Korrespondenz aus Frankreich
Vorweg: Französisch reden und kämpfen ist angesagt?! Die Bewegung der Gilets jaunes ist ein Ausbruch von Wut, Frust und Verzweiflung. Steigende Preise, unbezahlbare Mieten, niedrige Löhne … um nur einige Auslöser zu nennen. Wie ist die Bewegung einzuschätzen? Was sind die Hintergründe? Gegen welche Politik der Macron-Regierung richtet sie sich? Welche politischen Kräfte setzen sich an die Spitze des Protests? Der Artikel aus Frankreich bietet erhellende Einsichten und Analysen über den Zustand der Klassenkämpfe in Frankreich. Digital auf der Webseite der Zeitschrift „Proletarischen Revolution“, Österreich zu finden.
Nach mehr als einem Monat anhaltender Blockaden von Strassen und anderen für den Verkehr neuralgischen Punkten (z.B. Treibstofflagern) sowie vier großen Mobilisierungen an aufeinanderfolgenden Samstagen seit dem 17. November 2018, an denen sich jeweils Hunderttausende (am 27. November sogar deutlich mehr als die von den Medien genannten 300.000) beteiligten, war die Staatsmacht in Bedrängnis und unter Zugzwang geraten. Die Bewegung der „Gilets Jaunes“ 1 hatte eine beträchtliche Stärke und Breite entwickelt, zwar nicht wie dort oder da im Ausland kolportiert „wie seit 1968 nicht“. Aber immerhin wie seit den Kämpfen gegen die „Rentenreform“ 2010 oder denen gegen die „Reform des Arbeitsrechts“ 2016 nicht mehr. Es war bereits zu beträchtlichen Verkehrstörungen und Versorgungsengpässen mit Treibstoff in einigen Landesteilen gekommen.
Gegen die vierte Samstagdemonstration vom 8. Dezember musste der Staatsapparat 90.000 Mann an Polizei, Sonderpolizei (die berüchtigten CRS) und Gendarmerie 2 aufbieten, darunter (…), 11 Schützenpanzer (u.a. zum Niederreissen von Barrikaden), Wasserwerfer, Hubschrauber etc. in Paris. 2.000 Demonstranten wurden an diesem einen Tag festgenommen (darunter 1.082 in Paris). 1.700 von ihnen wurden in Polizeigewahrsam überführt. Viele dieser Festnahmen hatten „präventiven“ Charakter – es wurde Ausnahmezustand gespielt, ohne diesen formell verhängt zu haben. 3 Alle Abwiegelungs- und Spaltungsmanöver der Regierung, für die Macron seinen Premierminister Philippe vorgeschickt hatte, während er selbst sich im Hintergrund hielt, waren kläglich gescheitert. Risse im gesamten politischen Parteienspektrum, auch in der Partei Macrons selbst, der LREM („La République en Marche“) waren aufgetreten. 80 Prozent und zeitweise mehr aller Franzosen unterstützten die Bewegung, darunter sogar 54 Prozent derer, die vor eineinhalb Jahren den „Hoffnungsträger“ Macron gewählt hatten. Der Staatsapparat konnte nicht einfach so weitermachen wie bisher. In dieser Situation hielt Macron am 10. Dezember eine Rede im Fernsehen.
Gewalt und Gegengewalt
Im ganzen ersten Teil seiner Rede hetzte er wie üblich gegen die „Gewalt“: gegen die banale Gewalt von „Randalierern“ und Einbrechern, also gewöhnlichen „Kriminellen“ (das darf natürlich nie fehlen). Vor allem aber gegen die „Gewalt der Strasse“, den „Pöbel“, die „Schänder der Republik“, ihrer „Symbole“ usw. Kurzum: gegen politische Gewalt gegen die Staatsmacht.
Die Regierung lasse sich nichts „von der Strasse diktieren“ usw. Dass es bei solch schweren Auseinandersetzungen zwischen Volksmassen und der Staatsmacht auch zu Gewaltanwendung kommt, ist nicht überraschend. Da ist zuerst einmal Gewaltanwendung der Staatsmacht gegen die Demonstranten. Das Vorgehen des staatlichen Gewaltapparats war allerdings diesmal außergewöhnlich aggressiv und gewalttätig. Hunderte Verletzte, wovon 179 in Spitäler gebracht werden mussten, einige liegen im Koma, einige sind gestorben (in Marseille erstickte eine alte Dame in ihrer Wohnung im 4. Stock in einer Wolke von Tränengas).
Dann ist auf der anderen Seite die vollständig berechtigte Gewaltanwendung der Demonstranten, um ausdrückliche (wie am 24. November) oder faktische (wie am 1. Dezember.) Demonstrationsverbote zu durchbrechen und sich Zugang zu den Champs Elysées zu verschaffen. Oder auch nur um sich zu schützen und zu wehren. Am 1. Dezember hatte die Polizei alle Zugänge zu den Champs Elysées gesperrt und perlustrierte (untersuchten) jeden (incl. Ausweiskontrolle und Durchsuchung), der sie über den einzigen offenen Zugang betreten wollte. Das ließen sich die Manifestanten natürlich nicht gefallen.
Sie reihten sich natürlich nicht in kilometerlange Warteschlangen ein, um sich dort filzen zu lassen, sondern durchbrachen in breiter Front die Polizeisperren trotz einem „Meer von Tränengas, in dem die Champs Elysées versinken“ (Le Monde). Dazu kamen einige zertrümmerte Schaufenster von Luxusläden in der Pariser „Prachtstrasse“, einige angezündete Autos usw., einiges davon sicher auch von Demonstranten veranstaltet, die ihrem Zorn freien Lauf ließen.
Aber das meiste ziemlich offensichtlich von agents provocateurs und für das Staatsfernsehen inszeniert, das prompt immer zur rechten Zeit an der rechten Stelle war und einem stundenlang immer dieselben Szenen vorführte – von denen manche dermaßen gestellt erschienen, dass es sogar für diese Sorte von „Berichterstattung“ schon richtig peinlich war.
Dabei ist so etwas bei einer solchen „insurrection“ (Aufstand) unvermeidlich. Sogar ein Mélenchon 4, Chef der reformistischen Partei „La France Insoumise“ 5), brachte das schön auf den Punkt: „Wenn man lange genug auf dem französischen Volk herumtrampelt, dann erhebt es sich eben, und das hinterlässt Spuren.“
Forderungen der Bewegung und Ankündigungen der Regierung
Dann ging es in der Rede Macrons weiter mit der Ankündigung neuer, weiter als bisher gehender Konzessionen, gedacht als Abwiegelungs- und Spaltungsmanöver, aber immerhin doch „Zusagen“, einige der Maßnahmen, die den Aufruhr ausgelöst hatten, zurücknehmen. Nicht ohne allerdings im nächsten Atemzug die unbeirrte Fortsetzung seiner Politik ein x-tes Mal zu bekräftigen.
Was die für 1. Januar 2019 beschlossene Erhöhung der Treibstoffsteuer auf Diesel betrifft, war bereits zuvor angekündigt worden, sie für sechs Monate auszusetzen – die Bewegung verlangt jedoch die Annullierung der Erhöhung, nicht nur deren Verschiebung. Dazu muss man wissen, dass Frankreich bereits die sechsthöchsten Treibstoffpreise der EU 6 und mit 64 Prozent den höchsten Steueranteil an diesem Preis hat.
Der Liter Treibstoff kostet um etwa 30 Cents mehr als in Österreich und mit Jahresbeginn 2019 sollte der Dieselpreis um weitere 15 Cents auf das Preisniveau von Benzin angehoben werden. Die Dieselquote liegt in Frankreich bei 80 Prozent, denn Dieselautos wurden massiv gefördert, insbesondere seit z.B. Renault in den 1990er Jahren mit neuen Katalysatoren einen Konkurrenzvorsprung hatte und sein Diesel auch zum Exportschlager wurde.
Die zusätzliche Dieselsteuer wurde verlogen als „Öko-Steuer“ verkauft. Von derselben Regierung, die z.B. Renault erlaubt, heute noch viel größere Dreckschleudern auf den Markt zu bringen als beispielsweise Volkswagen, und der es gelungen ist, dass sich in Frankreich kaum jemand etwas unter „Dieselskandal“ vorstellen kann.
Die einen Kapitalismus politisch verwaltet, der die ArbeiterInnen aus den Zentren in die Peripherien der Städte vertreibt, zu ständiger Delokalisierung der Arbeitsplätze führt, die staatliche Verkehrsinfrastruktur ruiniert und so die ArbeiterInnen zu langen Wegen zwischen Wohnort und Arbeitsplatz zwingt, die nur per Auto zu bewältigen sind.
Ebenfalls sollten rechtzeitig mit Einbruch des Winters ab Jahresbeginn die Strompreise und die in ihnen enthaltene Steuerquote massiv erhöht werden. EDF hatte für 2019 eine Erhöhung der Strompreise um 11,4Prozent und anschließend eine weitere jährliche Erhöhung um jeweils 3,5 Prozent pro Jahr bis 2023 gefordert, um die „notwendigen Investitionen finanzieren zu können“.
Dazu muss man wissen, dass die allermeisten Franzosen mit Strom heizen, nachdem man ihnen das über Jahrzehnte mit den angeblich wegen der Atomenergie günstigen Preisen aufs Auge gedrückt hatte, um anschließend diese kontinuierlich zu erhöhen, um die Atomindustrie zu subventionieren und die internationale Konkurrenzfähigkeit zu stärken.
Auch diese geplante Strompreiserhöhung war bereits vorher zurückgenommen worden. Die EDF verlangt jetzt konsequenterweise Subventionen der Regierung zur Kompensation dieses Ausfalls bereits genehmigter Einnahmen – die Regierung hat dafür, wie es heißt, schon sehr kreative Ideen.
Neu in der Rede Macrons waren die Ankündigung eine stärkeren Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns SMIC als geplant und die der Rücknahme des 2018 erfolgten Schubs bei der Belastung der Pensionen mit Sozialversicherungsabzügen. Diese beiden Fragen sind die wichtigsten in der Vorgeschichte der jetzigen Bewegung – die Erhöhung der Diesel- und Strompreise waren dann sozusagen „nur“ der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Der SMIC ist ein gesetzlicher Mindestlohn und gilt flächendeckend für alle Arbeitsverhältnisse. 2,9 Millionen Menschen oder 12,4 Prozent der Lohnarbeiter beziehen den SMIC. 80 Prozent der „smicards“ sind Frauen. Der SMIC liegt 2018 bei 1.498,47 Euro bzw. – bei Annahme der dem Papier nach noch bestehenden 35-Stunden-Woche – bei 9,88 Euro pro Stunde. Davon gehen allerdings Sozialabgaben und mehr noch Steuern ab, sodass sich ein Netto von 1.185 Euro ergibt.
Der SMIC erhöht sich jährlich nach einer zwielichtigen Formel, die aber doch verspricht, in etwa die Inflation zu kompensieren. So wurde er für 2018 um 1,24 Prozent erhöht – aber die Inflationsrate lag in diesem Jahr stets über 2, im November 2018 bei 2,2 Prozent.
Das ganze Jahr hindurch brodelte es deshalb bereits in und außerhalb der Gewerkschaften und wurde eine deutliche Erhöhung des SMIC gefordert. 7 Als daher vor einigen Wochen eine Erhöhung des SMIC per 1. Januar 2019 um nur 1,8Prozent angekündigt wurde, erhob sich ein Proteststurm, der von der Regierung harsch abgeschmettert wurde. Die Frage des SMIC war neben den indirekten Steuern eine der Hauptforderungen der Bewegung.
Jetzt kündigte Macron doch eine außertourliche Erhöhung des SMIC um 100 Euro an – „ohne dass dies die Arbeitgeber auch nur einen Cent kosten wird“. Wie das? Weil es gar keine Erhöhung des SMIC ist, sondern ein staatlicher Zuschuss („prime d’activité“), der sowieso in fünf Etappen jährlich um 20 Euro erhöht werden sollte und jetzt halt vorgezogen in einem Aufwaschen. Woher kommt das Geld? Aus dem Staatsbudget für „Soziales“, es wird also an anderer Stelle des Sozialsystems fehlen. Daher war die Antwort der Bewegung darauf: „Diese ‚Erhöhung‘ des SMIC zahlen die Arbeitslosen.“ Zudem kriegt sie, eben weil es keine Erhöhung des SMIC, sondern Sozialhilfe ist, nicht jeder, sie hängt auch vom Familieneinkommen insgesamt ab, und man kriegt sie nur auf Antrag.
Die Bewegung lehnt diese angebliche Erhöhung des SMIC daher ab. Einige Gewerkschaften fordern eine Erhöhung des SMIC auf 1.800 Euro, einige auch seine gänzliche steuerliche Entlastung.
Einen Sturm der Entrüstung gab es auch bereits das ganze Jahr über, weil 2018 die CSG („Contribution Sociale Généralisée“ (Allgemeiner Sozialbeitrag”), ein Pendant der österreichischen Sozialversicherungsbeiträge, drastisch erhöht wurde, nämlich von 8,2 auf 9,2Prozent.8
Noch drastischer allerdings fiel die Erhöhung der CSG auf Renten aus: von 6,6 auf 8,2 Prozent. Die Bewegung forderte daher unmittelbar die Rücknahme der 2018er Erhöhung, aber darüber hinaus generell die Befreiung niedriger Renten von der CSG. Jetzt kündigte Macron an, man würde für Renten bis 2.000 Euro ab 2019 die Erhöhung aus 2018 aussetzen. Die Bewegung weist das zurück und besteht auf ihren Forderungen. Eine weitere Ankündigung Macrons ist die Steuer- und Abgabenbefreiung der Überstundenzuschläge. Das ist ein alter Plan Sarkozys, teilweise auch umgesetzt, um einen zusätzlichen Anreiz zur Verlängerung der Arbeitszeit zu schaffen („Travailler plus, pour gagner plus!“ = „Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen!“). Bereits damals war allen denkenden Menschen die Zweischneidigkeit dieser Maßnahme klar: Verlängerung der Arbeitszeit und Verkürzung der zukünftigen Renten, Abfertigungen (Abfindungen) etc.
Die letzte Ankündigung Macrons ist eine echte Chuzpe. Er forderte die Kapitalisten auf, sie mögen heuer freiwillig anlässlich Weihnachten eine Sonderzahlung leisten und zwar „alle Arbeitgeber, wenn sie können“. Die Kapitalistenverbände haben postwendend erklärt, das sei eine noble Geste, aber abgesehen von möglichen Ausnahmen könnten sie leider nicht.
Eine weitere Forderung der Bewegung ist die Rückgängigmachung der Abschaffung der Vermögenssteuer durch das Macron-Regime vor einem Jahr 9 Dies lehnte Macron brüsk ab, war das doch eines seiner Vorzeigeprojekte für mehr Modernität, mehr Dynamik und mehr Liberalismus. Ebenfalls wurde gefordert, die Taxe d’habitation („Wohnsteuer“) tatsächlich abzuschaffen – im Wahlprogramm versprochen, aber sofort nach der Wahl gleich einmal um drei Jahre hinausgeschoben.
Auch gegen die 10 Prozentige Steigerung bei der Grundsteuer wird protestiert.
Die Hauptbotschaft aber, die Macron und sein Premierminister ohne Unterlass in geradezu penetranter Weise trommelten und trommeln, auch bei dieser Rede, war: man habe die Anliegen der Bewegung gehört und ihre Sorgen verstanden, der Präsident würde aber die Generallinie seiner Reformpolitik entschieden beibehalten („tenir le cap“ = den Kurs halten) und seine Politik unbeirrt fortsetzen. Ein „gilet jaune“ meinte dazu im Fernsehen: „Er geht einen Schritt zurück, um dann neuerlich zu springen.“
Kein Wunder daher, dass Macrons Rede nicht geeignet war, die Bewegung zu unterminieren. Sie hielt daher auch für die Bourgeoisie nicht, was sie versprach. Schlechtes Echo in den Medien, kritische Reaktionen der Oppositionsparteien, Lamentieren der Gewerkschaftsbonzen, man müsse sie jetzt endlich „an Bord holen“, waren die Folge. Es herrscht Sorge, so könne man „das Problem nicht lösen“.
Eine lange
politische Vorgeschichte …
Um den unerwarteten Ausbruch des „Volkszorns“ zu verstehen, muss man sich die Vorgeschichte vor Augen führen. 2012 waren die vorletzten Wahlen gewesen. Der „Republikaner“ Sarkozy war zum Inbegriff der Arbeiter- und Volksfeindlichkeit geworden. Rollende Angriffe gegen Arbeits- und Sozialrecht, wilder Ausbau des Polizeistaates, Rassismus bis zum Erbrechen, in großen Teilen der Bevölkerung extrem verhasst. „Tout sauf Sarkozy“ war damals die Parole: Alles, nur nicht Sarkozy. Der Wunsch ging in Erfüllung und es kam der Sozialdemokrat Hollande. Binnen weniger nicht Wochen, sondern Tage waren nahezu alle Wahlversprechen gebrochen.
Neuerlich rollende Angriffe gegen das Arbeits- und Sozialrecht, ein noch wilderer Ausbau des Polizeistaates, eine noch rassistischere „Ausländerpolitik“, mehr als doppelt so viele Abschiebungen von „Zigeunern“ als unter Sarkozy, eine noch üblere imperialistische Außenpolitik usw. Am Ende hatte Hollande nur mehr Zustimmungswerte von 15 Prozent. „Tout sauf Hollande!“ wäre jetzt die angemessene Parole gewesen. Aber wen dann wählen?
Jetzt trat Macron aus der Hollande-Regierung aus und fabrizierte seine neue „Bewegung“, „weder rechts noch links“, aber ungeniert viele altgediente Lemuren aus beiden „alten“ Parteien rekrutierend, dazu ein Heer „dynamischer“, „junger“, eingebildeter „Bewegter“. Der „gemeinsame Sohn von Sarkozy und Hollande“, wie es bald hieß. Ultraneoliberaler, Mann der Rothschild-Bank, Bewunderer von Tony Blair, von Hollande irgendwann in die Regierung geholt, bald genauso verhasst wie dieser.
Er machte nie ein Hehl aus seiner nur auf Maximalprofit des Finanzkapitals bedachten Einstellung und beabsichtigten Politik. Aber mit der Gründung der neuen „Bewegung“ schien das alles momentan vergessen.
Jung-dynamische Schaumschlägerei und ein abstoßender imperialer Personenkult um diesen Schnösel schienen zu genügen, um bei vielen den frech und offen ausgesprochenen politischen Inhalt dieser „Bewegung“ vergessen zu machen. Vor allem aber, das darf man nicht vergessen, stand er wegen der akuten Krise der „Republikaner“ (Korruptionsskandale brachten den Spitzenkandidaten Fillon kurz vor der Wahl zu Fall) und dem Fiasko der „Sozialisten“ bei der Stichwahl im Zuge der Präsidentschaftswahlen der Le Pen vom ultrareaktionären Front National gegenüber. Macron oder Le Pen? So stand die Frage (sofern man nicht die Frage selbst in Frage stellt, was viele in der Praxis ja taten, indem sie nicht wählen gingen).
Die Präsidentschaftswahlen endeten mit einem Sieg Macrons: 66,1 Prozent der gültigen Stimmen – aber bei einer Wahlbeteiligung von nur 59 Prozent. Also satte 39 Prozent der Wahlberechtigten. Hollande war gar nicht in die Stichwahl gekommen. Es folgten die Parlamentswahlen.
Die Wahlbeteiligung sank auf 34,2Prozent (!). Nur 18,2 von 53,2 Millionen Wahlberechtigten gaben eine gültige Stimme ab. Die Wahlen endeten mit einer krachenden Niederlage der Sozialdemokratie, die regelrecht weggefegt wurde: 1 von 53,2 Millionen Wahlberechtigten, d.h. gerade einmal 1,9 Prozent.
Macrons LREM10erreichte 7,8 Millionen Stimmen, das sind 43,1 Prozent der gültigen Stimmen, aber nur 14,8 Prozent der Wahlberechtigten. Dies zur Relativierung des Hype von wegen „Erdrutschsieg“ und „deutlicher Mehrheit“.10 Allerdings wurde daraus mittels der Wahlarithmetik eine deutliche Mehrheit im Parlament11.
Kaum waren der Bursche und seine flott aus „Republikanern“ (die Sarkozy-Partei) und „Sozialisten“ (die Hollande-Partei) zusammengezimmerte LREM an der Regierung, waren alle Wahlversprechen vergessen, übrig blieb ein blanker und unverhüllter Ultraneoliberalismus.
Wie bei Hollande dauerte es auch bei Macron nur kurze Zeit, bis die arbeiter- und volksfeindliche Fratze für alle deutlich sichtbar hervortrat. Obwohl erst eineinhalb Jahre seit den Wahlen vergangen sind, ist dieses Regime – wie seinerzeit Hollande – wieder bei ähnlichen „Beliebtheits“werten angelangt. „Tout sauf Macron“ wäre eine Parole, die die Lage gut widerspiegelte. So schließt sich der Kreis.
Eine reaktionäre, ultraneoliberale, arbeiter- und volksfeindliche, polizeistaatliche, ausländerfeindliche, imperialistische und neokoloniale Regierung folgt auf die andere: Sarkozy – Hollande – Macron. „Tous pourris“ ist ein geflügeltes Wort geworden (etwa: „ Sie sind alle verrottet“). Wie zum Hohn auf des Wählervolk und zur Bestätigung dieses Slogans traf Macron am 11. Dezember im Elysée-Palast 12 mit Sarkozy zu einem Gespräch zusammen, um sich mit ihm, dem erfahrenen Fuchs zu beraten, wie mit der aktuellen „Krise“ umzugehen sei und was letzterer von den von ihm verkündeten Maßnahmen hielte. Ist der Mann so politisch dumm oder nur Opfer seiner selbstherrlichen Präsidialallüren?
… und der soziale und klassenkämpferische Background
Wichtiger noch als die Entwicklung auf der politischen Ebene sind der soziale Hintergrund der Bewegung und die Entwicklung der Klassenkämpfe. Die rollenden Angriffe gegen Arbeiterklasse und Volk wurden in den letzten Jahren immer wieder mit großen Manifestationen und Streiks, selbstständigen und von den Gewerkschaften organisierten, beantwortet. Die bedeutendsten waren die mehr als ein Jahr anhaltenden Kämpfe 2016 gegen die Reform des Arbeitsrechts, das sogennannte „Loi El-Khomri“ 13.
Sie endeten mit einer Niederlage, aber da das Hollande-Regime schlussendlich doch nicht wagte, alles was und wie es geplant war, durchzusetzen, blieb ein Rest Macron vorbehalten, der direkt an dieser Reform anknüpfte und sie perfektionierte (allerdings die verhasste Frau El-Khomri trotz deren Bewerbung doch lieber nicht in sein Team aufnahm).
Ein weiterer wichtiger Klassenkampf war der der Eisenbahner, die sich seit April 2018 über Monate hin mit Wellen gestaffelter Streiks gegen den Generalangriff auf ihre Rechte wehrten. Leider ebenfalls erfolglos, nicht zuletzt wegen der feigen Taktiererei der Gewerkschaftsbonzen.
Über die Jahre hin und seit Macron nochmals verstärkt hatte sich Sprengstoff angesammelt. Die steuerlichen Plünderungsmaßnahmen zum Jahresende brachten das Fass zum Überlaufen. Daraus erklärt sich auch, warum das Steuersystem im Vordergrund steht – ohne aber die anderen Fragen zu vergessen. Die Gilets Jaunes sind ein Ausbruch des Arbeiter- und Volkszorns gegen den ultraneoliberalen Tsunami der „Macronie“, wobei man diesmal auf altbewährte Kampfformen zurückgriff und speziell an den Kampf gegen die Rentenreform des Sarkozy-Regimes 2010 anknüpfte.
Spontanes Entstehen der Bewegung und die Rolle der Gewerkschaften
Die Bewegung entwickelte sich spontan und „unpolitisch“ und glich bzw. gleicht immer noch eher einem Netzwerk, als einer organisierten Kraft. Das hat einige Nachteile, z.B. dass sich jeder gegenüber den Medien zum lokalen oder regionalen und schließlich nationalen „Sprecher“ aufschwingen kann, ohne dass ihn jemand gewählt hätte oder er jemandem verantwortlich wäre.
Daher befinden sich unter diesen „Sprechern“ einige Wirrköpfe und Wichtigtuer und auch Leute mit kuriosen oder falschen Ansichten. Auch können sich so Leute in der Bewegung herumtreiben, die man lieber nicht hätte. Aber so ist das eben in einer solchen Massenbewegung. Der Premierminister Philippe hatte sich vor zwei Wochen für eine völlig inhaltsleere „Aussprache“ gerade eine Handvoll solcher „Sprecher“ herausgesucht, aber außer zweien traute sich dann doch keiner von ihnen zu erscheinen. Zu groß die Angst, mit leeren Händen wieder zurück zu kommen und verprügelt zu werden.
Die Bewegung entwickelte sich außerhalb der Gewerkschaften. Zwar beteiligten sich gewerkschaftliche Basisorganisationen sehr bald daran (zuerst Chemie, Öffentlicher Dienst,…), aber die Gewerkschaftsführungen zögerten lange Zeit.
Einerseits hatten sich zu Beginn auch rechte und sogar ultrarechte Kräfte beteiligt, die aber im Laufe der Wochen mehr und mehr zurückgedrängt wurden. Das war also eher nur ein Vorwand. Der wahre Grund lag wohl darin, dass den Gewerkschaftsbonzen jede Bewegung suspekt ist, die sie nicht unter Kontrolle haben.
Erst am 7. Dezember rang sich z.B. Martinez, Vorsitzender der CGT, dazu durch, die Bewegung wenigstens nicht mehr zu denunzieren, sondern ein Lippenbekenntnis dahingehend abzulegen, dass sie verständlich und irgendwie berechtigt, die Regierung aber, wie er meinte, taub und blind sei usw. usf. Einen Aufruf, sie zu unterstützen und sich zu beteiligen, suchte man allerdings vergeblich, auch wenn er nicht wagte, dies den Basisorganisationen der CGT zu verbieten.
Umgekehrt ist verständlich, wieso die Bewegung die Unterstützung der Gewerkschaftsführungen nicht nur nicht suchte, sondern sie verschiedentlich direkt zurückwies. Immerhin hatten diese die Kämpfe und Bewegungen der letzten Jahre noch jedes Mal in die Niederlage geführt und wollte man sich nicht von solchen Leuten gängeln lassen.
Das Misstrauen gegen die Gewerkschaftsbonzen ist groß und berechtigt. Dass das berechtigt ist, hat sich neuerlich bestätigt. Kaum hatte Martinez sich zu dieser doppelzüngigen „Unterstützung“ durchgerungen, fiel er ihr durch eine gemeinsame „Unterstützungserklärung“ mit mehreren anderen Gewerkschaften in den Rücken, in dem „alle Formen von Gewalt“ abgelehnt werden, ohne die Brutalität des Staatsapparats auch nur zu erwähnen, und das Macron-Regime gelobt wird, es hätte „die Tür des Dialogs geöffnet“.
Das Dokument strotzt vor dem augenscheinlichen Interesse, die unangenehme Bewegung möglichst rasch zu einem Ende zu bringen und – das ist das Wichtigste – sich selbst als Vermittler und Verhandler mit der Regierung ins Spiel zu bringen. Allerdings folgten empörte Reaktionen in der CGT auf dem Fuß: die CGT müsse ihre Unterschrift auf diesem Schanddokument zurückziehen. Die Beteiligung gewerkschaftlicher Basisorganisationen wurde dennoch gegen den Willen der Gewerkschaftsbonzen zu einem wichtigen organisierenden Faktor der Bewegung.
Rebellion der Schüler und Studenten
Ab Montag, den 3. Dezember, entwickelte sich parallel eine andere wichtige Bewegung, die der Schüler und Studenten gegen eine geplante neuerliche Schulreform 14, die noch mehr „Formatierung“, Selektion, Konkurrenz untereinander und Klassendifferenzierung bringen soll. Noch mehr Verschulung und Prüfungsstakkato, noch mehr Fragmentierung in einzelne beliebig kombinierbare Module soll die Schulen noch mehr zu reinen Produktionsstätten folgsamer und biegsamer Arbeitskräfte machen.
Eine noch stärkere „Überprüfung“ soll die Sans-papiers (Menschen ohne Ausweispapiere) und Migranten fernhalten oder aus den Schulen werfen. Eine Versiebenfachung der Schulgebühren für „Nicht-Europäer“ (z.B. Maghrebins und Westafrikaner) soll diesen den Zugang erschweren.188 große Schulen und einige Universitäten wurden blockiert, teilweise besetzt, andere vorsorglich gesperrt, darunter die Pariser Sorbonne.
Bei den Besetzungen, Blockaden und Manifestationen kam es zu schweren Kämpfen mit der Polizei, die unter anderem eine neue „verbesserte“ Flash Ball Waffe einsetzte und dabei zwei Schüler schwer am Kopf verletzte. Ein Video machte die Runde, auch in den bourgeoisen Medien, das ein paar Dutzend Schüler vor einer Wand zeigt, auf den Knien, die Hände hinter dem Rücken gefesselt – und dahinter, fast wie ein Erschießungskommando, ein „schwarzer Block“ an Sonderpolizei CRS15.
Der Umweltminister des Macron-Regimes, den das eigentlich gar nichts angeht, „zeigte sich schockiert“, der Innenminister, der zuständig ist, verteidigte diesen Übergriff als notwendige Maßnahme. Auch der Kampf der Schüler und Studenten ist richtig und berechtigt, er hält nach wie vor an und hat sich mit dem der Gilets Jaunes verbunden.
Eine breite und wuchtige Volksbewegung …
Wieso kann jemand, dieses alles in Betracht ziehend, behaupten, die Bewegung der Gilets Jaunes sei eine rechte, eigentlich reaktionäre Bewegung? Es tut dies in Frankreich auch kaum jemand, nur einige Ultrareaktionäre, die jedes Aufbegehren gegen die „Republik“, also gegen die Staatsmacht für „faschistisch“ halten. Zu ihnen gehört der Fascho Bernard-Henri Lévy, der eine Ähnlichkeit der Gelbwesten mit den Braunhemden der Nazis zu erkennen und den Präsidenten Macron gegen diese gelb-braune Gefahr unterstützen zu müssen glaubt.
In Österreich trat offenbar Daniel Cohn-Bendit in ähnlichem Sinne im Fernsehen auf. Na gut, wenn jemand sich der Sozialdemokratie so innig verbunden fühlt, dass er sich am Tag der Wahlniederlage in deren Parteizentrale in der rue Solférino einfindet, um zu trösten und seine Dienste zur Überwindung des Fiaskos anzubieten, und anschließend Wahlkämpfer und enger Berater Macrons wird, dann denkt er wahrscheinlich so über den „Pöbel“ und die „Straße“.
Es handelt sich bei den Gilets Jaunes um eine berechtigte Volksbewegung auf Basis der Empörung gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen, gegen die Verarmung, gegen die in allen Fragen reaktionäre und volksfeindliche Regierungspolitik, gegen die staatliche Ausplünderung mit der Steuerpolitik im Zentrum, für eine Reihe von richtigen und berechtigten Forderungen im Interesse der Arbeiterklasse und des Volkes. Auch gegen die offen zur Schau getragene „Arroganz der Macht“ und die Präsidialallüren des Schnösels Macron.
Neben der Steuerfrage spielen der Kampf gegen die rollenden Angriffe auf das Arbeits- und Sozialrecht, der Kampf um den SMIC usw. eine Rolle. Wie jede wirkliche Massenbewegung, vor allem wenn sie ohne politische Führung ist, ist sie eine Bewegung mit aller Konfusion und allen Widersprüchen, die einer solchen Bewegung eben zwangsläufig eigen sind.
Die Bewegung ist klarerweise keine reine und feine Klassenbewegung der Arbeiterklasse, aber sie vertritt auch maßgeblich Arbeiterforderungen und wird maßgeblich von der Arbeiterklasse getragen.
Natürlich beteiligen sich auch Bauern, Fischer, Gewerbetreibende und Kleinkapitalisten, naturgemäß teilweise auch mit anderen Schwerpunkten und Interessen. Wenn so einer gegen die Steuerausplünderung auftritt, hat er vielleicht andere Forderungen und andere Steuern im Auge als ArbeiterInnen, aber das bedeutet nicht, dass es keine Volksbewegung gegen die Steuerausplünderung mit ihrem unverkennbaren kapitalistischen Klassencharakter geben kann bzw. man sie nicht unterstützen, sich nicht an ihr beteiligen sollte. Wenn dann freilich einer zusätzlich, obwohl es nicht eine deklarierte Forderung der Bewegung ist, für die Senkung der „Lohnnebenkosten“ in den Ring steigt, muss man ihn eben in die Schranken weisen. Auch so etwas gibt es, aber es ist eine Randerscheinung.
… und ein paar rechte und ultrareaktionäre Vorfälle und Tendenzen
Natürlich finden sich in so einer breiten Bewegung alle möglichen Strömungen, auch rechte. Es gab rassistische, sexistische usw. Tendenzen und Vorfälle sowie Ausritte gegen Migranten und Sans-papiers und gibt sie immer noch. Sie waren am Stärksten zu Beginn und wurden dann zusehends zurückgedrängt, sodass sie heute das Bild nicht mehr prägen.
Es gab einen Vorfall, dass ein paar Gilets Jaunes bei der Überprüfung eines Tankwagens (ob er auch tatsächlich keinen Treibstoff aus dem blockierten Tanklager „herausschmuggle“) im leeren Kessel einen Flüchtling fanden, ihn stolz der Polizei auslieferten und sich damit noch im Internet brüsteten. Dies löste große Entrüstung in der Bewegung selbst aus, wurde zum Schuss ins eigene Knie und half dabei, solche Kräfte zurückzudrängen.
Die Lepenisten, um die es ziemlich still geworden war, waren auch wieder aus ihren Löchern gekrochen, um sich an die Bewegung anzuhängen, vor allem aber um sich endlich wieder einmal gegen Macron zu Wort melden zu können und dabei medial beachtet zu werden. Peinlich nur, dass sich Marine Le Pen kurz zuvor gegen eine Erhöhung des SMIC ausgesprochen hatte. In den Demonstrationen und Blockaden selbst spielten sie nirgendwo eine nennenswerte Rolle.
Wie soll man zu den Gilets Jaunes stehen?
Wir, ich spreche da für die Marxisten-Leninisten in Frankreich, treten entschieden für die Unterstützung der Bewegung ein und beteiligen uns nach Kräften daran.
Wir treten für das Zusammenwirken, schlussendlich die Konvergenz (Annäherung, Übereinstimmung) dieser mit anderen Bewegungen und mit gleichzeitig stattfindenden Klassenkämpfen ein. Wir treten gegen Konfusion und Bewusstlosigkeit in der Bewegung und für mehr Klarheit und Klassenbewusstsein ein, wir versuchen, die Bewegung in Richtung einer bewusst antikapitalistischen Orientierung zu entwickeln. Wir bekämpfen alle reaktionären Tendenzen in ihr und entlarven die Manöver der bürgerlichen Parteien, wir denunzieren insbesondere das ultrareaktionäre lepenistische Rassemblement National, das im Hinterhalt sitzt und darauf spekuliert, in der Bewegung im Trüben zu fischen. Wir unterstützen die Bewegung uneingeschränkt, aber – im Unterschied zur France Insoumise des Mélenchon oder zur trotzkistischen NPA („Nouveau Parti Anticapitaliste“) 16 – nicht kritiklos, wir führen den ideologischen und politischen Richtungskampf in der Bewegung.
Aber, und das ist der Kernpunkt, wir stehen nicht abseits und rümpfen die Nase über dies oder das. OCML-VP schreibt dazu in einem Flugblatt „Was soll man von der Bewegung der Gilets Jaunes halten?“ 17: „Es stellt sich die Frage, wie sich einerseits die organisierte kämpferische Arbeiterbewegung und andererseits die konfuse, aber reelle und berechtigte Rebellion der Volksmassen miteinander verbinden können. Kämpferische politische und gewerkschaftliche Militanten haben streng über die Gilets Jaunes geurteilt und ihnen vorgeworfen, sie würden sich nicht an die übliche Vorgangsweise der linken Organisationen und der Gewerkschaften halten. Man kann das bedauern, aber es geht vielmehr darum, zu verstehen, warum die Massen in ihrem Zorn sich nicht in den reformistischen politischen und gewerkschaftlichen Organisationen, die sie vorfinden, wiedererkennen, statt ihnen ihre unerwartete spontane Revolte vorzuwerfen.“
Was wird, abgesehen von den Zugeständnissen, die das Macron-Regime machte bzw. jedenfalls ankündigte, aus der Bewegung? Das ist schwer zu sagen. Besteht die Gefahr, dass bei einem Zusammenbruch der Bewegung, wenn sie nämlich sich nicht mit anderen Bewegungen und Klassenkämpfen verbinden und eine Perspektive entwickeln kann, großer Frust ausbricht und womöglich doch ein Teil einen Ausweg nach rechts sucht? Die Gefahr besteht, aber sie wäre wahrscheinlich geringer als bei früheren gescheiterten Bewegungen.
Die Gilets Jaunes haben immerhin das Macron-Regime bereits massiv unter Druck gesetzt und in Zugzwang und zum Rückzug an einigen Punkten gebracht – obwohl noch nicht ausgemacht ist, was aus den Ankündigungen wird, falls der Druck nachlässt.
Aber noch geht es ohnehin weiter. Für kommenden Samstag (15. Dezember) ist der fünfte Aktionssamstag geplant.
Es fehlt in Frankreich, anders als anderswo, nicht an rebellischem Geist, an Militanz, an praktischen Kampferfahrungen, aber es fehlt, wie auch fast überall anderswo, an politischem Durchblick, an Klarheit über das ausbeuterische und unterdrückerische System, das nicht aus den Macrons (oder Sarkozys oder Hollandes) besteht, sondern im Kapitalismus und Imperialismus. Und es fehlt an einer führenden und organisierenden politischen Kraft, an einer revolutionären kommunistischen Partei und klassenkämpferischen Gewerkschaften.
Nur so können nicht nur allenfalls vereinzelte und zeitweilige Siege erzielt werden, sondern kann eine starke und dauerhafte Klassenbewegung aufgebaut werden. Aber daran arbeiten wir und Kämpfe und Bewegungen wie die jetzige bieten gute Bedingungen und Voraussetzungen dafür.
12. Dezember 2018
1 Gelbe Westen, weil die für die Sicherheit im Straßenverkehr vorgesehenen Warnwesten getragen werden, manchmal mit politischen Symbolen verziert.
2 Die Gendarmerie ist übrigens – als vierte Säule neben Heer, Marine und Luftwaffe – Teil der Armee und ressortiert zum Kriegsministerium; lediglich für Einsätze im Inneren wird sie derzeit zeitweilig dem Innenministerium unterstellt.
3 Eine der ersten Maßnahmen Macrons beim forcierten Ausbau des Polizeistaats war eine Strafrechtsreform, in der viele Elemente des Regimes des Ausnahmezustands ins „normale“ Strafrecht integriert wurden, sodass in vieler Hinsicht kein Ausnahmezustand mehr benötigt wird und er nach 23 monatiger Dauer (November 2015 bis Oktober 2017) aufgehoben wurde. Flächendeckende „Schutzhaft“ allerdings sieht auch das neue reformierte Straffrecht (noch) nicht vor.
4 Mélenchon nahm am 1.12. an der Großdemonstration der Gilets Jaunes in Marseille teil und tritt militant gegen Macron auf, kann aber der Bewegung und dem Klassenkampf keine Perspektive bieten, weil er, Bewunderer Mitterands, nicht gegen den Kapitalismus kämpft, sondern nur gegen dessen neoliberale Auswüchse und übrigens keinerlei Kritik am französischen Imperialismus hat, ganz im Gegenteil.
5 Vielleicht so etwas wie „widerspenstiges, rebellisches Frankreich“, früher „Parti de gauche“ – Partei der Linken.
6 Spitzenreiter ist Italien, gefolgt von den Niederlanden, Griechenland (!), Dänemark und Portugal.
7 Siehe z.B. CGT – Fiche no.13: Un salaire minimum en France et dans chaque pays européen
8 „Nur“ 9,2 Prozent, wo einem doch in Österreich das Doppelte an Sozialversicherungsbeiträgen abgezogen wird? Das hat damit zu tun, dass die Finanzierung des Sozialsystems in Frankreich anders aufgebaut ist: es wird – wie z.B. auch in der Schweiz – auch aus der Besteuerung von Finanzanlagen usw. finanziert. Die Kapitalertragssteuer liegt bei 30 Prozent, wovon aber nur 12,8 Prozent Steuereinnahmen des Staates sind, während 17,2 Prozent in die Finanzierung des Sozialsystems wandern. (Tragen also die Kapitalisten auf diese Art etwas zur Finanzierung des Sozialsystems bei zusätzlich zu den „Lohnnebenkosten“? Natürlich nicht, denn Kapitalgesellschaften können genau wie in Österreich dafür optieren, von der KESt befreit zu werden und statt dessen die Finanzgewinne der Körperschaftssteuer zu unterwerfen – und hier ist die Besteuerungsgrundlage bekanntlich sehr „gestaltbar“.)
9 Geblieben ist nur mehr eine Steuer auf Immobilien-Vermögen.
10 Zu Beginn hieß die Partei Macrons einfach nur EM („En Marche“) und es wurde gespottet, EM stünde in Wahrheit für Emmanuel Macron. So wurde aus EM später LREM.
11 Bemerkenswert war auch die krachenden Niederlage des ultrareaktionären Front National (inzwischen zu Rassemblement National umbenannnt, um das aggressive Wort „Front“ zu vermeiden). Der Front erreichte bei den Parlamentswahlen nur 1,6 von 53,2 Millionen Stimmen, d.h. 8,8 Prozent der gültigen Stimmen bzw. 3,0 der Wahlberechtigten. Er stürzte daraufhin in eine schwere Partei- und Finanzkrise und es ist seither recht still um ihn geworden.
12 Den er übrigens, in Frankreich in aller Munde, nach seinem Regierungsantritt um 300 Millionen Euro renovieren ließ. Ebenfalls, wenn auch nicht ganz so teuer, wurde der Präsidenten-Urlaubssitz an der Côte d’Azur „von Grund auf modernisiert“. Ein echter dynamischer „Aufbruch in eine neue Politik-Kultur“!
13 In Frankreich werden Gesetze häufig nach dem Minister benannt, der sie einbringt.
14 http://ocml-vp.org/article1984.html
15 https://www.lemonde.fr/societe/article/2018/12/07/video-des-lyceens-a-mantes-la-jolie-on-peut-l-interpreter-comme-un-acte-de-vengeance_5394312_3224.html?xtmc=mantes_la_jolie&xtcr=10
16 Die NPA unterstützt „tout ce qui bouge“ („alles was sich rührt“) und hat daher auch schon rein bürgerliche und kleinbürgerliche Bewegungen und Kämpfe unterstützt, z.B. die der Bonnets Rouges 2013 in der Bretagne, eine sehr militante, aber reaktionäre korporatistische Bewegung v.a. der Frächter und Schweinezüchter für spezielle Steuererleichterungen nur für sich, gegen den Plan einer Öko-Steuer für Schwer-LKWs auf Autobahnen (in der Bretagne mautfrei) usw. Das war der Kern, um den sich dann weitere Forderungen gruppierten, darunter nach mehr Autonomie für die Bretagne, nach Wiedereingliederung von Nantes in die Bretagne, da seinerzeit einmal ein Teil derselben u.a.m.
17 http//ocml-vp.org/article1985.html