verwaltungsgebäude der Holzfirmen in Brand und errichteten Straßensperren. Immer wieder greifen Polizei und Militär brutal die Mapuche an. 2019 reichten Vertreter:innen der Mapuche beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) eine Petition ein, worin sie Chile und Argentinien Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorwarfen und den IStGH aufforderten, dagegen vorzugehen. Ergebnis- und Folgenlos.

Revolutionärer Herbst 2019

Im Herbst 2019 nahm das Ausmaß von Unterdrückung, Wirtschaftskrise und Ausbeutung eine solch brutale Dimension an, dass eine Revolte ausbrach. Der Funke auf dem heißen Stein waren Kostenerhöhungen im öffentlichen Dienst. In diesen massiven Widerstandsaktionen schlossen sich die Kämpfer:innen der vereinzelten Kämpfe der letzten Jahre zusammen.

Der gesamte Fahrbetrieb der Metro in Santiago, die täglich mehr als 2,6 Millionen Menschen transportiert, war wegen der Proteste eingestellt und sämtliche Stationen blieben geschlossen. Millionen Werktätige demonstrierten in den Straßen. Im ganzen Land brannten Barrikaden. Schnell ging es nicht mehr um einzelne Reformen, sondern um einen Systemwechsel: „Chile Despertó“ – „Chile ist aufgewacht“.

Noch in der Nacht der ersten Demonstrationen rief die Regierung den Ausnahmezustand in Santiago aus. In den darauffolgenden Tagen wurde er auf alle Regionen des Landes ausgeweitet und eine nächtliche Ausgangssperre für eine Woche verhängt. Die Regierung schickte im ganzen Land an die 10 000 Soldat:innen auf die Straßen, die mit Panzerwagen und Kriegswaffen durch die Städte patrouillierten.

Mittlerweile läuft ein Gerichtsverfahren gegen den damaligen Präsident Piñera und weitere hochrangige Staatsbeamt:innen wegen Verstößen gegen die Menschenrechte während der Proteste. Unter den Anklagepunkten sind Mord, Folter, sexualisierte Gewalt und illegale Festnahme von Demonstrierenden aufgeführt. 6

Die Geschichte gehört uns, es sind die Völker, die sie machen

Während der 2019er Revolte tauchten Bilder und Zitate von Salvador Allende auf. Im Unterschied zur Situation mit der Unidad Popular existierten aber weder politische Parteien noch Parteienbündnis,womit die Proteste angeführt wurden. Vor 50 Jahren führtendie Arbeiter:innenklasse und die arme Bauernschaft die Bewegung an. 2019 waren es vor allem Jugendliche und Student:innen, die nichts mehr zu verlieren hatten.

Während der Unidad Popular waren viele Arbeiter:­innen in Gewerkschaften organisiert, und diese verfügten über einen bedeutenden politischen Einfluss. Da die Gewerkschaften während der Militärdiktatur weitgehend zerschlagen wurden, spielten sie 2019 nur noch eine marginale Rolle. Aktuell gehören nur 22 Prozent der Arbeiter:innen einer Gewerkschaft an. 7

2020 arbeiteten 69,2 Prozent aller Erwerbstätigen im Dienstleistungsbereich, 22 Prozent in der Industrie und 8,8 Prozent in Land-, Forstwirtschaft und Fischerei.

Der Dienstleistungssektor erwirtschaftet 62,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Der Industriebereich 33,2 und der Bereich Land-, Forstwirtschaft und Fischerei 4,5 Prozent des BIP. 8

Die Gewerkschaften sind zwar marginalisiert, dafür sind soziale Massen-Organisationen stärker geworden, die sich gegen Ausbeutung und den Export von Rohstoffen zusammenschließen. Auch die indigenen Völker nehmen eine bedeutende Rolle bei den Protesten ein und nicht zuletzt – der erstarkende Feminismus, der Kampf um gleiche Rechte für Frauen und gegen Femizide.

Und auch der Klassenkampf der Arbeiter:innen und Werktätigen hat enorm an Kraft gewonnen: Im November 2019 rief der „Mesa de Unidad Social“ (Tisch der sozialen Einheit), ein Zusammenschluss aus über 70 Verbänden der Arbeiter:innen und sozialen Organisationen zu einem Generalstreik auf. Die Hafen- und Bergarbeiter:innen des größten Kupfer-Tagebaus Escondida kündigten einen nationalen unbefristeten Streik an.

Die Bergarbeiter:innengewerkschaft FTC schloss sich den Protesten an, das Kupferbergwerk Andina und die Schmelze Ventanas des staatlichen Konzerns Codelco mussten den Betrieb einstellen.

Wenige Tage nach den ersten Protesten schlossen sich die Revoltierenden in sogenanntenNachbarschaftsver­sammlungen, „Asambleas Territoriales“, zusammen. Dort entstand auch der Prozess für eine verfassungsgebende Versammlung. Im November schloss die Regierung mit einigen Oppositionspolitiker:innen den „Acuerdo por la Paz y una Nueva Constitución“, „Vertrag für den Frieden und eine neue Verfassung“.

Ein Volksentscheid wurde beschlossen, über die Frage, ob es eine neue Verfassung geben soll oder nicht. Ebenso darüber, wie der Konvent für diese zusammengesetzt sein solle: Ein Verfassungskonvent aus gewählten Bürger:innen oder eine Convención Mixta, also ein Gremium jeweils zur Hälfte aus gewählten Bürger:innen und Parlamentarier:innen zusammengesetzt.

Am 25. Oktober 2020, knapp ein Jahr später, fand eine erste Volksabstimmung statt. Die Wahlbeteiligung lag bei etwa 51Prozent. Eine überwältigende Mehrheit der Wähler:innen, die sich an der Wahl beteiligt haben, knapp 80Prozentstimmten für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Ebenso viele stimmten auch für eine verfassungsgebende Versammlung mit 155 vom Volk gewählten Personen. Lediglich 21 Prozent sprachen sich für eine Convención Mixta aus. 9

Im darauf folgenden Mai wurden die 155 Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung in einer Wahl mit einer Wahlbeteiligung von 43 Prozent gewählt. Es kam eine linke Mehrheit zustande. Der Konvent war paritätisch besetzt: 78 Männer und 77 Frauen. Elisa Loncón, eine Angehörige der indigenen Gruppe der Mapuche wurde Präsidentin. Das rechte Regierungsbündnis Vamos Por Chile erzielte 37 Sitze (ca. 24 Prozent), die zentrums-linke Fraktion Apruebo 25 Sitze (ca. 16 Prozent) und Apruebo Dignidad als Zusammenschluss von Mitte-Links-Parteien 28 Sitze (ca. 18 Prozent). Unabhängige Kandidat:innen erlangten insgesamt 48 Sitze (ca. 31 Prozent). 17 Sitze (ca. 11 Prozent) waren für indigene Vertreter:innen reserviert und wurden durch diese besetzt.

Ab Juli 2021 hatte die Versammlung neun Monate Zeit (plus drei Monate optionale Verlängerung), um einen neuen Verfassungstext auszuarbeiten. 10

Der legalistisch-parlamentarische Weg scheitert

Das Referendum fand am 4. September 2022 statt. Es gab Wahlpflicht. Dadurch kam eine große Wahlbeteiligung von 86 Prozent zustande.

62Prozent der Wähler:­innen lehnten klar den Entwurf der neuen Verfassung ab. Lediglich 37Prozent der Wähler:innen stimmten dafür. Nur in acht von 346 Gemeinden stimmte die Mehrheit der Bevölkerung für den Entwurf. Auch in der Hauptstadt Santiago kam keine Mehrheit für die neue Verfassung zustande. 11

Über die Gründe der Ablehnung wurde und wird viel spekuliert. Klar ist aber: Rechte, faschistische Parteien und Gruppen, die von Konzernen und Kapitalisten finanziert wurden, haben für die Ablehnung geworben. Mehr als 75 Politiker:innen, darunter mehrere aus der ehemaligen Concertacíon, hatten sich zu den Amarillos por Chile (die Gelben) zusammengeschlossen, um die Verabschiedung des Verfassungsentwurfs unbedingt zu verhindern.

Finanziert wurde ihre Kampagne hauptsächlich von Chiles Superreichen, der Großbourgeoisie. Die Propagandatrommel wurde gerührt: Die neue Verfassung sei von der „extremen Linken“ ausgearbeitet worden, würde die „Türen für eine kommunistische Diktatur“ öffnen, Häuser enteignen und Indigenen mehr Rechte geben als anderen Chilen:innen.

Mit dieser antikommunistischen Hetz-und Angstpropaganda haben die Herrschenden die Mehrheit des Wahlvolkes wieder auf ihre Seite ziehen können. Die „Linke“, die sich angesichts des Sieges bei der Wahl zum Verfassungskonvent und Meinungsumfragen sicher fühlte, musste feststellen, dass sie sich getäuscht hatte.

Bei dieser Selbsttäuschung spielte das Vergessen der Tatsache eine große Rolle, dass bei der Konventswahl weniger als die Hälfte der Wähler:innen zur Urne gingen.

Was nun?

Bisher gilt noch immer Pinochets Verfassung von 1980 mit minimalen Veränderungen. Im Dezember 2022 einigten sich die Parteien im Parlament mit großer Mehrheit auf einen neuen Verfassungsprozess, für eine „moderatere und realistischere Verfassung“. Dazu verabschiedete der Kongress einen Zwölf-Punkte-Rahmen als Grundlage für die neue Verfassung.

Fortschrittliche Artikel aus dem Verfassungsentwurf wurden gestrichen: Zum Beispiel, dass Chile ein plurinationaler und interkultureller Staat sei. Die Autonomie der Zentralbank, der Wahljustiz, des Rechnungshofes und der Staatsanwaltschaft wird nun garantiert. Anfang März wurde eine Expertenkommission durch den Kongress eingesetzt, die nach dreimonatigen Verhandlungen bereits einen ersten Verfassungstext vorschlagen soll.

Am 7. Mai 2023 fand die Wahl einer neuen verfassungsgebenden Versammlung mit 50 Sitzen statt. Sie wird den Verfassungsvorschlag der Experten überarbeiten. Die abschließende Version der verfassungsgebenden Versammlung soll dann im Dezember 2023 in einem weiteren Referendum vom Volk angenommen oder abgelehnt werden.

Insgesamt beteiligten sich 12,8 Millionen Menschen an den Wahlen im Mai 2023, das sind 84,4 Prozent der 15 Millionen wahlberechtigten Menschen. Allerdings machten allein die ungültigen Stimmen fast 17 Prozent aus, hinzu kamen Blankostimmen mit 4,5 Prozent.

Die rechte Republikanische Partei Chiles, die sich für die Beibehaltung der Verfassung von 1980 einsetzt, hat die Wahlen mit 35,42 Prozent deutlich gewonnen und wird somit für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung eine Führungsrolle einnehmen.

Die Republikaner:innen erhielten 23 Sitze, eine Zahl, die ihnen ein Vetorecht bei den Vorschlägen des Verfassungsrates verleiht. Der linke Block unter der Führung des chilenischen Präsidenten Gabriel Boric gewann 16 Sitze mit 28,57 Prozent und der Mitte-Rechts-Block 11 Sitze mit 21 Prozent. Der Mitte-Links-Pakt (Sozialdemokraten und Christdemokraten) gewann keine Sitze.

Die Ergebnisse zeigen ganz klar: die Verteilung der politischen Kräfte im Verfassungsrat sind diesmal diametral entgegengesetzt zum letzten Verfassungskonvent. Die rechten und konservativen Oppositionskräfte stellen eine zwei Drittel-Mehrheit in dem neuen Gremium.

Gabriel Boric – Neuer Präsident inmitten eines Verfassungsprozesses

Mit rund 56 Prozent der Stimmen gewann Gabriel Boric der Kandidat des linken Bündnisses „Apruebo Dignidad“, „Ich stimme der Würde zu“, am 19.Dezember 2021 die Stichwahl um die chilenische Präsidentschaft. Der Kandidat der rechten Koalition Frente Social Cristiano, der deutschstämmige José Antonio Kast, erhielt 44 Prozent. Kast ist erklärter Anhänger des Faschisten Pinochet.

Im März 2022 trat der bisher jüngste Präsident (35) des Kontinents sein Amt an – inmitten der Ausarbeitung der neuen Verfassung. Gabriel Boric und das Bündnis Apruebo Dignidad repräsentieren jene junge Studierenden, die 2011 die Bildungsproteste maßgeblich organisierten und die immer wieder die großen Massenproteste auf der Straße gegen Ungerechtigkeiten und Unterdrückung vorantrieben. Unter den unter 30-Jährigen wählten nahezu 70 Prozent Boric, die Mehrheit Frauen. Er wird von den Linken, den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen unterstützt. Aber auch ein breites Spektrum von Mitte-Links- und christdemokratischen Parteien hat für die Stichwahl zur Wahl von Gabriel Boric aufgerufen. 12

Die Wahl von Gabriel Boric stellt nicht nur einen Generationenwechsel dar: 14 der 24 Ministerien des von Boric ernannten Kabinetts wurde mit Frauen besetzt. Eine feministische Aktivistin im Frauenministerium, eine Klimawissenschaftlerin im Umweltministerium, eine Frau im Innenministerium, eine im Außenministerium und eine Frau im Verteidigungsministerium.

Seine erste Rede als designierter Präsident begann Boric in Mapudungun, der Sprache der indigenen Mapuche: Seine Regierung werde sich für die Rechte aller Menschen in Chile einsetzen, für die Rechte der Frauen und Queers, für mehr soziale Gerechtigkeit und eine öffentliche Daseinsvorsorge sowie für einen entschlossenen Kampf gegen den Klimawandel und seine Folgen für die Bevölkerung.

Also ein links-reformistisches Sozialprogramm. Boric will einen Sozialstaat aufbauen, er will ärmeren Schichten den Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung garantieren sowie die Situation der indigenen Bevölkerung verbessern. Die Einführung eines staatlichen Rentensystems und der Abbau der privaten Pensionsfonds soll forciert werden, reiche Personen und Konzerne, insbesondere im für Chile wichtigen Bergbausektor sollen künftig stärker besteuert werden. Das Budget für Kultur soll verdoppelt werden. Der Staat soll zudem Umweltschutz sowie den Zugang zu Wasser für alle Menschen garantieren.

In seinem Wahlprogramm stand die Wiedereinführung des Rechts auf Gesamtarbeitsverträge, die Stärkung der Gewerkschaften, die Einführung der 40-Stundenwoche und die Erhöhung des Mindestlohns.

Im April verabschiedete das chilenische Parlament die entsprechenden Gesetzesprojekte für die beiden letzten Versprechen. Doch um eine Mehrheit im Parlament zu erlangen, musste die Regierung Zugeständnisse gegenüber der rechten Opposition machen, und aufgrund der Inflation, die im letzten Jahr bei knapp 12 Prozent lag, fällt der Mindestlohn effektiv deutlich niedriger aus als versprochen.

Ein Gesetz für das Recht auf ein Leben ohne Gewalt soll im Frauenministerium erarbeitet werden. Weiteres Ziel ist die Integration von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Langfristig soll ein nationales Pflege- und Sorgesystem aufgebaut werden, um Frauen in der unbezahlten Care-Arbeit zu entlasten.

Um das alles umzusetzen, sind tiefgreifende Reformen im Wirtschaftsmodell Chiles notwendig. Doch das ist fast unmöglich.

Zum einen gilt immer noch mit unwesentlichen Veränderungen die Verfassung von Pinochet, die den Militärs und der Polizei uneingeschränkte Macht verleiht und die Wirtschaft und die politische Macht in den Händen der herrschenden Klassen, den Großkapitalisten, Bonzen, Großgrundbesitzern und Konzernen konzentriert.

Die Wirtschaft Chiles basiert momentan auf dem Export von Rohstoffen aus dem Bergbau sowie Agrar- und Forstwirtschaftsprodukten. Daran bereichern sich hauptsächlich Großkonzerne, die vermutlich mit Gewalt gegen grundlegende Reformen vorgehen werden.

Zum anderen verfügt Boric nicht über die notwendige parlamentarische Mehrheit, um diese Reformen im Alleingang zu realisieren. So stellt die Rechte seit März 2022 die Hälfte aller Senator:innen.

Im Abgeordnetenhaus erlangt das Parteienbündnis Chile Podemos aus rechten und rechtskonservativen Parteien mit rund 25 Prozent der Stimmen die meisten Sitze, gefolgt von Apruebo Dignidad mit ca. 21 Prozent.

Dem Mitte-Links-Bündnis Nuevo Pacto Social mit etwa 17 Prozent und dem faschistischen Bündnis Frente Social Cristiano mit rund 11 Prozent. 13

Darum wurden im Kabinett Borics auch Politiker:innen aus der ehemaligen Concertación aufgenommen, um Kompromisse auszuhandeln. Diese stehen jedoch mitnichten für einen Wandel.

In dieser vierjährigen Periode stellt das Wahlbündnis Apruebo Dignidad 23,8 Prozent der Abgeordneten. Eine gewisse Nähe als Grundlage für Kompromisse, parlamentarische Bündnisse oder gar Zusammenarbeit besteht am ehesten mit dem zentrumslinken Wahlbündnis Nuevo Pacto Social, mit der Dignidad Ahora und dem Partido Ecologista Verde.

Damit käme die Regierung auf eine absolute Mehrheit im Unterhaus. Jedoch ist diese brüchig.

Auf der anderen, rechts-konservativen bis faschistischen Seite kontrollieren die Parteienbündnisse Chile Podemos Más und Frente Social Cristiano jeweils 53 und 15 Mandate. Verschiedene Parteien die nicht zu einem der Blöcke gezählt werden können und Unabhängige nehmen die übrigen zwölf Sitze ein.

Außenpolitisch hat Chile mehr als 26 Freihandelsabkommen abgeschlossen. In vielen ist festgelegt, dass Konzerne den chilenischen Staat vor privaten Schiedsgerichten auf Entschädigungszahlungen in Milliardenhöhe verklagen können, wenn dieser durch politische Entscheidungen ihre Gewinne beeinträchtigt.

Mehr als ein Jahr Gabriel Boric

Die erste Niederlage erlitten Gabriel Boric und Apruebo Dignidad am 4. September 2022, als die neue Verfassung von einer deutlichen Mehrheit abgelehnt wurde. Der Präsident entließ mit der ersten Umbildung Minister:­innen.

Der erste Jahrestag der Amtszeit von Boric brachten Apruebo Dignidad eine zweite, große Niederlage ein. Mitte März lehnte die Abgeordnetenkammer die Steuerreform der Regierung ab. Mit den Zusatzeinnahmen in Höhe von zehn Milliarden Dollar wollte die Regierung wichtige Projekte im Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich sowie den ökologischen Umbau finanzieren.

Und Boric hat einige Wahlversprechen gebrochen: Er wollte die Polizei reformieren. Allerdings steigt die Gewaltkriminalität im Land massiv an. Einer Studie zufolge sind Kriminalität und Sicherheit die zentralen Themen, die große Teile der Bevölkerung in erster Linie umtreiben. Zwei Jahre zuvor waren Armut und soziale Ungleichheit auf Platz eins. Statt die Polizei zu reformieren, erhöht Boric nun ihr Budget. Gleichzeitig sollen Gefängnisplätze um zwölfProzent aufgestockt werden.

Beim Thema Migration zeigt sich der neue Präsident auch als Wendehals: Kurz vor dem ersten Jahrestag seiner Amtszeit verfügte er die Militarisierung der Nordgrenze zu Bolivien, über die jeden Tag bis zu 500 Migrant:innen ohne Papiere ins Land kommen.

Gleiches gilt für die Konflikte im Süden des Landes, auf dem Gebiet der indigenen Mapuche. Boric wollte die Region befrieden und den Dialog suchen. Stattdessen hat er dort mehr Militär stationiert und in mehreren Teilen den Ausnahmezustand ausgerufen.

Mit einer zweiten Umbildung zum Jahrestag hat Boric sein Kabinett noch mal deutlich älter und männlicher gestaltet. Der neue Außenminister ist nun ein älterer Mann.

Natürlich hat Boric auch bereits einige sozialdemokratische Reformen durchgesetzt: Die Einführung der 40-Stunden-Woche, die Aufstockung des Mindestlohns auf rund 584 Euro, die teilweise Streichung der Selbstbeteiligung für Behandlungen im öffentlichen Gesundheitswesen und die Abarbeitung der Warteliste für chirurgische Eingriffe.

Ferner ein Gesetz, das die Zahlung von Unterhaltsgeld wirksam erzwingt und die Einführung von Gebühren auf Erze und Mineralien zugunsten der Regionen.

Der Präsident erklärte in seiner Rede zum ersten Jahrestag seiner Amtszeit, dass für alle durch die verheerenden Waldbrände zerstörten Wohngebäude Notunterkünfte errichtet und diese komplett ans Trinkwassernetz und die Stromversorgung angebunden werden. Von den geplanten 260 000 Einheiten des Wohnungsbauprogramms seien 190 000 bereits übergeben, im Bau oder in Planung.

Der öffentliche Personennahverkehr soll vorrangig ausgebaut, stillgelegte Zugverbindungen sollen wieder in Betrieb genommen werden. Zwischen Santiago, Valparaíso und Concepción seien Schnellzugverbindungen in der Planung.

Zusammengefasst

Die massiven und zum Teil revolutionären Proteste Ende 2019 zeigten ganz offen: Das chilenische Wirtschaftsmodell hat ausgedient. Doch was war der chilenische Ausweg? Ein Parlament, das tiefgreifende Reformen blockiert, junge Minister:innen, die peu à peu abgesetzt werden und ein Präsident, der den „Dialog sucht“ und die Notwendigkeit des Dialogs mit allen – also auch den faschistischen – politischen Kräften unterstreicht.

Um es klar zu sagen, Boric kann nicht anders, als Kompromisse mit der rechten Opposition einzugehen, denn sie haben das Sagen und die Macht.

Boric Wahlsieg für die rosa-rote Linke in Lateinamerika

Nach den Wahlen von linksgerichteten und sozialdemokratischen Präsident:innen in Argentinien, Bolivien, Honduras, Mexiko, Peru, Chile, Kolumbien und Brasilien besteht in Lateinamerika die Hoffnung, dass die linksgerichteten und sozialdemokratischen Parteien in der Region weiter an Auftrieb gewinnen werden. Das bedeutet für die Arbeiter:innenklasse und für die Werktätigen zumindest einige kleine Verbesserungen.

In Peru fand im Dezember 2022 ein quasi- nicht militärischer Doppelputsch statt. Zum einen löste der gewählte sozialdemokratische Präsident Pedro Castillo den Kongress auf, um einem bereits dritten Amtsenthebungsverfahren gegen sich selbst zuvorzukommen und erklärte, zunächst per Notstandsdekret zu regieren.

Der von rechten Mehrheiten dominierte Kongress torpedierte fortlaufend seine Regierung. Die rechten Abgeordneten hatten Castillo vor sich her getrieben und nur auf den richtigen Moment gewartet, um ihn loszuwerden. Auf die Auflösung des Kongress durch Castillo folgte der Putsch gegen ihn. Castillos bisherige rechte Vize-Präsidentin Dina Boluarte stellte sich ebenso wie zahlreiche Minister:innen, Polizei und Militär gegen ihn und so setzte ihn das Parlament ab. Es gibt zahlreiche Proteste in Peru.

Eine der zentralen Forderungen der Demonstrierenden ist – wie in Chile – die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung.

Das gleiche Schicksal, wie Castillo, könnte auch Gabriel Boric ereilen, wenn er sich zu sehr mit der Macht, mit den Konzernen und der rechts-faschistischen Opposition anlegt.

Demos las americas

Chile und die Linke

Die Movimiento de Izquierda Revolucionaria, MIR (Bewegung der revolutionären Linken) war eine revolutionäre Organisation, und orientierte sich an dem Revolutionskonzept Che Guevaras. Sie trat dem Bündnis Unidad Popular unter Allende nicht bei, sondern hielt kritische Distanz und propagierte den revolutionären Sturz des Regimes.

Nach dem Putsch unter Pinochet wurde die MIR brutalst verfolgt und war eine der Hauptzielscheiben der Junta. Viele ihrer Mitglieder wurden ermordet, andere gingen in den Untergrund und kämpften weiter.

Im März 1986 spaltete sich die MIR in zwei Fraktionen. Eine Gruppe vertrat das Konzept der Avantgarde und Stadtguerilla und stellte den bewaffneten Kampf in den Vordergrund. Das bedeutet, die Gruppe verübt revolutionäre Anschläge, Aktionen und die Massen werden schon folgen. Die andere Gruppe stellte den revolutionären Kampf der Massen in den Vordergrund. In den folgenden Jahren verlor die MIR an Bedeutung.

Am 28. November 2020 bildete die MIR-EPG, (MIR-Ejército Guerrillero de los Pobres, etwa Guerilla-Armee der Armen) ein Wahlbündnis mit der Patriotischen Union (Unión Patriótica) und der Kommunistischen Partei (Proletarische Aktion), (Partido Comunista (Acción Proletaria)) für die Kommunalwahlen und die Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung im Jahr 2021. Anschließend kündigten sie ihre Unterstützung für die Kandidatur von Eduardo Artés, Präsident der Unión Patriótica und Generalsekretär der PC(AP), für die Präsidentschaftswahlen im November an. Er erreichte 1,47 Prozent.

Die MIR bezeichnet Chiles Präsidenten Gabriel Boric als klaren Vertreter der US-Interessen in der Region. In einem Interview mit Radio La Primerísima führte Demetrio Hernández Mandiola, Generalsekretär der MIR aus: „In der Tat sind sie so besorgt um ihr Image, dass sie eine Brille aufsetzen, die der von Salvador Allende sehr ähnlich ist, er steht wie Salvador Allende, er geht wie Salvador Allende, weil er die Linke an seiner Seite braucht, sonst wäre er einer mehr von denen, die bereits im rechten Lager sind“.

Die Gegnerschaft der MIR zu Boric und seiner Bewegung zeichnet sich ganz deutlich in ihrer Haltung zu Nicaragua, Kuba und Venezuela.

Er hat diese neue Regierung und den Präsidenten immer als eine linke Regierung und einen linken Präsidenten dargestellt, und das erste, was er tut, ist, die lateinamerikanische Linke anzugreifen, insbesondere Nicaragua, Kuba und Venezuela…“ 14

MIR Vertreter:innen feierten gemeinsam mit Daniel Ortega, Präsident Nicaraguas, den 44. Jahrestag des Sieges der Sandinistischen Volksrevolution in Nicaragua: „Wir umarmen das Volk von Nicaragua, Comandante Daniel Ortega und die Sandinistische Nationale Befreiungsfront – FSLN“. 15

Das zeigt eindeutig, wohin die ehemals revolutionäre Bewegung MIR heute läuft. Sie verteidigt heute Regime wie in Nicaragua oder Venezuela, die sich zwar nach wie vor als „demokratisch und sozialistisch“ ausgeben, aber autokratische, sozialfaschistische Regime geworden sind. Auch wenn der US-Imperialismus diese Regime weiterhin im Fokus hat, das macht sie weder demokratisch noch sozialistisch.

Die MIR propagierte, am 4. September GEGEN die Neue Verfassung zu stimmen.

Fazit

2003 haben wir in der Trotz alledem! bereits skizziert, dass der legalistisch-demokratisch-parlamentarisch-friedliche Weg von Salvador Allende, der 1973 in einer blutigen Militärdiktatur ertränkt wurde, grundlegend scheiterte. Der Putsch war eine klare Ansage der Herrschenden Chiles und der sie unterstützenden imperialistischen Großmächte und Bündnisse, wie die USA und Staaten der heutigen EU ganz vorneweg West-Deutschland.

So antworten Chiles Herrschende auf Widerstand, Aufstand und Revolution ihrer Völker. Auch heute nutzen sie jedes Mittel, um den Ansatz von Reformen, zu untergraben. Sie unterstützen rechte und faschistische Parteien, die die Macht über Staat und Apparat haben, um die werktätigen Massen zu blenden oder wahlweise zu unterdrücken. Ihnen ist jedes Mittel recht, um die Länder Lateinamerikas und überall auf der Welt unter ihrer neokolonialen Knute zu halten. Notfalls greifen sie zum Putsch.

Die Linke in Chile und die „Bewegungs“linke hinter Boric ist zudem tief gespalten. Zum einen in ihrer Haltung zu den sogenannten „sozialistischen“ Ländern wie Kuba und Nicaragua oder auch Venezuela. Zum anderen in der Frage zum Handel mit China oder den USA aber auch in ihrer Haltung zu Russland.

Trotz Alledem: In Chile hat sich ein radikal demokratischer Prozess entzündet. Ein tiefgreifender Wandel – keine Revolution – aber dennoch umfassende Reformen sowohl in politischer als auch in ökonomischer Hinsicht wären möglich, die auch über Chile hinaus strahlen könnten.

Die Proteste von 2019, die in eine revolutionäre Krise mündeten, sind allerdings erstmal vorerst erstickt und unterdrückt worden. Die erhoffte Verfassungsänderung ist „demokratisch“ abgeschmettert worden. Die Verfassung von Pinochet ist mit unwesentlichen kosmetischen Änderungen weiterhin gültig.

Eine revolutionär-volksdemokratische Verfassungsänderung wird niemals durch
Wahlen erreicht.

Nur durch Revolution!

Wenn Wahlen etwas grundlegend ändern würden, wären sie verboten.

September 2023

Der Verfassungsentwurf

Der neue Verfassungsentwurf legt eingangs fest, dass Chile ein sozialer, demokratischer und rechtsstaatlicher Staat ist: Plurinational, interkulturell, regional und ökologisch (Art. 1).

Der Staat muss die kollektiven Rechte der indigenen Gemeinschaften und die Autonomie „ihrer Länder, Territorien und Ressourcen“ (Art. 79) sichern – und damit der Ausbeutung natürlicher Ressourcen, die seit vielen Jahren auf indigenem Territorium stattfindet, klare Grenzen setzen.

In Bezug auf die Ausbeutung der Natur wird eine „ökologische Demokratie“ („democracia ambiental“) (Art. 154) angestrebt (Kap. 3), die auf der Anerkennung der grundlegenden „Rechte der Natur“ (Art. 127) beruht. Teil dieses demokratischen Ideals ist etwa ein „partizipatives und dezentralisiertes System der Wasserbewirtschaftung“ (Art. 143) sowie die staatliche Verfügungsgewalt über die Mineralgewinnung (Art. 145). Mit der Einführung einer Art dezentralisierter „Ombudsperson zur Verteidigung der Natur“ („Defensoría de la naturaleza“) wird ein Verfassungsorgan geschaffen, das den Schutz der Natur vor menschlicher Ausbeutung gewährleisten soll (Art. 148-150).

Im Hinblick auf die Ausbeutung von Menschen führt die Verfassung eine Regulierung von Arbeit ein, die auf die Begrenzung des Zwangs zur Produktivität ausgerichtet ist (Art. 46-50): Dazu gehört etwa das Recht auf „gleichberechtigte Arbeitsbedingungen, Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, Erholung, Freizeit (sowie) digitale Entkopplung“ (Art. 46, 1).

Darüber hinaus wird ein Schwerpunkt auf Gleichstellung (Art. 46, 2), Nichtdiskriminierung (Art. 46, 3) sowie auf den besonderen Schutz der reproduktiven Gesundheit von Arbeiter:innen gelegt (Art. 46, 5). Besonders erwähnenswert ist beim Verständnis von Arbeit die Anerkennung von Reproduktionsarbeit („Pflege- und Hausarbeit“) als „ökonomische Tätigkeit“, die „gesellschaftlich notwendig und unverzichtbar […] für den Erhalt des Lebens und die Entwicklung der Gesellschaft“ ist (Art. 49, 1). Daraus ergibt sich ein „Recht auf Sorge“, das heißt „das Recht, für andere zu sorgen, umsorgt oder gepflegt zu werden und für sich selbst zu sorgen von der Geburt bis zum Tod. Der Staat ist verpflichtet, die Mittel bereitzustellen, um zu gewährleisten, dass Sorge oder Pflege in Würde und unter den Bedingungen der Gleichheit und der Mitverantwortung realisiert werden kann.“ (Art. 50)

Zu diesem Schutz des eigenen Körpers sowohl vor kapitalistischer Ausbeutung als auch vor einem autoritären staatlichen Eingreifen gehört auch, dass „allen Frauen und gebärfähigen Personen die Bedingungen für eine Schwangerschaft, für einen freiwilligen Schwangerschaftsabbruch sowie für eine freiwillige und geschützte Geburt und Mutterschaft“ gewährleistet werden (Art. 61, 2).

Zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen in Chile zählen der Bergbau und die industrielle Landwirtschaft, die beide auf den Export ausgerichtet sind. Exportiert werden Lithium für Elektroautos und Kupfer, Lachs, Avocados, Wein und Zellulose. Eine zerstörerische Ökonomie: Der Lithium-Abbau verursacht Wasserknappheit in der Atacama-Wüste im Norden Chiles, die Lachszucht verunreinigt die Meere mit Antibiotika, der Avocado-Anbau führt zu Dürren und die Holzindustrie verstärkt Landkonflikte mit den indigenen Mapuche im Süden des Landes. Sie schaffen zudem nur wenige Arbeitsplätze und bereichern hauptsächlich Großkonzerne.

Führende imperialistische Mächte in Chile

In Lateinamerika hat die Großmacht China im Handel die USA längst aus ihrem ehemaligen „Hinterhof“ vertrieben.

2021 importierte Chile 29,8 Prozent aller Waren aus China und 17,4 aus den USA, gefolgt von Brasilien, Argentinien und Deutschland (3,2 Prozent).

Im selben Zeitraum exportierte das Land 38,6 Prozent nach China und 15,8 in die USA, gefolgt von Japan, Südkorea, Brasilien, Taiwan und Peru.

Bei den ausländischen Direktinvestitionen sieht es aber anders aus. Beim Bestand hält Kanada mit 13,7 Prozent den höchsten Anteil. Die USA mit 10,4Prozent auf Platz 2, gefolgt von den Niederlanden, Großbritannien, Spanien, Italien und Belgien. Ihre Investitionen betätigen sie im Bergbau 27,5 Prozent, Finanzdienstleistungen 15,4; Strom/Wasser/Gas 14,8; Handel 5,3 und verarbeitende Industrie 3,7 Prozent.

Für Deutschland ist Chile lediglich ein Rohstofflieferant.

Bei den Einfuhrgütern machen Rohstoffe ohne Brennstoff alleine 48 Prozent aus. Nahrungsmittel 30,3 Prozent, Nichteisenmetalle-Metalle 8,6 Prozent, Chemische Erzeugnisse 7 Prozent, Getränke und Tabak 3,8 Prozent.

Deutschland hingegen exportierte 19,4 Prozent Maschinen, 17 Prozent chemische Erzeugnisse, 15,3 Prozent Fahrzeuge, und 12,4 Prozent Autos und KFZ Teile. 16

Fonds für grünen Wasserstoff

Die Europäische Union hat beschlossen, bis 2030 jährlich 10 Millionen Tonnen grünen Wasserstoff zu importieren. Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen, reiste im Juni 2023 nach Chile mit dem Ziel, das Land, vor allem seine Rohstoffe nachhaltig und verstärkt auszuplündern.

11. September 1973 in Chile

Chile Zeittafel

Im südlichen Zentralchile werden menschliche Überreste gefunden, die von Wissenschaftler:innen auf über 14 800 Jahren datiert werden.

Vor rund 11 000 Jahren Besiedlung durch Atacameños und Chinchorros in den Tälern der Anden. Weiter südlich leben die Diaguitas und betreiben Viehzucht und Ackerbau.

Im 15. Jahrhundert siedeln die Inka bis zum Río Maule, rund 300 Kilometer südlich der heutigen Hauptstadt Santiago.

1520 umsegelt der Portugiese Ferdinand Magellan die südliche Spitze Lateinamerikas bis nach Chile. Er ist der erste Europäer – laut offizieller europäischer Geschichtsschreibung in Chile.

1540 durchquert Pedro de Valdivia die Atacama-Wüste und erreicht das Mapocho-Tal in Zentralchile. Die Kolonialisten bekämpfen die lokalen Stämme und gründen am 12. Februar 1541 Santiago del Nuevo Extremo (das heutige Santiago de Chile).

Die spanischen Kolonisatoren kontrollieren große Landstriche des heutigen Chiles. Sie zwingen die indigene Bevölkerung dazu, Gold und Silber abzubauen sowie Landwirtschaft und Viehzucht zu betreiben. Die südlichen Teile Chiles kann Spanien allerdings nicht kolonialisieren. Die Mapuche leisten Widerstand.

1818 können Unabhängigkeitskämpfer:innen mit der Schlacht von Maipú (15 Kilometer südwestlich von Santiago) den Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien gewinnen.

In den 1880er-Jahren siegt Chile im „Salpeterkrieg“ gegen Bolivien und Peru. Die Regierung Chiles besiegt die Mapuche und annektiert das südliche Gebiet.

1970 gewinnt Salvador Allende vom linken Bündnis Unidad Popular (UP) die Wahlen. Die UP erreicht lediglich 36,3 Prozent aller Stimmen, dennoch wird Allende Präsident, da die anderen Parteien keine Bündnisse eingehen. Im Senat behalten die Christdemokraten und die Nationalpartei jedoch die Mehrheit.

Die UP und Allende regieren in Chile für 1 000 Tage. Sie versuchen, auf friedlichem und demokratischen Weg zum Sozialismus zu gelangen.

Die UP 17 vertritt mit ihrer Politik der Verstaatlichung von Großindustrie und Bodenverteilung der Großgrundbesitzer:innen vor allem die Interessen der nationalen Bourgeoisie und des Kleinbürgertums gegen die Kompradoren, die Großgrundbesitzer:innen und die imperialistischen Großmächte, allen voran die USA.

Am 11. September 1973 putscht der damalige Innenminister Augusto Pinochet mit dem Militär gegen die Regierung.

In den Tagen nach dem Putsch verfolgt das Militär die Anhänger der UP und der revolutionären Kräfte, verhaftet und foltert Zehntausende. Im Nationalstadion der Hauptstadt werden Tausende von Häftlingen festgehalten und viele von ihnen an Ort und Stelle ermordet.

Der Nationale Geheimdienst (Dirección de Inteligencia Nacional, DINA) hält politische Gefangene in verschiedenen Teilen des Landes in Haft- und Folterzentren fest, eines davon ist die deutsche Gemeinde Colonia Dignidad.

Noch vor Ende des Jahres 1973 sind 80 Prozent der Reformen der Unidad Popular zurückgenommen. Bauern werden enteignet, Verstaatlichungen werden zurückgenommen. Die Preise steigen um durchschnittlich 600 Prozent. Demokratische Rechte sind faktisch aufgehoben. Wahlen gibt es nicht mehr; die Parteien sind verboten und das Parlament ist aufgelöst.

Hunderttausende sind in Polizeigewahrsam, verschleppt oder sitzen in Konzentrationslagern.

Ungefähr 35 000 Menschen werden in den 17 Jahren der Diktatur gefoltert. Weitere 3 000 Personen gelten als vermisst. Sie werden als Desaparecidos (die Verschwundenen) bezeichnet. Angehörige wissen teilweise bis heute nicht, was mit ihnen passiert ist.

Ende 1989 findet die erste freie Präsidentschaftswahl nach Pinochet statt. Der Christdemokrat Patricio Aylwin vom breiten Parteienbündnis „Concertación“ wird gewählt.

1 Trotz alledem! Nr. 29, September 2003, S. 3

2 Transition, spanisch transición, „Übergang“

3 de.numbeo.com/lebenshaltungskosten/land/Chile?display Currency=EUR, Juli 2023

4 oecdbetterlifeindex.org/de/countries/chile-de/

5 Die Mapuche sind ein indigenes Volk Südamerikas. Ihr angestammtes Gebiet erstreckt sich auf die Staaten Chile, Argentinien und Patagonien.

6 Das staatliche Institut für Menschenrechte (INDH) dokumentiert 26 Morde und versuchte Morde, 347 Fälle von Teilverlust der Sehkraft oder Erblindung, 568 Fälle von unmenschlicher Behandlung oder Folter und 809 sexuelle Übergriffe. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun, ob Piñera die „Handlungen der Ordnungskräfte angeordnet, billigend in Kauf genommen bzw. nicht wirksam verhindert“ hat. Was wirklich zynisch ist. Denn Piñera hatte den Protestierenden am 21. Oktober 2019 den Krieg erklärt, als er vor laufenden Kameras äußerte: „Wir sind im Krieg gegen einen mächtigen Feind.“ Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat bereits einen Antrag des Anklägers von Diktator Augusto Pinochet, Baltasar Garzón, auf Vorermittlungen gegen Piñera wegen Menschenrechtsverletzungen abgelehnt. Was genau der Haltung der imperialistischen Welt gegenüber dem Leidensweg des chilenischen Volkes entspricht, die sie seit Jahrzehnten einnimmt.

7 ver.di publik 4, 2023, S. 6

8 Statistisches Länderprofil, Statistisches Bundesamt, Ausgabe 06/2023, destatis.de/DE/Themen/Laender-Regionen/Internationales/Laenderprofile/chile.pdf?__blob=publicationFile

9 amerika21.de/2020/10/244769/chile-neue-verfassung, 27.10.2020

10 blog.prif.org/2021/10/21/auf-kurs-in-unsicherem-fahrwasser-der-verfassungsprozess-in-chile/, Oktober 202

11 jungle.world/artikel/2022/37/die-grosse-enttaeuschung, 15.09.2022Zahlen über Wahlbeteiligung, siehe https://dgap.org/de/forschung/publikationen/verfassungsreferendum-chile-gescheitert

12 Gabriel Boric war 2009 Vorsitzender des Verbandes der Jurastudent:innen. Drei Jahre später wurde er Sprecher der Studentenföderation FECH, anschließend Vorstand der Konföderation CONFECH. Bei der Parlamentswahl im Jahr 2013 errang er als unabhängiger Kandidat ein Abgeordnetenmandat für die Region Feuerland. Er gründete die sogenannte Autonomistische Bewegung, die 2017 mit zehn weiteren Gruppen, unter dem Namen Frente Amplio (FA/Breite Front) kandidierte. Das Bündnis Apruebo Dignidad ist ein Zusammenschluss aus der Frente Amplio und der Kommunistischen Partei.

13 bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/343654/boric-gewinnt-praesidentschaftswahl-in-chile/ 21. Dezember 2021

14 radiolaprimerisima.com/gabriel-boric-peon-del-imperialismo-en-america-latina/, 26.07.2023

15 facebook.com/MIRdeChile/, 19.07.2023

16 gtai.de/de/trade/chile/wirtschaftsumfeld/wirtschaftsdaten-kompakt-chile-156714, November 2022

17 Die Unidad Popular (UP) war ein Bündnis aus sechs Parteien. Die revisionistische „Kommunistische Partei“, die stark unter dem Einfluss der sozialimperialistischen Sowjetunion stand, die „Sozialistische Partei“, deren Vorsitzender Salvador Allende war und die jede Form von Gewalt ablehnte, die „Radikale Partei“, die „Bewegung der Einheitlichen Volksunion“ (MAPU), die „Unabhängige Volksaktion“ (APl) und die „Sozialdemokratische Partei“ 1971 schloss sich die „Christliche Linke“ (IC) an.