Das Gedenkjahr zum 100. Jahrestag des Völkermords an den ArmenierInnen neigt sich dem Ende. Der 24. April 2016, der 100 + 1 Jahrestag steht im Zeichen der weiteren Leugnung dieses Genozids durch den Türkischen Staat. Aber auch die BRD, Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches, hat außer unverbindlichen Lippenbekenntnissen bis heute nicht klar und eindeutig die erhebliche Mitschuld und Täterschaft an diesem Völkermord anerkannt.
Im Vorfeld des diesjährigen Gedenktages hat der Deutsche Bundestag in einer Debatte am 25. Februar 2016 erneut ein jämmerliches Schauspiel an politischer Schacherei und erbarmungslosen Opportunismus abgeliefert.
Erinnern wir uns, 2000 wird eine Petition zur Anerkennung des Völkermords durch die BRD an den Deutschen Bundestag eingereicht, sie bleibt folgenlos. Am 90. Jahrestag 2005 wird in einer Bundestagserklärung ausdrücklich nicht von Völkermord, sondern bewusst nur von Massakern an den Armeniern gesprochen. Zum 100. Gedenktag 2015 brachten Fraktionen im Bundestag eigene Anträge ein und führten, so das Selbstlob der Fraktionen in der aktuellen „ Parlamentsaussprache“ im Februar 2016, eine Debatte die „eine Sternstunde im Bundestag“ 1 war. Ergebnis der Sternstunde vom 24. April im letzten Jahr? Kein Antrag wurde verabschiedet.
Wobei die bürgerliche Propagandamaschinerie sehr gut lief, insbesondere durch das überschwängliche Hochjubeln der Rede Gaucks im Berliner Dom 2015, der von Völkermord sprach. Viele Menschen mit denen wir bei Aktionen und Veranstaltungen zum 100. Jahrestag diskutierten, waren fest davon überzeugt der Bundestag habe da doch etwas verabschiedet und ja, den Genozid auch anerkannt?! Das nennt man gelungene Medien-Selbstdarstellung der Politik! Tatsächlich wurden die Anträge in zuständige Ausschüsse überwiesen und verschwanden so erstmals in den Schubladen.
Nun haben die Grünen am 25. Februar 2016 erneut einen Vorstoß im Bundestag „gewagt“, sind aber auf halbem Wege wieder eingeknickt. Über ihren Antrag „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren“ wurde im Plenum „38 Minuten“ 2 gesprochen. Der Text selbst ist sehr zurückhaltend verfasst. Das Wort Völkermord kommt nur in der Überschrift vor und in der sehr allgemeinen Formulierung, die die Grünen aus dem Antrag der Regierungsparteien von 2015 übernommen haben: Das Schicksal der Armenier „steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist.“ 3
Gleichzeitig wird nicht die notwendige Forderung an die Bundesregierung gestellt rechtsverbindlich den Völkermord und die deutsche Mitschuld anzuerkennen. Eine Erklärung des Deutschen Bundestages ist nur ein allgemeines politisches Statement und hat keinerlei rechtliche Konsequenzen.
Die Frage der deutschen Mitverantwortung wird im Grünen-Antrag mit der Feststellung (wortwörtlich aus der Erklärung 2005) über „die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches“ kleingeredet und als „unterlassene Hilfeleistung gegen die verfolgten Menschen“ ausgegeben. (ebenda)
Wir haben in vielen Artikeln die deutsche Verantwortung am Völkermord anhand einer Überfülle von historischen Dokumenten nachgewiesen und belegt. Zum Beispiel berichtet der „Politische Brief der Spartakusgruppe“ im Januar 1916 über die Anfrage des Abgeordneten Karl Liebknechts: „Die türkische Regierung hat ein furchtbares Gemetzel unter den Armeniern angerichtet; alle Welt weiß davon und – in aller Welt macht man Deutschland dafür verantwortlich, weil in Konstantinopel die deutschen Offiziere die Regierung kommandieren.“ In der Regierung und im Generalstab der osmanischen Armee saßen weisungsbefugt deutsche Generäle und Offiziere.
Unsere Schlussfolgerung war und ist: Der Völkermord an den Armenierinnen und Armeniern hätte ohne den deutschen Imperialismus nicht verübt werden können. Die Mitwisserschaft, die Mittäterschaft, die Verantwortung des Deutschen Reiches, die aktive Unterstützung des Völkermordes für den Profit der deutschen Konzerne ist anhand von Archivmaterial eindeutig erwiesen!
In dem aktuellen Antrag der Grünen, wie in vorherigen Anträgen anderer Bundestagsfraktionen, werden dementsprechend auch nicht Entschädigungen von der BRD für die Nachkommen der Überlebenden in Nordkurdistan/Türkei, in der Republik Armenien und der armenischen Diaspora eingefordert.
Die Debatte über den Antrag der Grünen im Bundestag ist ein Lehrstück imperialistischer Machtpolitik unter falscher „fortschrittlicher Flagge“. Die Regierungsparteien CDU/CSU/SPD erklärten von vorneherein diesem nicht zu zustimmen. Stellvertretend Dietmar Nietan: „Aber ich glaube es ist auch richtig, zu sagen – und ich will es deutlich aussprechen –, dass mit einer Entschließung zu diesem Thema zehn Tage vor einem EU-Türkei-Gipfel niemandem gedient ist, weder den Problemen, die wir dort lösen müssen, noch dem Gedenken an das armenische Volk“. 4
Zynischer geht es kaum noch. Der deutsche Imperialismus schottet die EU-Grenzen total ab, lässt Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei deportieren, sponsert die AKP-Regierung mit Millionen und spricht es offen aus: Sorry, da können wir uns jetzt nicht mit der türkischen Regierung anlegen, die den Völkermord an den Armeniern nicht anerkennt.
Das war und ist deutsche Realpolitik: 1915 in grausamster Weise und heute demokratisch ummantelt. Und was tun die Grünen? Sie ziehen auf Zwischenruf des unsäglichen Herrn Kauder (CDU) und massiven Druck von CSU/CDU/SPD ihren Antrag zurück und erhalten das gönnerhafte CDU-Versprechen „Wir sind bereit, über diesen Antrag mit Ihnen jetzt zügig zu sprechen, ihn zu finalisieren und ihn hier zu verabschieden. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Also, dann lassen Sie uns jetzt an die Arbeit gehen, und lassen Sie uns das zügig in den nächsten Wochen abschließen!“. (Ebenda, S. 15566)
Am 14. April 2016 hat Kauder via Donaukurier verkündet, einen Antrag in dieser Frage am 2. Juni im Bundestag einzubringen. Was den Inhalt einer, wann auch immer verabschiedeten Erklärung angeht, wird sie kein wirkliches Anerkennen des Völkermords an den ArmenierInnen enthalten, ebensowenig der Mittäterschaft des Deutschen Reiches und der daraus zu ziehenden notwendigen Konsequenzen.

Debatte über Forderungen in der armenischen Frage:
Wir haben in der Trotz alledem! 70, den Artikel „Debatte über demokratische Forderungen“, S. 60 veröffentlicht. Wir haben zwei Kritikschriften an unseren Forderungen in der Gemeinsamen Erklärung mit Bolşevik Partizan (Nordkurdistan/Türkei) zum 100. Gedenktag abgedruckt und diese gemeinsam mit BP beantwortet.
Zu dieser Diskussion haben wir nachfolgenden Leserbrief erhalten. Wir können hier nicht die gesamte Diskussion wiedergeben und bitten Interessierte, diese in der TA 70 nachzulesen. Wir drucken zum besseren Verständnis nochmal die Forderungen aus dieser Erklärung, die Gegenstand der Kritik sind, ab.
„Forderungen an die „Türkische Republik“, Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Staates:
Völkermord anerkennen! Sofort – ohne Bedingung – mit allen Konsequenzen:
Vollständige Gleichberechtigung, Anerkennung und Unterstützung der armenischen Community in Nordkurdistan/Türkei!
Kampf gegen und Verbot jeglicher Form des antiarmenischen Rassismus und Chauvinismus!
• Rückkehrrecht für alle Nachkommen der vertriebenen Armenier aus der Diaspora oder aus Armenien!
• Rückgabe allen geraubten armenischen Eigentums oder Entschädigung!
• Entschädigung für das vom türkischen Staat beschlagnahmte armenische Eigentum!
• Recht auf Lostrennung für Westarmenien!
• In den türkischen Staatsschulen die Wahrheit über die Völkermordpolitik der türkischen Herrschenden lehren!
• Reparationszahlungen für das armenische Eigentum deren Besitzer oder ihre Nachfahren nicht festzustellen sind, an die Republik Armenien!
• Sofortige Öffnung der türkischen Grenze zu Armenien, eine gleichberechtigte, nachbarschaftliche Zusammenarbeit mit der Republik Armenien!
Nur über diesen Weg wird eine wirkliche Geschwisterlichkeit mit dem armenischen Volk in Nordkurdistan/Türkei; mit Armenien, und den Armeniern in der Diaspora entstehen können!
Forderungen an den deutschen Staat, der direkte Verantwortung für den Völkermord trägt: In der Bundestagsresolution zum 90. Jahrestag des Völkermordes von 2005 wird bewusst nicht von Völkermord gesprochen. Damit übernimmt der deutsche Staat nicht die Verantwortung für die Mittäterschaft des Deutschen Reiches an dem Genozid am armenischen Volk. Er umgeht die Anerkennung von Entschädigungsforderungen und alle anderen Konsequenzen. Wir fordern als KommunistInnen in Deutschland von der BRD sofort, ohne Vorbehalte und ohne Bedingungen den Völkermord anzuerkennen und alle damit verbundenen Konsequenzen zu übernehmen!“
Der Leserbrief von Gerayer Koutcharian (Arbeitsgruppe Anerkennung, Gegen Genozid, für Völkerverständigung e.V.) bezieht sich auf die an diesen Forderungen vorbrachten Kritiken und setzt sich damit auseinander. Wir danken ihm sehr für diesen Beitrag, der die Diskussion aufgreift, und weitere Aspekte hinzufügt.

Leserbrief:
Liebe Freunde,
ich möchte meine Meinung zum Heft Nr. 70 von „Trotz alledem!“ sowie zu der Veranstaltung in Berlin äußern. Die Veranstaltung empfand ich als sehr beeindruckend, insbesondere die engagierte Theateraufführung. Ähnliches habe ich bisher in Berlin noch nicht erlebt, obwohl in dieser Stadt rund 400.000 türkeistämmige Menschen leben.
Auch den Artikel „Türkische Republik gegen das armenische Volk, 1923-2015“ (ab S. 51 in o.a. Ausgabe) empfand ich als sehr informativ, unterfüttert mit Belegen, die in den in der Türkei herausgegebenen Büchern oder Artikeln fehlen. Die „Debatte über demokratische Forderungen“ (der Armenier) widerspiegelt die Meinung der Mehrheit türkischer Intellektueller, insbesondere der linksorientierten, wie auch der Mehrheit der türkischen Bevölkerung.
Ich führe einige Beispiele aus den Leserbriefen (Seit 62) an: „Soweit wir wissen, war das so genannte ‚russische Armenien‘ bis nach der Oktoberrevolution mehrheitlich von anderen Nationalitäten besiedelt. Die Armenische Republik 1918 war hauptsächlich eine proimperialistische, national-chauvinistische Staatsgründung, die zur Recht von Rotgardisten zerschlagen wurde.“
S. 63: „(…) das die Armenier z.B. aus Istanbul (und Frankreich usw.) das Recht haben sollen, irgendwo im Osten des heutigen Staats Türkei (nahe der Grenze zu Armenien oder Iran) ein neues Heimatland zu gründen?“
„ (…) Was denkt ihr, an wen und wofür eine Volksrepublik Türkei/Nordkurdistan ‚Entschädigungen‘ zahlen soll – mehr als vier Generationen danach?! Doch wohl nicht an eine reaktionäre Republik Armenien oder an armenische Kapitalisten, die Ersatz für den Verlust der Betriebe ihrer Urgroßväter einfordern?!“
Mein Kommentar zu diesen Leser_innenmeinungen: Wenn schon Kommunisten bzw. dem Kommunismus nahestehende Menschen so denken, was erwarten wir von den übrigen Bürger_innen?
Die Verfasser_innen der o.a. Leserbriefe reden abschätzig über das „russische Armenien“. Ja, der Siedlungsraum der Armenier war zwischen Osmanischem Sultanat und Russischem Reich geteilt. Warum wird dieses Teilungsschema nicht auch auf Georgien und Aserbaidschan angewendet, deren Siedlungsgebiete ebenfalls zwischen Osmanischem Sultanat, Iran und Russland geteilt waren bzw. gänzlich oder überwiegend unter russischer Herrschaft standen?
Die Republik Armenien (Mai 1918) war das Zerfallsprodukt eines kurzlebigen, fehlgeschlagenen Staatenbundes, der Transkaukasischen Föderation, in der die beiden größeren Länder – Aserbaidschan und Georgien – lieber selbständig werden wollten und auf Bündnisse mit der Türkei (Aserbaidschan) sowie Deutschland (Georgien) hofften. Diese letzte Zufluchtsstätte für die Genozidüberlebenden aus dem Osmanischen Reich wurde 1918 und 1920 von der Türkei militärisch angegriffen und ergab sich unter dem Eindruck neuerlicher Massaker an Hunderttausenden wehr- und obdachloser Menschen Ende 1920 Sowjetrussland, das es für das geringere Übel hielt.
Woher nimmt der Leserbriefschreiber die Arroganz, so über ein kleines Land zu urteilen, dessen Regierung sich damals in einer Position „zwischen Hammer und Amboss“ befand, ohne jedwede auswärtige Unterstützung? Und mal nebenbei gefragt: Was war denn zu diesem Zeitpunkt die Türkei? Eine sozialistische, kommunistische, demokratische Volksrepublik? Oder ein zerfallender Feudalstaat, gegen den sich im Mai 1919 das Regime der kemalistischen Nationalisten erhob?
Ähnlich unsachlich erfolgt die Charakterisierung der heutigen (zweiten) Republik Armenien. Da sie angeblich reaktionär ist und d i e (?) Armenier Kapitalisten, dürfen sie keine Entschädigungen für den Verlust der Betriebe ihrer Urgroßväter erheben. Welcher Betriebe eigentlich?
Die überwältigende Mehrheit der Armenier – 85 Prozent – lebte vor dem Völkermord in den so genannten „sechs armenischen Provinzen“ und waren Bauern oder Handwerker. „Betriebe“ gab es in den damaligen, wirtschaftlich rückständigen osmanischen Provinzen so gut wie gar nicht, sieht man von einigen Textilmanufakturen ab.
Es ist aber das gute, selbstverständliche Recht der staatlich, wie privat beraubten und ausgeplünderten Völkermordüberlebenden sowie ihrer Nachfahren, auf materieller Wiedergutmachung (Restitution) zu beharren. Auch wir bedauern, dass jetzt schon vier Generationen mit diesen Forderungen beschäftigt sind – wir hätten die Wiedergutmachung gern früher erlebt. Aber für die Hartnäckigkeit, mit der Armenier_innen ihre Forderung auch nach vier Generationen vorbringen, danken uns alle, die sich in ähnlicher Lage befinden.
Gerade Kurd_innen sollten aufgrund eigener Erfahrungen wissen, dass das, was sie heute verlieren und morgen nicht rückerstattet oder ersetzt bekommen, übermorgen von Besserwissern als „überholte“ und vielleicht „reaktionäre“ Forderung abqualifiziert werden kann. Schon bald wird jemand die Opfer von heute auffordern, den Mund zu halten und nicht mit ihren Wiedergutmachungsforderungen zu nerven. Wer aber so urteilt, stützt die Mentalität der Profiteure von Massenverbrechen.
Ein armenisches Reservat an der Grenze zu Iran oder Armenien als Wiedergutmachung für die Nachfahren der Enteigneten, Vertriebenen, Ermordeten? Nein Danke! Nach den Erfahrungen im frühen 20. Jahrhundert können sich meisten Armenier_innen nicht mehr vorstellen, noch einmal mit Türk_innen und Kurd_innen im selben Staat zu leben, vor allem nicht, falls sich dieser Staat als türkischer Nationalstaat definiert.
Die jetzige Republik Türkei bildet ein abschreckendes Beispiel. Selbst Türk_innen fliehen aus diesem Land, ganz zu schweigen von Kurd_innen und anderen Ethnien. Nichts zerstört das Vertrauen unter Menschen unterschiedlicher Religion und Ethnizität so anhaltend, wie Völkermord. Und Vertrauen wieder aufzubauen ist, wie das Beispiel Türkei zeigt, äußerst mühsam und langwierig. Es ist aber die einzige Alternative, um künftige Verbrechen zu verhindern.
Mit herzlichen Grüßen
Gerayer Koutcharian
22.01.2016
1 dipt.bundestag.de/doc/btp/18/1858.pdf, S. 15561, 2016
2 dipt.bundestag.de/doc/btp/18/1858. pdf, S. 15556
3 dipbt.bundestag.de, Drucksache 18/7648
4 dipt.bundestag.de/doc/btp/18/1858.pdf, S. 15561