Türkische Republik gegen das armenische Volk

Pogrom – Repression – Verfolgung – Vertreibung

1923 bis 2015

Für die 1923 gegründete kemalistische Republik Türkei existierte keine „armenische Frage“. Von Anfang an bis heute beruht die Politik der türkischen herrschenden Klassen gegenüber dem armenischen Volk auf der Leugnung des Völkermords an den Armeniern 1915 während des Osmanischen Reiches. Bis Mitte der 1965er Jahre war der Völkermord ignoriert und totgeschwiegen. Damit wurde auch der Eindruck erweckt in den offiziellen Grenzen der Republik Türkei habe niemals eine armenische Nation existiert. Die wenigen überlebenden ArmenierInnen wurden ebenso wie Pontusgriechen, Juden und Assyrer als „Fremde Völker“ stigmatisiert, die vom türkischen Staat lediglich „geduldet“ waren. Falls die armenische Bevölkerung in Politik oder Medien thematisiert wurde, historisch oder auch in der Gegenwart, wurde und wird von ihr nur als „Feind“, „Verräter“, „Kollaborateur“ etc. gesprochen. Das Wort „Armenier“ wurde und wird immer noch als Schimpfwort benutzt.

Die erste Herausforderung für die Leugner des Völkermords und ihre Politik des Verschweigens war 1965 – das Jahr des ersten öffentlichen Gedenkens der ArmenierInnen an die Opfer des Völkermords. 1

Die Äußerungen der Vertreter der türkischen Regierung, die Nachrichten und Kommentare der türkischen Presse waren von Feindschaft, Hetze und Drohungen gegen die armenische Community geprägt. Durchgehend wird die Formulierung vom „so genannter Völkermord“ verwendet. Das öffentliche Gedenken war der Anfang vom Ende der Politik des Verschweigens.

Als in den 1970er und 1980er Jahren bewaffnete Aktionen/Attentate armenischer Diaspora-Organisationen wie ASALA (Armenische Geheime Armee für die Befreiung Armeniens) auf türkische Diplomaten im Ausland durchgeführt wurden, fand das anhaltende Schweigen der Republik Türkei über den Völkermord sein Ende. Die türkische Regierung wurde durch die Attentate gezwungen, sich zu verhalten und politisch Stellung zu nehmen.

Die Leugnungspolitik tischte im Laufe der Jahrzehnte, entsprechend der politischen Konjunktur verschiedene Legenden und Lügengeschichten auf. In Kurzform: „Es war nichts. Alles was erzählt wird, ist eine Lüge“, „Es gab eine gegenseitige menschliche Tragödie“, „Die Armenier haben die Türken massakriert“, „Unerwünschte Ereignisse sind geschehen“, „Die Bewertung der historischen Fakten muss den Historikern überlassen werden.“, „Wir sind nicht für das Osmanische Reich verantwortlich“.

Ausgangssituation

Der Erste Weltkrieg ging für das Osmanische Reich mit der Unterzeichnung der Kriegskapitulation am 30. Oktober 1918 in Mudros zu Ende. Am 4. November 1918 wurde das „Deportationsgesetz“ (offiziell „Umsiedelungsgesetz“) aufgehoben. Innerhalb von vier bis fünf Monaten kamen Zehntausende überlebende Deportierte in ihre Heimatorte zurück. Übereinstimmend wird von historischen Quellen angegeben, dass in dieser Zeit noch ca. 280 000 Angehörige des armenischen Volks in der Türkei lebten: Davon 150 000 in Konstantinopel (Istanbul) und Smyrna (Izmir) und 130 000 in anderen Orten und Landesteilen. Während des „Nationalen Befreiungskriegs“ 2 unter der Führung von Mustafa Kemal (Atatürk) wurden ca. 100 000 Armenier ermordet und Zehntausende mussten wieder fliehen.

Nach offiziellen Angaben der Volkszählung 1927 lebten in der Türkei 67 745 ArmenierInnen. Die Armenische Gemeinde spricht von 80 286. 1965 lebten nur noch 33 094 ArmenierInnen in der Türkei. Die Zahl der ArmenierInnen, die ihre ethnische Herkunft und Muttersprache verheimlichten mussten, ist nicht genau bekannt. Ebenso die Anzahl der als „Kryptoarmenier“ bezeichneten, zwangsislamisierten ArmenierInnen. Vertrauenswürde HistorikerInnen sprechen bei den angegebenen Zahlen nur von „groben, vorsichtigen Schätzungen“. Selbst diese beweisen eine zwischen 1927 und 1965 mehr als 50%ige Dezimierung des armenischen Volkes. Fakt ist: Die armenische Nation wurde fast vollständig ausgelöscht und zu einer kleinen nationalen Minderheit gemacht.

Die türkischen Herrschenden zogen ihren Profit nicht nur aus der Vernichtung der armenischen Nation in Westarmenien und im Osmanischen Reich, sondern auch aus der massenhaften Enteignung der Armenier­Innen – zum größten Teil während des Völkermords 1915 und danach während des Kriegs zwischen 1919-1922. Das konfiszierte Eigentum der nicht muslimischen Nationen und Nationalitäten war eine der wirtschaftlichen Grundlagen der Türkischen Republik (bzw. der türkischen Bourgeoisie).

Von der Politik der nationalen Unterdrückung der Türkischen Republik waren alle nicht türkischen Nationen und Nationalitäten und insbesondere die ArmenierInnen betroffen. Elemente dieser rassistischen, chauvinistischen Politik waren Verfolgung, Diskriminierung und Türkisierungspolitik. Obwohl alle Nationalitäten – innerhalb der türkischen Grenzen – als „Türken“ deklariert wurden, wurden trotzdem Unterschiede gemacht.

Die muslimischen, ethnisch nicht türkischen Teile der Bevölkerung sollten türkisiert, bzw. zwangsassimiliert werden, aber die nicht-muslimischen Nationalitäten sollten mit allen Mitteln dezimiert werden. Diese kontinuierliche Politik übernahm die Türkische Republik von dem „Komitee für Einheit und Fortschritt“ (İttihat ve Terakki Cemiyeti – Regierungspartei der Jungtürken seit 1908 im Osmanischen Reich) und praktizierte sie entsprechend der neuen politischen Lage.

Um den Kern dieser Politik gegenüber dem armenischen Volk aufzuzeigen, müssen wir die Politik der kemalistischen Bewegung in den Kriegsjahren nach dem Ersten Weltkrieg und die im Lausanner Vertrag festgelegten Rechte zum „Schutz der Minderheiten“ bewusst machen.

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Nationaler Befreiungskrieg“ und die „armenische Frage“ – 1919-1922

Nach offizieller Lesart türkischer Geschichtsschreibung, beginnt die Geschichte der Republik Türkei mit der Ankunft von Mustafa Kemal am 19. Mai 1919 in Samsun an der Schwarzmeerküste. Die von Kemal initiierten „Nationalen Organisationen“ bzw. die „Nationale Bewegung“ hätten keinerlei politische und organisatorische Verbindungen mit dem „Komitee für Einheit und Fortschritt“ gehabt. Sie hätten einen eigenständigen „anti-imperialistischen Unabhängigkeitskrieg“ geführt und sich von der alten politischen Macht, verkörpert durch das „Komitee für Einheit und Fortschritt“ und seiner Führer völlig distanziert.

In Wirklichkeit aber hat sich die Geschichte anders zugetragen: Die nach der Kapitulation des Osmanischen Reichs an unterschiedlichen Orten und unter verschiedenen Namen entstandenen „Nationalen Organisationen“ standen faktisch zum größten Teil unter Führung der ehemaligen Mitglieder des „Komitees für Einheit und Fortschritt“. Sie wurden in erster Linie nicht gegen die englische, französische oder italienische Besatzung gebildet, sondern gegen die armenischen und die griechischen Bevölkerungsgruppen. Eine der wichtigsten hieß „Vereinigung für die Verteidigung der nationalen Rechte der östlichen Provinzen“. Zur Entstehung dieser Organisationen führte Kemal Atatürk in seiner Rede im Oktober 1927 in Ankara vor den Abgeordneten und Delegierten der Republikanischen Volkspartei aus:

Aus den vorstehenden Auseinandersetzungen geht, wie mir scheint, deutlich hervor, dass die etwaige Abtretung der östlichen Provinzen an Armenien das wichtigste Motiv für die Bildung dieser Vereinigung gewesen ist. Man nahm an, dass diese Möglichkeit zur Wirklichkeit werden würde, wenn es denjenigen, die daran arbeiteten, die Armenier als eine Mehrheit in diesen Provinzen mit den ältesten geschichtlichen Rechten hinzustellen, gelingen würde, die öffentliche Meinung der Welt durch angebliche wissenschaftliche und historische Dokumente irrezuführen und alsdann die Verleumdung glaubwürdig zu machen, dass die mohammedanische Bevölkerung aus Wilden bestehe, die sich damit beschäftigten, die Armenier zu massakrieren. Infolgedessen setzte sich die Vereinigung das Ziel, die nationalen und geschichtlichen Rechte durch entsprechende Mittel und Argumente zu verteidigen.

Man fürchtete auch die Bildung eines griechischen pontischen Staates an der Küste des Schwarzen Meeres. Einige Personen hatten in Trapezunt einen weiteren Ausschuss mit dem Ziel gegründet, die Rechte der mohammedanischen Bevölkerung auf ihre Existenz zu wahren und zu verhindern, dass sie unter das Joch der Griechen fielen.“3,4

Auch andere Quellen und Dokumente beweisen die personelle und politische Kontinuität zwischen dem 1918 aufgelösten „Komitee für Einheit und Fortschritt“ und den insbesondere von Enver und Talat Pascha neu gegründeten nationalen Organisationen.

Die kemalistische Bewegung sah in der kurdischen Nation auch eine Gefahr bei der Konstitution der türkischen Nation, allerdings wurde mit den feudalen Kurdenvertretern eine Allianz geschlossen, die unter dem Namen „Vereinigung für die Verteidigung des Rechts Anatoliens und der Rumeli (westliche Provinzen)“ firmierte.

Dazu stellte Atatürk in seiner Rede fest:

Die Bevölkerung Anatoliens ist von einem Ende bis zum andern zu einer Einheit zusammengeschlossen. Die Entscheidungen sind in Übereinstimmung mit allen Kommandeuren und unseren Kameraden gefasst. Fast alle Walis und Gouverneure sind auf unserer Seite. Die nationale Organisation in Anatolien reicht bis zu den Bezirken und Gemeinden. Der auf die Bildung eines unabhängigen Kurdistans abzielenden Propaganda ist mit Erfolg entgegengewirkt und die Anhänger dieser Bewegung sind zerstreut worden. Die Kurden haben sich den Türken angeschlossen.“5

Somit waren Armenier und Griechen die Hauptfeinde, die bekämpft werden sollten. Die Kongresse in Erzurum und Sivas im Jahr 1919 waren die wichtigsten Entscheidungsgremien der kemalistischen Bewegung. Der Kongress von Erzurum begann am 23. Juli 1919 und Atatürk führt die Beschlüsse über die „christlichen Elementen“ auf:

5. Den christlichen Elementen können keine Privilegien gewährt werden, die unsere politische Souveränität und unser soziales Gleichgewicht beeinträchtigen könnten.“ (ebenda, S. 56)

Der Kongress von Sivas fand im September 1919 statt.

Zur griechischen und armenischen „Frage“ wurde laut Atatürk beschlossen: ‚Der Grundsatz einer einmütigen Verteidigung und eines einmütigen Widerstandes wird angenommen zu dem Zweck, jeder Okkupation oder Intervention Widerstand zu leisten, insbesondere jeder Bewegung, die einen griechischen oder armenischen Separatismus zu schaffen bestrebt ist.“ (ebenda, S. 77)

Kemal warf auch die Frage auf, zu welchen Zugeständnissen die kemalistische Bewegung bereit wäre und gab folgende Antwort:

Nun ist es aber nicht nur heute praktisch unmöglich, den Armeniern auch nur einen Zoll dieses Gebiets abzutreten, wo die erdrückende Mehrheit türkisch und kurdisch ist, sondern es ist sogar wegen der gewalttätigen Gereiztheit und wegen der Rachsucht, die unter diesen Elementen herrschen, gefährlich, die Armenier in Massen anzusiedeln, selbst wenn diese kommen würden, ihre Wohnsitze wieder einzunehmen. Das weitestgehende Zugeständnis, das man den nichtschuldigen osmanischen Armeniern machen könnte, könnte folglich nicht anderes sein, als unter billigen und gleichen Bedingungen ihre Rückkehr zu dulden. (Hervorh. TA) (ebenda, S. 90)

Dieses mögliche „Zugeständnis“ wurde nicht verwirklicht. Die ArmenierInnen erhielten kein Rückkehrrecht. Das Fundament der bis heute andauernden Leugnungspolitik des Völkermords an den ArmenierInnen durch den türkischen Staat wurde bereits von Atatürk gelegt:

Ohne Zweifel entsprachen die Behauptungen über die Armeniergemetzel nicht dem wirklichen Sachverhalt. Im Gegenteil belästigten die Armenier im Süden, von den fremden Truppen bewaffnet und durch den Schutz, den sie genossen, ermutigt, die Mohammedaner in ihrem Bereich. Von einem Geist der Rache beseelt, trieben sie allenthalben zu einer unversöhnlichen Politik des Mordes und der Ausrottung. Auf diese Weise war das tragische Ereignis von Marasch zustande gekommen. Die Armenier hatten, indem sie mit den fremden Truppen gemeinsame Sache machten, durch Geschütz- und Maschinengewehrfeuer eine alte mohammedanische Stadt wie Marasch von Grund auf zerstört. Sie hatten Tausende von unschuldigen und wehrlosen Müttern und Kindern getötet. Die Armenier waren die Urheber dieser in der Geschichte einzig dastehenden Brutalität. Die Mohammedaner hatten nur Widerstand geleistet und sich verteidigt, um ihr Leben und ihre Ehre zu retten. (…) Die Wahrheit war, dass unsere Nation nirgends ohne Grund eine aggressive Haltung gegen irgendein fremdes Element eingenommen hatte.“ (ebenda, S. 356-357)

Hier bewertet Atatürk nicht Ereignisse aus den Jahren des Völkermordes 1914-1918, sondern aus dem Zeitraum von 1919-1920. Die Existenz eines armenischen Bataillons in der französischen Armee während des Befreiungskriegs wurde gegen die ArmenierInnen benutzt. Sie wurden alle der „Kollaboration mit dem Imperialismus“ beschuldigt sowie als „fremdes Element“ abgestempelt.

Am Anfang des „Nationalen Befreiungskriegs“ war es für die kemalistische Bewegung notwendig sich vom „Komitee für Einheit und Fortschritt“ zu distanzieren. So berichtete Atatürk über den Kongress von Sivas: „Die ersten drei Tage, d.h. der 4.September, der Tag der Eröffnung, der 5.und 6. September, wurden mit Diskussionen über die Notwendigkeit ausgefüllt, einen Schwur zu leisten, um zu bestätigen, dass wir keine ‚Unionisten’ waren, ferner mit der Redaktion der Formel dieses Eides, einer Adresse an den Sultan, der Antworten auf die zu der Eröffnung des Kongresses eingegangenen Telegramme, und besonders mit der Erörterung der Frage, ob der Kongreß sich mit Politik befassen soll oder nicht.“ (ebenda, S. 76)

Über die politischen Motive dieser Distanzierung stellt Taner Akçam fest: „Die Distanzierungsbekundungen erfolgten gezwungenermaßen und erklären sich aus der politischen Stimmung, in der die Partei für den Krieg und den Völkermord verantwortlich gemacht wurde, insbesondere vom Ausland. Halil Pascha beschrieb dieses Doppelspiel in seinen Memoiren folgendermaßen: ‚Führend unter denen, die in Erzurum die Aktivitäten leiteten, die in Aydın und der Ägäis-Region das Volk organisierten, waren İttihadisten. Nur den ausländischen Mächten gegenüber mußte verheimlicht werden, daß die Bewegung eine Bewegung der İttihadisten war.’“6

Offiziell hatten die Kemalisten sich vom „Komitee für Einheit und Fortschritt“ distanziert, aber zugleich dessen Politik weitergeführt. Der deutsche Historiker Kurt Ziemke hat in seinem Buch „Die Neue Türkei“, folgende zutreffende Einschätzung vorgenommen:6

Das heutige kemalistische Regime hat die Anhänger des früheren jungtürkischen Komitees geradezu geächtet, so dass es den Anschein hat, als ob der jetzige Kurs in schroffem Gegensatz zu der jungtürkischen Linie eingeschlagen wurde. Das ist bei weitem nicht der Fall. Das kemalistische Programm ist im Grunde genommen eine Fortführung des jungtürkischen unter Anpassung an die veränderten Verhältnisse (…)“7

Letztendlich stellte Atatürk brutal offen, chauvinistisch klar und deutlich am 16. März 1923 in Adana in einer Ansprache an Kleinhändler fest: „In diesem fruchtbaren Land haben die Armenier kein Recht. Das Land gehört euch, gehört den Türken. Dieses Land war in der Geschichte türkisch, ist also türkisch und wird ewig als türkisch leben.“8

In den Jahren 1919-1922 wurde nicht nur gegen die imperialistische Entente, sondern auch gegen die im Land lebende armenische und griechische Bevölkerung Krieg geführt. Hunderttausende wurden ermordet und die Mehrheit der Pontusgriechen wurde deportiert. Auch die türkische „Nationale Bewegung“ wollte auf keinen Fall ein Armenien zwischen der Türkei und Aserbaidschan. Hätten die damaligen Kräfteverhältnisse es erlaubt, hätten sie die damalige Armenische Republik unter Führung der Daschnaken besetzt und das armenische Volk vernichtet. Der Roten Armee der jungen Sowjetmacht ist es zu verdanken, dass es dazu nicht gekommen ist. Sie hat die armenischen KommunistInnen unterstützt und verhindert, dass die türkische Armee weitere Massaker verübte.

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Lausanner Konferenz und Armenische Frage

Laut Atatürks Darstellung wurde diese Frage „In Lausanne: (…) ausgeschaltet.“9

Kurt Ziemke berichtet darüber wie folgt: „Auf dem ersten Teil der Lausanner Konferenz, zu der armenische Delegationen überhaupt nicht zugelassen wurden, haben die Alliierten wiederholt versucht, die Frage des Nationalheims [gemeint ist ein armenischer Staat in Westarmenien, Anmerkung TA] anzuschneiden. Ismet weigerte sich, sie überhaupt zu diskutieren. Es blieb nichts anderes übrig, als diese Weigerung zu registrieren. Der erste Vertragsentwurf vom 31.Januar 1923 enthielt mithin keine Sonderbestimmungen mehr für die Armenier. Die Alliierten hatten sie aufgegeben. Nach Wiederaufnahme der Lausanner Konferenz sind die Alliierten auf das Nationalheim nicht wieder zurückgekommen. Es war allerdings noch ziemlich viel von Armeniern die Rede, aber nur im Zusammenhang mit den Wirkungen der zu vereinbarenden Deklaration über die Amnestie. In den Sitzungen … verlangte Sir Horace Rumbold wiederholt von der türkischen Delegation die Abgabe einer bündigen Zusicherung, dass der Erlaß dieser Amnestie den geflüchteten Armeniern die freie und ungestörte Rückkehr gestatte. Ismet antwortete mit einem klaren Nein; er erklärte ausdrücklich, dass die Amnestie den Armeniern nicht die Rückkehr erlaube und das überhaupt eine ‚rentrèe en masse’ [Massenrückkehr, Anmerkung TA] aus Gründen der Staatssicherheit ausgeschlossen sei.

Die Alliierten haben sich auch mit dieser Ablehnung zufrieden geben müssen. Die Aussprache vom 19.Mai hat die Lage der armenischen Flüchtlinge wenigstens geklärt. Die Rückkehr in die Türkei bleibt ihnen verschlossen; nach türkischer Auffassung haben sie ferner ihre türkische Staatsangehörigkeit verloren, sie gehören also nicht zu den durch den Lausanner Vertrag geschützten Minderheiten, sondern sind heimatlos geworden. Sie müssen sich ein anderes Vaterland suchen. Der Lausanner Vertrag begrub die letzten Hoffnungen der Armenier.“10

Die deportierten ArmenierInnen, die den Völkermord überlebten, erhielten kein Rückkehrrecht. Die Türen und Tore der „Jungen Türkei“ blieben ihnen für immer verschlossen. Mit dem Lausanner Vertrag wurde die Einverleibung Westarmeniens in das Staatsgebiet der Türkei international legitimiert und festgeschrieben.

Lausanner Vertrag und Schutz der Minderheiten

Der Lausanner Vertrag war ein von den imperialistischen Siegermächten, allen voran England und Frankreich, diktierter Vertrag. Aber für die türkische „Nationale Bewegung“ war er ein enormer Erfolg. Denn er revidierte den Vertrag von Sèvres, indem die internationale Anerkennung des türkischen Staats deklariert wurde. Er trat am 6. Juni 1924 in Kraft.

In den Artikeln 37 bis 45 wurde der „Schutz der Minderheiten“ festgelegt. Für die Anerkennung als Minderheit war das einzige Kriterium die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft und nicht zu einer Nation bzw. Nationalität. Daraus folgte die Benennung „nicht-mohammedanische Minderheiten“. Unter diesem Begriff „nicht-mohammedanische Minderheiten“ wurden später offiziell nur Armenier, Griechen und Juden gefasst, Assyrer beispielsweise wurden nicht einmal als „nicht-mohammedanische Minderheit“ anerkannt.

Artikel 37 des Lausanner Vertrags legte fest: „Die Türkei verpflichtet sich zur Anerkennung der in Artikel 38 bis 48 festgelegten Bedingungen als Grundgesetze, kein Gesetz, keine Verordnung oder offizielle Handlung darf diese Bedingungen beeinträchtigen oder verletzen.“11

Laut Artikel 38-43 haben die „nicht-mohammedanischen Minderheiten“ gleiche bürgerliche und politische Rechte: Zulassung zu öffentlichen Ämtern; Recht auf völlige Freizügigkeit; keine Beschränkung irgendeiner Sprache im persönlichen Verkehr, im Handel, bezüglich der Religion, in Presse oder Veröffentlichungen; Gleichberechtigung durch die Errichtung, Verwaltung und Kontrolle religiöser und sozialer Institutionen aus eigenen Finanzmitteln, wie Schulen und andere Erziehungsinstitutionen sowie das Recht in diesen, ihre eigene Sprache zu gebrauchen und ihre eigene Religion frei ausüben zu können. Diese Festlegungen entsprachen international anerkannten Minderheitenrechten. Das war ein „gutwilliger“ Wunschzettel, der aber in der Türkei das Papier nicht wert, auf dem es stand. Der letzten Absatz des Artikel 42 des Lausanner Vertrags lautete: „Die türkische Regierung verpflichtet sich, den Kirchen, Synagogen, Friedhöfen und anderen religiösen Einrichtungen der oben erwähnten Minderheiten, völligen Schutz zu garantieren. Die gesamte Vollmacht wird den religiösen Stiftungen garantiert, sowie den religiösen und gemeinnützigen Institutionen der genannten Minderheiten, die gegenwärtig in der Türkei existieren, und die türkische Regierung wird die Bildung neuer religiöser und gemeinnütziger Institutionen sowie aller notwendigen Schritte, die anderen privaten Institutionen dieser Art garantiert sind, nicht ablehnen.“ (ebenda)

Die mit dem Lausanner Vertrag festgeschriebenen Rechte hätten die christlichen und jüdischen Minderheiten vor dem „Untergang“ geschützt, wären sie eingehalten worden. Wie die kemalistischen Machthaber mit dem „Schutz der Minderheiten“ umgegangen sind, sehen wir an den Beispielen, aus 91 Jahren Geschichte der Republik Türkei.

Republik Türkei und rassistische, faschistische Unterdrückung

Die Republik Türkei wurde am 29. Oktober 1923 gegründet. Nachdem die kemalistische Herrschaft sich sicher fühlte, dass sie die Staatsmacht in Händen hatte, ging sie zu einem faschistischen Herrschaftssystem über. Jegliche oppositionelle Tätigkeit wurde verboten. Eine Türkisierungs- und Zwangsassimilationspolitik wurde brutal umgesetzt. Davon waren alle nicht türkischen Nationen und Nationalitäten betroffen. Nach wie vor waren für den türkischen Staat die Minderheiten „fremde Völker“ und „innere Feinde“, die nicht türkisiert werden konnten. Die logische Konsequenz für die Herrscher war, eine Türkei „frei von Minderheiten“ zu schaffen. Diese rassistische Politik beinhaltete auch die mörderische Haltung des Staates. Es war dies die Kontinuität der rassistischen Politik des Pantürkismus/Panturanismus, die unter der kemalistischen faschistischen Diktatur in anderer Form fortgeführt wurde. Alle „nicht-mohammedanischen Minderheiten“ waren von dieser Politik unterworfen.

Wir beschränken uns hier auf das spezifische Vorgehen der türkischen Herrschenden gegenüber dem armenischen Volk, das darauf ausgerichtet war, seine Existenz im türkischen Staatsgebiet möglichst zu vernichten: Im wirtschaftlichen Bereich durch Enteignung, bezüglich der Kultur durch willkürliche Unterdrückung und Türkisierung praktiziert durch Verbot und Zerstörung von Schulen, Sprache, Kirchen, Geschichte… Da nicht alles, was dem armenischen Volk in den Jahren 1923-2015 angetan wurde, in einem Artikel ausführlich dargestellt werden kann, führen wir zentrale Ereignisse an, die beispielhaft für die ungeheure Repression des türkischen Staats gegen das armenische Volk stehen.

Eckpfeiler der Enteignung

Die größte Enteignungsmaßnahme wurde während des Völkermords verwirklicht. Das gesamte Hab und Gut der Deportierten, Ermordeten wurde beschlagnahmt. Die Herrschenden, Bürokraten, Befehlshaber und auch Teile der Bevölkerung der türkischen, kurdischen und anderen islamischen Nationen und Nationalitäten haben sich daran maßlos bereichert. Damit war der Enteignungsprozess aber noch nicht abgeschlossen. In den Jahren 1919-1923 wurde dieser Prozess als die kemalistische Bewegung sich für das Ausland angeblich von den Ittihadisten distanzierte, vorübergehend gestoppt.

Die offizielle Grundlage der Türkisierungspolitik auf wirtschaftlicher Ebene wurde dann mit dem „Wirtschaftskongress von Izmir“ im Frühjahr 1923 gelegt. Unter den 1 135 Delegierten war kein einziger Vertreter der nicht islamischen Minderheiten. Der Kongress setzte sich das Ziel, die noch nicht erstarkte türkische Bourgeoisie zu unterstützen und zu fördern. Am 15. April 1923 wurde das „Gesetz der aufgegebenen Eigentümer“ erlassen, das die Beschlagnahmung der Besitztümer der während Völkermord und „türkischem Befreiungskrieg“ ums Leben gekommenen oder nicht mehr in der Türkei lebenden ArmenierInnen „regelte“.

In der Diskussion über dieses Gesetz in der „Türkischen Großen Nationalversammlung“ brachte als einziger der Abgeordnete Ahmed Rıza einen grundlegenden Einwand vor: „Es ist gesetzeswidrig, das armenische Vermögen für die Armenier als ‚aufgegebene Güter’ zu klassifizieren, die Eigentümer gaben ihr Eigentum nicht freiwillig auf; sie wurden gewaltsam und erzwungenermaßen von ihren Wohnorten verschleppt und vertrieben. Nun unternimmt die Regierung Anstrengungen deren Güter zu verkaufen… Falls wir ein verfassungsmäßiges Regime wären, das im Einklang mit dem Verfassungsrecht arbeitet, können wir dies nicht machen. Das ist grauenhaft. Nimm mich am Arm, wirf mich aus meinem Dorf, verkaufe dann meine Waren und mein Eigentum, so etwas ist nie zulässig. Dies erlaubt weder das Gewissen der Osmanen noch das Gesetz.“12

Er legte den Finger in die Wunde. Die ArmenierInnen hatten ihre Wohnorte und ihren Besitz nicht freiwillig „aufgegeben“, sondern wurden deportiert, vertrieben und zahlreiche ermordet.

Dieses Gesetz war gleichzeitig Instrument der Leugnungspolitik der kemalistischen Bewegung gegenüber dem Völkermord an den Armeniern.

Diese Türkisierungspolitik und das Konfiszieren armenischen Eigentums war wichtiger Hintergrund dafür, warum im Lausanner Vertrag den deportierten und überlebenden Armeniern auf keinen Fall ein Rückkehrrecht eingeräumt werden sollte. Das war den türkischen Herrschenden aber noch nicht genug. Um sicher zu sein, dass kein Armenier nach Westarmenien zurückkehren konnte, wurden weitere Maßnahmen getroffen: Ausbürgerung! Am 31. Mai 1927 wurde das Gesetz Nummer 1041 verabschiedet, womit alle „Osmanischen Bürger“, die zwischen dem 24. Juli 1923 und dem 31. Mai 1927 nicht in der Türkei wohnten, ausgebürgert wurden. Davon waren vor allem ArmenierInnen aber auch andere christliche Minderheiten betroffen. So sicherten sich die türkischen Herrschenden die enteigneten Besitztümer der armenischen Bevölkerung.

Der wichtigste Eckpfeiler der Enteignung auch für spätere Jahre, war das November 1942 in Kraft getretene „Vermögenssteuer-Gesetz“. Im Text wird kein Unterschied zwischen mohammedanischen und nicht-mohammedanischen BürgerInnen gemacht. Es zielte aber hauptsächlich darauf ab, die nicht islamischen Minderheiten zu enteignen. Die konkreten Angaben zeigen es deutlich: Vermögenssteuer mussten nach diesem Gesetz 87% der nicht muslimischen Minderheiten leisten. Die Höhe der Vermögenssteuer wurde willkürlich festgelegt: Die armenische Bevölkerung wurde, verglichen mit ihrem Vermögen, mit 232%, die jüdische mit 179% und die griechische mit 156% besteuert! Dagegen sollten die islamischen, türkischen Händler und Kapitalisten nur 4,94% Steuer zahlen. Der Besitz derjenigen, die die Steuer nicht aufbringen konnten, wurde gepfändet und zu niedrigsten Preisen an die türkische Bevölkerung versteigert.

Die Menschen, die die vorgeschriebene Wuchersteuer nicht aufbringen konnten, wurden zu Zwangsarbeit, vor allem nach Aşkale, in „Arbeitslager“ verbannt. Alle Verbannten waren keine Muslime. Die türkische Regierung ahmte Hitler-Deutschland nach: „Arbeitslager“ wurden offiziell auch „Konzentrationszentrum“ genannt! Bis dieses Gesetz im März 1944 abgeschafft wurde, hatten viele Betroffene ihr gesamtes Vermögen verloren. Allein in Istanbul wurden Tausende Immobilien und Eigentum der Minderheiten beschlagnahmt. Der türkische Staat hatte einen weiteren
Schritt in der totalen Enteignung der Minderheiten verwirklicht und die türkische Bourgeoisie weiter ökonomisch gestärkt.

Für die Enteignung per Gesetz war ein weiterer wichtiger Eckpfeiler der Beschluss des Kassationsgerichtshofs vom 8. Mai 1974 gegen Stiftungen der nicht islamischen Minderheiten. Im Jahr 1936 hatte die türkische Regierung von diesen Institutionen eine Auflistung ihres gesamten Immobilienbesitzes verlangt. 1974, während der Zypernkrise wurden alle Vermögenswerte, die nicht in den Besitzunterlagen von 1936 aufgelistet waren, alle Immobilien, die den Gemeinnützigen Stiftungen nach 1936 übereignet wurden, als illegal erworbene deklariert und etwa 1 410 Immobilien – Kirchen, Schulen, Wohnbauten, Krankenhäuser, Sommercamps, Friedhöfe, Waisenhäuser – vom Staat konfisziert.

Wie mit der Enteignung weiterhin umgegangen wurde, zeigt uns die Haltung des türkischen „Nationalen Sicherheitsrates“ 2005. Zur Debatte standen die Digitalisierung und Offenlegung der osmanischen Landregistrierung, der Schriftgüter und Urkunden. Der Nationale Sicherheitsrat „warnte“: „Die osmanischen Aufzeichnungen, die in den Generaldirektionsbüros der Grundbuch- und Katastererhebung aufbewahrt werden, müssen verschlossen und der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht werden, da sie das Potential haben, von den Behauptungen zum angeblichen Völkermord und Eigentumsansprüchen gegen die Vermögen der Staatlichen Wohltätigkeitsstiftung ausgenutzt zu werden. Die Öffnung derer zum allgemeinen öffentlichen Gebrauch ist gegen die Interessen des Staates.“ (ebd)

Entsprechend dieser „Warnung“ wur­de das Projekt fallen gelassen und die „Aufzeichnungen“ sind weiterhin in den Schränken verschlossen und unzugänglich, bis heute.

Kurze Chronologie staatlicher Repression und Restriktion

Die kemalistische Bewegung begann mit der Türkisierungspolitik in allen Lebensbereichen schon vor dem Lausanner Vertrag. Mustafa Kemal beschwerte sich bereits November 1919: „Eine so wichtige Direktion wie die der Personalabteilung ist einem Armenier anvertraut.“13 ist. Im Juni 1923 wurden Beamte, die keine Türken bzw. Muslime waren, entlassen.

In den ersten Jahren der Republik Türkei wurde das Recht auf Freizügigkeit der nicht muslimischen Minderheiten stark beschränkt. Januar 1924 wurde per Gesetz als Voraussetzung für die Ausübung des Apothekerberufes „Türke sein“ festgelegt. Mit dem März 1924 beschlossenen Gesetz „Tevhid-i Tedrisat“ wurde unter anderem die Restaurierung, Erweiterung oder Errichtung neuer Schulen eingeschränkt. Im April 1924 folgte das Berufsverbot per Gesetz für 75% der armenischen (auch jüdische und griechische Anwälte waren betroffen) Anwälte. März 1926 wurde „Türke sein“ gesetzliche Voraussetzung um den Beamtenstatus zu erhalten. Im Jahr 1925 wurden die Gemeinden, die Institutionen und die Stiftungen der jüdischen, armenischen, griechischen Minderheiten unter Druck gesetzt und gezwungen, auf den Artikel 42 des Lausanner Abkommens zu verzichten. Obwohl der erzwungene Verzicht der Minderheiten sich nur auf diesen einen Artikel bezog, wurde dieser Vorgang vom türkischen Staat als Verzicht auf den kompletten „Schutz der Minderheiten“ propagiert.

April 1926 wurde per Erlass das Türkische vorgeschriebene Staatssprache bei wirtschaftlichem Schriftverkehr. Wer an den entsprechenden Stellen der türkischen Schrift nicht mächtig war, verlor seinen Arbeitsplatz. Januar 1928 wurden die nationalen Minderheiten mit der Kampagne „Sprich Türkisch“ gezwungen, nur noch türkisch zu sprechen. Menschen, die der türkischen Sprache nicht mächtig waren, wurden bedroht, geschlagen und auf andere Weise gequält. April 1928 wurde, wie vier Jahre zuvor für Anwälte, per Gesetz vorgeschrieben, dass nur „Türken“ den Arztberuf ausüben dürfen. Das kam einem Berufsverbot für armenische Ärzte gleich!

Alle diese Repressalien sowie sozialen, ökonomischen, nationalen, religiösen Ausgrenzungen waren begründet in der rassistischen, türkisch-chauvinistischen, kemalistischen Ideologie. Diese brachte Justizminister M. E. Bozkurt beispielhaft zynisch-faschistisch auf den Punkt: „Die die keine echten Türken sind, haben im Vaterland der Türken ein Recht und das ist, Diener zu sein, Sklave zu sein.“14 Und diese Politik wurde immer weiter ausgebaut: Per Gesetz mussten Juni 1932 Menschen, die als „Fremde” bezeichnet wurden, innerhalb von sechs Monaten ihren Arbeitsplatz verlassen. Juni 1932 folgte das gesetzliche Verbot für „Fremde”, bestimmte Berufe auszuführen. (Dies traf in erster Linie griechische Menschen, aber auch andere Minderheiten).

Am 14. Juni 1934 wurde ein „Ansiedelungsgesetz” (İskan Kanunu) verabschiedet. Dieses war vor allem gegen KurdInnen, aber auch ArmenierInnen und GriechInnen gerichtet. Zehntausende Menschen wurden Opfer der nun folgenden Zwangsumsiedlung. Die Zwangsumsiedlung wurde 1938 und 1939 verstärkt gegen nicht muslimische Minderheiten angeordnet, mit der Begründung sie würden „im kommenden Krieg die Nationale Sicherheit bedrohen”. Tausende ArmenierInnen wurden in die Großstädte, hauptsächlich nach Istanbul deportiert.

Ab Januar 1935 wurde die armenische Bevölkerung mit dem „Nachnamensänderungs-Gesetz” gezwungen ihre Namen zu ändern und zu „türkisieren“. Damit wurden die in armenischen Nachnamen häufigen Endungen wie „ian, yan” verboten.

Im Jahr 1955 wurde in der Nacht vom 6. auf den 7. September 1955 in Istanbul, ein von Staatskräften geheim organisierter Pogrom mit Plünderung und Angriffen gestartet. In der staatlich gleichgeschalteten Presse wurde die Nachricht lanciert, gegen das Geburtshaus Atatürks in Thessaloniki sei ein Bombenattentat verübt worden. Eine Stunde später begann zeitgleich an vielen Orten in Istanbul die systematische Plünderung vor allem griechischer, aber auch armenischer und jüdischer Geschäftshäuser. In Einrichtungen wie Kirchen, Schulen und in Privathäuser wurde eingebrochen. Hunderte Menschen wurden krankenhausreif geprügelt und 200 Frauen vergewaltigt. Die Zahl der Ermordeten wird zwischen zwei und 17 angegeben. Ein staatlicher Pogrom! An diesen beiden Tagen wurden 4 340 Geschäfte sowie 38 Kirchen vollständig zerstört. 35 Kirchen geplündert und beschädigt. Vier armenische und sämtliche griechischen Friedhöfe geschändet. 44 Schulen – darunter acht armenische – und 2 640 griechische Häuser überfallen und verwüstet.

Diese Barbarei wurde vom damaligen Innenminister und den Militärkommandeuren als „Nationale Aufregung und eine hervorragende Organisierung“ bezeichnet. Die Täter versuchten die „Kommunisten“ als Verantwortliche für die Pogrome hinzustellen und verhafteten als ersten Aziz Nesin (Autor, Satiriker, Kommunist) und 44 seiner Genossen. Eine Folge der grausamen Übergriffe war, dass Zehntausende Griechen und Armenier die Flucht ergriffen und auswanderten. Diese Fluchtwelle hielt mehrere Jahre an.

Allein diese stark gekürzte Chronologie ist Beweis dafür, welche Politik in der Republik Türkei gegenüber dem armenischen Volk betrieben wurde. Die rassistische Türkisierungspolitik begnügte sich nicht damit, dass die armenische Nation in Westarmenien vernichtet worden war, sondern versuchte auch alle Spuren und das Leben der armenischen Nation in der Türkei auszulöschen. Ende der fünfziger Jahre des 20. Jahrhundert wurden sämtliche Namen von Städten, Dörfern und Siedlungen im historischen Westarmenien fast vollständig geändert und türkisiert. Laut Angaben von 1914, gab es im Osmanischen Reich 2 538 Kirchen, 451 Kloster und 2 000 armenische Schulen. Im Schuljahr 1924/1925 existierten noch 138 Schulen von Minderheiten, in 2011/2012 nur noch 22. Davon sind 16 armenische Schulen. Der größte Teil der Kirchen, Klöster, Kapellen, Gedenksteine (Kreuzsteine) und andere Kulturdenkmäler wurden gezielt zerstört. Einigermaßen intakte Gebäude wurden in Moscheen, Ställe, Lagerräume, Koranschulen u.ä. umgewandelt und so von den Zerstörern für ihre eigenen Zwecke benutzt.

Diese Repressionen und Restriktionen führten zur Auswanderung der wenigen noch überlebenden ArmenierInnen. Laut Angaben des Armenischen Patriarchats leben aktuell 2015 ca. 70 000 ArmenierInnen in der Türkei. Davon sind ca. 30 000 ArmenierInnen aus der armenischen Republik und haben keine türkische Staatsbürgerschaft. Fazit: Vor hundert Jahren umfasste die armenische Nation im Osmanischen Reich mehr als zwei Millionen Menschen. 1919 lebten in den Grenzen der Türkei ca. 280000 und 2015 sind es nur noch ca. 40000 ArmenierInnen, die über die türkische Staatsbürgerschaft verfügen.

Armenien 2015

Kemalistische Republik und Völkermordtäter von 1915

Während die Herrschenden der Republik Türkei ihre Vernichtungspolitik gegenüber dem armenischen Volk in verschiedener Weise weiterführten, wurden die Völkermordtäter geehrt und belohnt. Von der „Türkischen Nationalen Großversammlung” wurde am 14. Oktober 1922 Kemal Bey zum „Nationalen Gefallenen” erklärt. Seiner Familie wurde gleichzeitig eine Rente zugesprochen. Während des Völkermordes war Kemal Bey Landrat von Boğazlıyan. Er wurde in den „Istanbuler Prozessen” aufgrund seiner Mordtaten zum Tode verurteilt und hingerichtet.

April 1924 wurde ein Gesetz erlassen, nach dem viele Angehörige von Verantwortlichen für den Völkermord eine Rente erhielten. Durch Regierungsbeschluss wurden im Mai 1926 den Familien der Hauptverantwortlichen des Völkermords Besitzurkunden für von Armeniern geraubte Immobilien, damals im Wert von 20 000 türkischen Lira, ausgehändigt.

Der Staat nahm sich der Täter auch nach ihrem Tode an. Sowohl jene, die von armenischen Rächern getötet, als auch diejenigen, die in Istanbul hingerichtet worden waren, galten als ‚Gefallene’. Ihre Familien erhielten durch Gesetz vom 31. Mai 1926 Besitzurkunden für Immobilien, die ‚von Armeniern zurückgelassen’ worden waren.“15

Am 25. Februar 1943 wurde der Leichnam von Talat Pascha, organisiert vom Hitlerregime unter militärischen Ehrenbezeugungen von Berlin nach Istanbul überführt und am „Freiheits-Denkmal” (Abide-i Hürriyet) der jungtürkischen Revolution von 1908 beigesetzt. Am 4. August 1996 wurde auch der Leichnam von Enver Pascha, mit einem Staatsakt von Tadschikistan nach Istanbul überführt und ebenfalls am „Freiheits-Denkmal” beigesetzt. Enver wurde als „Held der Freiheit und des Sieges” gefeiert.

Während die verstorbenen Mörder so geehrt und belohnt wurden, wurden die noch lebenden Täter mit hohen, lukrativen Posten im Staatsapparat ausgestattet. Şükrü Kaya, der offiziell für die Deportationen zuständig war, hatte ab 1924 als Minister verschiedene Ressorts inne. Von 1927 bis 1938 amtierte er ununterbrochen als Innenminister. Gleichzeitig war er Generalsekretär der Republikanischen Volkspartei Atatürks – die damals einzig zugelassene Partei. Mustafa Abdülhalik (Renda) Gouverneur von Bitlis und Aleppo, er ließ unter anderem im Gebiet um Muş Tausende ArmenierInnen bei lebendigem Leib verbrennen. Er erhielt nacheinander den Posten als Finanz-, Erziehungs- und Verteidigungsminister und war auch Parlamentspräsident.

Der nach dem Ersten Weltkrieg wegen Beteiligung an den Deportationen gesuchte Celal Bayar, brachte es später bis zum Amt des dritten Staatspräsidenten der Republik Türkei … um nur einige zu nennen.

Auch die Haltung der Herrschenden der Republik Türkei gegenüber den Völkermordtätern beweist eindringlich, die Kontinuität zwischen der kemalistischen Türkei und dem „Komitee für Einheit und Fortschritt“ in der „armenischen Frage“. Was das „Komitee für Einheit und Fortschritt“ mit dem Völkermord erreichen wollte, die vollständige Vernichtung der armenischen Nation, aber durch die Niederlage beim Ersten Weltkrieg nicht zu Ende führen konnte, versuchten die „neuen“ Machthaber der Republik Türkei mit anderen Mitteln und Wegen umzusetzen.

Diese Tatsache kann nicht aus der Welt geschafft werden: weder durch die Entscheidungen türkischer Gerichte, einige der beschlagnahmten Liegenschaften an ArmenierInnen zurück zu geben, noch durch das vom damaligen Ministerpräsidenten, heutigen Staatspräsidenten Erdoğan im April 2014 zum ersten Mal ausgesprochene „Beileid”. An der rassistisch-faschistischen Grundhaltung der Republik Türkei gegenüber dem armenischen Volk änderte sich dadurch nichts Wesentliches. Wie wir in unserer gemeinsamen Erklärung mit Bolşevik Partizan festgehalten haben:

Ein ganz kleiner, positiver Schritt, der aber angesichts zum Beispiel der aktuellen Bildungspolitik, nur auf der Ebene von Lippenbekenntnissen bleibt.

Die neuen Schulbücher 2014/2015 tischen wieder alle bisherigen Verleumdungen, Lügen und Geschichtsfälschungen über den Völkermord auf. Die SchülerInnen ‚lernen’, dass das Wort ‚Armenier’ ein Synonym für ‚Feind’ und ‚Verräter’ ist. Was fühlen armenische SchülerInnen, deren Vorfahren hingemetzelt wurden, bei dieser Geschichtsfälschung? Welchen Anfeindungen sind sie ausgesetzt? Und das angesichts des 100-jährigen Gedenktages an den Völkermord!

Bis auf den heutigen Tag ist die armenische Gemeinschaft/Nationalität in Nordkurdistan-Türkei Rassismus, türkischem Chauvinismus, Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt.“ (TA, Nr. 68, S. 71)

August 2015

Armenien Konzert

Völkermord an den Armeniern: Debatte über demokratische Forderungen

Anmerkung eines TA-Lesers sowie Kritiken der IA.RKP, Mai 2015

Antwort von Bolşevik Partizan und Trotz alledem

Eine Anmerkung zum Flugblatt

100 Jahre Völkermord – Pein und Leid des armenischen Volkes“

– Ich schicke voraus, dass das Flugblatt der BP / TA m.E. in der Darstellung der Geschichte und in der politischen Stoßrichtung völlig richtig ist. Insbesondere für jeden Armenier und Angehörigen jeder anderen nationalen Minderheit in der Türkei, aber auch für jeden Demokraten und Antichauvinisten auf der Welt ist es ein erhebendes und befreiendes Erlebnis, einen solchen Text von türkischer Seite in die Hand zu kriegen.

Ich selbst, als Kommunist, bin davon natürlich nicht überrascht, sondern setze eine solche Haltung bei einem türkischen Kommunisten als selbstverständlich voraus – aber ich bin mit einem halben Dutzend Armeniern/Armenierinnen (aus der Türkei stammend, einige noch in Istanbul lebend) befreundet, lauter mehr oder weniger fortschrittliche Menschen, zumindest eine davon mit der Sache des revolutionären Kommunismus sympathisierend.

Bei einem Treffen haben wir unlängst auch das Flugblatt diskutiert – und jetzt glauben mir alle wieder ein bisschen mehr, dass der weitere Gang der Geschichte wohl doch der Marx‘schen Bemerkung (damals zur Unterdrückung Irlands durch England) folgen wird, dass „ein Volk, das andere unterdrückt, selbst nicht frei sein kann“, also dass sich früher oder später in der Türkei eine mächtige revolutionär-demokratische antichauvinistische Strömung entwickeln wird – und muss, wenn sich die türkische Arbeiterklasse befreien will.

Aus dieser Diskussion nehme ich aber auch folgende Schwachpunkte bei drei der acht „Forderungen an den Staat der Türkischen Republik“ mit, Punkte, die von „meinen“ Armeniern/Armenierinnen durchwegs bestätigt wurden:

„Recht auf Selbstbestimmung und auf Lostrennung für Westarmenien“: Meine Freunde (einige stammen in der Großelterngeneration aus Istanbul, einige aus Kayseri) bestätigten mir, es gäbe im Ostteil der Türkei keine halbwegs geschlossenen armenischen Siedlungsgebiete mehr, sondern die früher dort lebenden Armenier lebten entweder (mehrheitlich) im Ausland oder in Istanbul und anderen Städten in Westanatolien. Ein Recht auf territoriale Lostrennung eines armenischen Siedlungsgebietes entbehrt unter solchen Umständen der Grundlage und das Recht auf Selbstbestimmung bezieht sich unter diesen Bedingungen „nur“ auf die armenische Identität (siehe dazu einige der anderen Forderungen). Mir fällt dazu auch das Beispiel der sowjetischen Politik gegenüber den Roma ein („Nation ohne Territorium“).

Antwort Bolşevik Partizan und Trotz Alledem:

Die Forderung des „Rechts auf Selbstbestimmung und Lostrennung für Westarmenien“ ist verbunden mit dem Recht auf Rückkehr nach Westarmenien. Wir sind uns bewusst, dass heute „kein halbwegs geschlossenes armenisches Siedlungsgebiet“ in Westarmenien (für Kurden ist Westarmenien ein Teil Nordkurdistans; für den türkischen Staat Ostanatolien) existiert.

Die Frage ist: Warum? Weil die ursprüngliche armenische Bevölkerung durch den Völkermord aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben und vernichtet wurde. Es ist eine demokratische Forderung, die die KommunistInnen aufstellen müssen, damit die Nachfahren der ermordeten, vertriebenen und überlebenden ArmenierInnen das Recht haben in ihr Land zurückzukehren. Würden die ArmenierInnen aus der Diaspora und der armenischen Republik dieses Recht in Anspruch nehmen, wäre es durchaus möglich, dass in Westarmenien ein geschlossenes armenisches Siedlungsgebiet wieder entsteht.

Das bedeutet keineswegs, dass damit die Vertreibung der aktuell dort lebenden kurdischen bzw. türkischen Bevölkerung verbunden wäre. Dieses Gebiet, bzw. die armenische Nation hätte dann das Recht auf Selbstbestimmung, einschließlich Lostrennung vom türkischen Staat. Wenn von Völkermord geredet wird, ohne das Rückkehr- und Selbstbestimmungsrecht zu fordern, ist es unserer Meinung nach eine halbherzige Anerkennung des Völkermords. Viele ArmenierInnen in der Diaspora, in unzählige Länder der Welt verstreut, wollen das Recht haben, die türkische Staatsbürgerschaft anzunehmen und zurückzukehren.

Wir sind auf Veranstaltungen und Aktionen zum 100.Gedenkjahr in Armenien, Türkei und Deutschland vielen armenischen Menschen begegnet und haben zusammen diskutiert. Sie waren bewegt und hoffnungsfroh, dass eine politische Organisation aus Nordkurdistan/Türkei das Rückkehrrecht und Entschädigungen einfordert. Das sei „der wirklich konkrete, menschliche, demokratische Schritt zur Aussöhnung der Völker“.

Die marxistisch-leninistische Lösung der nationalen Frage erfordert, ausgehend von den grundlegenden Prinzipien immer auch eine ganz konkrete Herangehensweise. Dafür existieren in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung zahlreiche historische Beispiele. Eines davon ist die Errichtung des nationalen „Jüdischen Autonomen Gebiet“ (JAG), bekannt unter dem Namen seiner Hauptstadt „Briobidshan“, 1934 in der Sowjetunion an der chinesisch-sowjetischen Grenze. Z.B. die praktische Umsetzung des Rechts auf Lostrennung für die finnische Nation durch den jungen Sowjetstaat.

Die konkreten historischen Entwicklungen in der armenischen Frage, wie die 100 jährige Leugnung des Genozids und die kemalistisch-faschistische Staatsdoktrin, sowie der vorherrschende türkische Chauvinismus erfordern die aufgeführten demokratischen Forderungen in Nordkurdistan/Türkei (wie auch in gewisser Weise in Deutschland) aufzustellen. Nur dadurch wird konkret ein demokratisches Bewusstsein in der Konfrontation mit der Völkermordgeschichte des osmanischen Staates innerhalb der Werktätigen geschaffen.

Leserbrief:

– „Rückgabe geraubter Häuser, Grund und Bodens usw.“ – Restitution an wen? Wenn keiner mehr dort lebt, läuft das eventuell auf etwas Ähnliches (auf etwas Ähnliches, nicht auf dasselbe!) hinaus wie deutsche und österreichische Umtriebe seit 1990 bezüglich früheren Eigentums in Tschechien etc. Statt Restitution an Menschen, die tatsächlich zurücksiedeln möchten, dreht es sich hier um pure niederträchtige Geldgier und Spekulation von „Jungvertriebenen“, vermischt mit revanchistischem Unrat. So etwas bekämpft nicht den Chauvinismus, sondern heizt ihn sogar an.

Antwort:

Wir meinen, die „deutschen und österreichischen Umtriebe“ (wenn du damit die Forderungen der „vertriebenen“ Sudetendeutschen etc. meinst) können nicht mit der Frage der Entschädigung der armenischen Nachfahren des Völkermordes gleichgesetzt werden. (Und schon gleich gar nicht mit „niederträchtiger Geldgier“.) Alle Umsiedlungen im Rahmen des Potsdamer Abkommens waren gerecht und Ausdruck der antifaschistischen Politik der sozialistischen Sowjetunion.

Die Frage stellt sich für die Nachfahren der ArmenierInnen ganz anders. Wenn vor allem türkische und kurdische KommunistInnen die Rückgabe geraubter Häuser, Grund und Bodens, Restitutionen fordern, so hat das nur damit zu tun, dass dieses historische Unrecht, das zu Beginn der Entwicklung des Imperialismus und der Nationenbildung begangen wurde, noch immer ein Hindernis in der Entwicklung des Klassenbewusstseins der Völker ist. Darum ist es unsere Aufgabe den barbarischen Genozid ins Bewusstsein der Werktätigen zu rufen und praktische Schritte zu einer Versöhnung der Völker zu gehen.

Die Frage an wen Restitutionen, Entschädigungen zu geben sind, ist ziemlich eindeutig zu beantworten: An die Nachfahren der beraubten ArmenierInnen und wenn keine mehr ausfindig zu machen sind, dann entweder an armenische Stiftungen/Organisationen in der Türkei, in Armenien oder in der Diaspora. Ein Großteil der „ursprünglichen Akkumulation“ der heutigen türkischen Bourgeoisie (im Übrigen auch der kurdischen) beruht auf dem Raub armenischer Güter und Kapitals. Sogar der Grund und Boden auf dem das monumentale Atatürk Mausoleum sowie der Präsidenten-Herrschaftspalast Erdoğans gebaut wurden, sind armenisches Eigentum! Es ist eine unbedingte Notwendigkeit, diese geschichtliche Tatsache ins Bewusstsein der Werktätigen zu rufen und bereit zu sein diese Konsequenzen zu tragen.

Leserbrief:

– „Entschädigungen an die Republik Armenien“ – an den heutigen Staat Armenien? Das russische Armenien war von dem Völkermord überhaupt nicht betroffen und spielte andererseits nach dem Zusammenbruch des Zarismus und des Osmanischen Reichs und vor der Erkämpfung einer armenischen Sowjetrepublik eine üble Rolle auf heutigem türkischem Territorium, d.h. die armenische Bourgeoisie frönte ihren expansionistischen Ambitionen. Die heute in Armenien an der Macht befindliche Bourgeoisklasse ist aber zweifellos der ideelle Nachfolger des damaligen reaktionären Armenien.

Antwort:

Zunächst, zu sagen dass das „russische“ Armenien vom Völkermord überhaupt nicht betroffen war, ist falsch. Nach Ostarmenien sind während und direkt nach dem Völkermord ca. 300000 überlebende ArmenierInnen aus Westarmenien und dem osmanischen Reich geflohen. Das war eine große ‚Herausforderung‘ an den damaligen armenischen Staat. Nach dem 2. Weltkrieg migrierten nochmals 120000 ArmenierInnen, zum größten Teil aus der Diaspora, aber auch aus der Türkei in die Republik Armenien. Wir meinen, dass der heutige armenische Staat, die einzige staatliche Vertretung der armenischen Nation ist und als solche die Adresse der Restitutionen, wenn es keine Nachkommen von ermordeten Armeniern gibt. Auch wenn die armenische Bourgeoisie und der armenische Staat reaktionär sind, ist die Forderung nach Entschädigungen etc. richtig, demokratisch, da es sich um eine nationale Frage handelt.

Leserbrief:

– Aber – wie gesagt – das sind m.E. in concreto unzutreffende Forderungen, sie ändern aber nichts an der politischen Substanz des Flugblatts.

Schlußbemerkung BP und TA: Wir danken Dir für die konstruktive Kritik und hoffen einige Fragen von unserer Sichtweise aus konkreter und klarer dargestellt zu haben, als es im Rahmen eines Flugblattes möglich ist.

Kritikschrift von IA.RKP Österreich

Liebe Genoss/innen! Wir haben euer Flugblatt, das wir insgesamt gut finden – mit einer kleinen Ergänzung zu Österreich – weiterverbreitet, unter anderem auf der Armenien-Demo am 24.04.2015 in Wien. Auf dieser Demo haben wir auch eine Rede gehalten, die sich in einigen Schwerpunkten von eurem Flugblatt unterscheidet. (vgl. auch: iarkp.wordpress.com)

Jetzt möchten wir euch aber einige Überlegungen und direkte Kritiken an eurem Flugblatt mitteilen und würden gern dazu eure Meinung bzw. Erklärungen erfahren. Ihr habt euch sicher ausführlicher als wir mit der sog. „Armenier-Frage“ beschäftigt, aber uns kommen einige Punkte seltsam oder unlogisch vor.

1. Es wird die Tatsache ausgeklammert, dass die Armenier/innen schon vor den Verfolgungen Anfang des 20. Jahrhunderts, also etwa um 1900, kein geschlossenes Siedlungsgebiet hatten, sondern in bestimmten Städten konzentriert waren – die weitgehend von kurdischen Dörfern und Landgebieten umschlossen waren. Unseres Wissens ist erst in der Sowjetunion ein Land entstanden/gebildet worden, wo Armenier/innen dann durch Ansiedlungen die Mehrheitsnation gebildet haben. Soweit wir wissen, war das sogenannte „russische Armenien“ bis nach der Oktoberrevolution mehrheitlich von anderen Nationalitäten besiedelt. Die Armenische Republik 1918 war hauptsächlich eine proimperialistische, national-chauvinistische Staatengründung, die zu Recht von den Rotgardisten zerschlagen wurde.

Antwort Bolşevik Partizan und Trotz Alledem:

Die armenische Bevölkerung bildete in vielen Städten Westarmeniens entweder die Mehrheit oder aber sie war eine zahlenmäßig bedeutende Minderheit. Im osmanischen Staat existierte ein Gouvernement Armenistan, „Ermenistan Eyaleti“. Dieses umfasste u.a. die heutigen Städte Bitlis mit 196000 armenischer EinwohnerInnen; Van 192200; Erzurum 203400, und Diyarbakır 81700. (Raymond H. Kevorkian, „Die Armenier im Osmanischen Reich vor 1915“, türkisch). Die bürgerlich-konterrevolutionäre, armenische Republik wurde zwar 1920 im Bürgerkrieg zwischen der jungen Sowjetrepublik und der imperialistischen Entente zerschlagen. Aber 1922 gründeten die Bolschewiki die Transkaukasische Föderative Sozialistische Sowjetrepublik (SSR), wobei Armenien ein Teilstaat dieser föderativen SSR war. Diese Transkaukasische Föderative SSR war einer der vier Gründerstaaten der Union der Sozialistischen Sowjet Republiken (UdSSR) 1922. 1936 wurde die Transkaukasische Föderative SSR aufgelöst und drei neue sowjetische Unionsrepubliken gebildet, die Grusinische, die Armenische und die Aserbeidschanische.16

Kritikschrift:

2. Weder historisch noch aktuell hat ein „Recht auf Lostrennung für Westarmenien“ eine fortschrittliche Stoßrichtung. Welche Teile des heutigen türkischen Staats habt ihr im Sinn, wenn ihr dieses Recht fordert?

Wollt ihr damit ausdrücken, dass die Armenier/innen z.B. aus Istanbul (und Frankreich usw.) das Recht haben sollen, irgendwo im Osten des heutigen Staats Türkei (nahe der Grenze zu Armenien oder Iran) eine neues Heimatland zu gründen?

Antwort:

Wir sind der Meinung über die Geschicke der Nationen, haben nur die Nationen selbst das Recht zu entscheiden. Wir können und müssen als KommunistInnen natürlich unsere politische Meinung darüber bekunden, wie dieses Selbstbestimmungsrecht im Interesse des Proletariats verwendet werden sollte. Wir können aber nicht an Stelle der unterdrückten Nation entscheiden. Ein/e Kommunist/in der einer herrschenden Nation angehört und der das Selbstbestimmungsrecht, als Recht auf staatliche Lostrennung, nicht anerkennt und verteidigt ist in diesem Punkt kein/e Kommunist/in.

Wer in Nordkurdistan/Türkei den Völkermord an der unterdrückten Nation, den Armeniern leugnet und der das Rückkehr- und Selbstbestimmungsrecht der Armenier nicht verteidigt, gehört zur Kategorie der Chauvinisten.

KommunistInnen vor allem in Nordkurdistan/Türkei, aber auch international sollten anerkennen, dass im Genozid an den Armeniern eine ungeheuerliche „geschichtliche Ungerechtigkeit“ verübt wurde, die auch heute im Klassenkampf in Nordkurdistan/Türkei eine große Rolle spielt. Armenische Überlebende des Genozids, bzw. heute vor allem ihre Nachkommen überall auf der Welt verstreut, fordern zu Recht Anerkennung des Völkermordes und Gerechtigkeit, die das Rückkehrrecht einschließt. Am 100.Gedenktag war einer der Hauptslogan: „Ich erinnere und ich fordere“. Dies sollte von allen KommunistInnen unterstützt werden, vor allem aber von den türkischen und kurdischen KommunistInnen.

Ja, wir sind der Meinung, es ist das Recht der Armenierinnen in ihr „Heimat“land zurückzukehren. Dieses ist Westarmenien, das Verwaltungsgebiet in den Grenzen des osmanischen Reiches.

Kritikschrift:

3. Wir halten es für falsch, dass „Entschädigungen an die Republik Armenien“ bezahlt werden sollen. Wieso eigentlich? Auch dazu fällt uns als „Vorbild“ und Parallele nur die reaktionäre Forderung ein, dass für die Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung in Europa der Staat Israel Geld erhalten soll.

Antwort:

Die Frage, die ihr stellt ist komplex.

Der Vergleich Israel und Armenien trifft in einer Hinsicht nicht zu. Sehr verkürzt: Israel wurde als Staat gegründet auf der Vertreibung und Enteignung der palästinensischen EinwohnerInnen des Staatsgebietes, das Israel sich einverleibte. Aufgrund der besonderen Situation durch die Shoah und der Einwanderung vieler jüdischer Flüchtlinge entwickelte sich in Palästina die jüdische Nation, deren Existenz in diesem Gebiet die sozialistische Sowjet­union und die kommunistische Weltbewegung 1947 anerkannten. Sie waren für einen demokratischen Staat Palästina in dem die arabische und jüdische Nation zusammenleben sollten. Als klar wurde, dass diese Lösung nicht durchsetzbar war, unterstützte die sozialistische Sowjetunion in der UN die Zweistaaten-Lösung und den Teilungsplan für Palästina 1948. Diese Situation kann mit der des armenischen Staates überhaupt nicht verglichen werden.

Die Frage der „Entschädigungen/Wiedergutmachung“ an den Staat Israel durch Deutschland. Wir meinen, dass wenn ein imperialistischer Staat wie Deutschland einen Völkermord/Genozid/Shoah begeht und die deutschen Werktätigen in ihrer Mehrheit diesen Staat dabei aktiv unterstützt haben und mitschuldig sind, ist es eine Frage der Demokratie, dass „Entschädigungsleistungen“ gefordert und gegeben werden.

Das betrifft zum Beispiel auch Forderungen der indigenen Völker gegen den US- und kanadischen Imperialismus etc.

Die deutschen Entschädigungen an den israelischen Staat und die Jewish Claims Conference wurden im Londoner Abkommen 1956 festgelegt. Sie waren bestimmt – und begründet mit dem Leid der jüdischen Flüchtlinge und Überlebenden – „für Unterstützung, Eingliederung und Ansiedlung jüdischer Opfer“, sowie als Ausgleich für die geraubten Vermögenswerte der europäischen Juden durch die Nazis. Nur 11% der deutschen Bevölkerung waren für dieses Abkommen, alle deutsch nationalen Parteien, weite Teile der CDS/CSU, Strauß etc. lehnten es ab.

Die Entschädigungen des deutschen Staates haben natürlich einen Staat unterstützt, der die palästinensische Bevölkerung vertrieb, gegen sie Pogrome und Kriege führte. Die Entschädigungen wurden nicht nur in Geld sondern auch in kostenlosen Waffenlieferungen gewährt.

Was wäre die Aufgabe der KommunistInnen in Deutschland gewesen? Sollten sie die Losung aufstellen keine Entschädigungen an einen reaktionären jüdischen Staat, der das palästinensische Volk aus seinem Land vertreibt? Das wäre unserer Meinung nach Wasser auf die Mühlen aller Antisemiten. Leider kennen wir die Position der KPD nicht. Wir denken, KommunistInnen hätten unbedingt für individuelle finanzielle Unterstützung aller jüdischen Opfer und ihrer Nachkommen eintreten müssen. Die Rolle des Staates Israel gegenüber dem palästinensischen Volk, die Deutschland auch unterstützte, hätte gleichzeitig angeklagt und verurteilt werden müssen.

Nun zur Armenischen Republik, die natürlich ein reaktionärer kapitalistischer Staat ist. Wir halten es für die Entwicklung des sozialistischen und demokratischen Bewusstseins der Werktätigen in Nordkurdistan/Türkei und in der BRD absolut für notwendig, dass an beide Staaten Entschädigungsforderungen für die Nachkommen des Genozids bzw. für den armenischen Staat gestellt werden. Die 100 jährige Leugnung des Völkermordes an den Armeniern, die konstituierend für die türkische Republik ist, kann nur so überwunden werden, dass die Herrschenden zur Rechenschaft gezogen werden, auch auf diesem Gebiet der finanziellen Entschädigung, ihre Schuld eingestehen müssen und die Völker ihre Mitschuld praktisch erkennen und dementsprechend politisch handeln.

Kritikschrift:

4. Uns ist klar, dass verschiedene Restitutionsforderungen und Entschädigungen nur in demokratischen und gleichberechtigten Verhandlungen geklärt werden können – z.B. eine Forderung, dass der türkische Staat in Van und anderen Städten neugebaute Siedlungen für „rückkehrwillige“ Armenier/innen zur Verfügung stellen soll usw. Insgesamt sind aber einige eurer diesbezüglichen Forderungen, wie z.B. „Reparationszahlungen für alle beschlagnahmten Vermögenswerte“ so abstrakt, dass da jeder Reaktionär seine demagogische, zum Nationenhass aufstachelnde Forderung davon ableiten kann. Was denkt ihr, an wen und wofür eine Volksrepublik Türkei/Nordkurdistan „Entschädigungen“ zahlen soll – mehr als 4 Generationen danach!? Doch wohl nicht an eine reaktionäre Republik Armenien oder an armenische Kapitalisten, die Ersatz für den Verlust der Betriebe ihrer Urgroßväter einfordern!?

Antwort:

Konkret können die Forderungen nur dann umfassend erhoben und geklärt werden, wenn erstmals prinzipiell der Völkermord als Völkermord anerkannt wird. Das gibt jedem Nachkommen der überlebenden ArmenierInnen die Möglichkeit persönliche Forderungen ihrer Familien vorzubringen und anzuklagen. Es existieren hinreichende Dokumente des osmanischen Staates, in den Händen der Überlebenden, in den Archiven der armenischen Republik, (in den noch nicht geöffneten Archiven in Jerusalem, in Boston und in der Türkei) in russischen, sowjetischen Archiven. Daraus können ziemlich genaue Entschädigungs­forderungen herauskristallisiert werden, vorausgesetzt der türkische Staat ist dazu bereit.

In 2011 hat die AKP-Regierung ein Gesetz erlassen, in dem die von der türkischen Republik in den 1920er und 1980er Jahren beschlagnahmten Vermögenswerte von Stiftungen, an diese zurückgegeben werden müssen. Das betraf sehr stark die armenischen Kirchengemeinden und Stiftungen, wie auch griechisch-orthodoxe etc. Der türkische Staat hat seitdem einige Besitztümer wie Grundstücke, Immobilien, Kirchen etc. tatsächlich rückübertragen.

Wir KommunistInnen sind weder Anhänger der armenischen Kirchen/Gemeinden noch des armenischen Staates. Aber wir sind für das demokratische Recht, der Gleichberechtigung aller Religionen und Nationen, Nationalitäten. Wir stellen uns gegen jeglichen Großmachtchauvinismus der herrschenden Nation und unterstützten in dieser Hinsicht, und nur in dieser die berechtigten Forderungen nach Entschädigungen.

Eine Volksrepublik Türkei, die nicht bereit dazu ist, das zu machen, was die KommunistInnen von der Bourgeoisie fordern, wäre keine Volksrepublik Türkei. Eine Volksrepublik wird nicht erkämpft werden, wenn die Völker Nordkurdistan/Türkei sich nicht auf Grundlage der Anerkennung der Barbarei an den unterdrückten Nationen versöhnen. Unsere Forderungen sind in diesem Sinne vor allem ein Versuch die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und die Völker an ihre Mitschuld zu erinnern, ein Aufruf sich der Geschichte und der Verantwortung zu stellen.

1 Serdar Korucu, Aris Nalcı, „2015’ten 50 yıl önce 1965 1915’ten 50 yıl sonra“, (50 Jahre vor 2015 – 1965 – 50 Jahre nach 1915), Ermeni Kültürü ve Dayanışma Derneği, 2014

2 Nationaler Befreiungskrieg: 1919-1922. Gegen die völlige Zerschlagung und Aufteilung des Osmanischen Reiches in imperialistische Einflussgebiete der Entente-Mächte, England, Frankreich, Italien und Griechenland stellte sich Mustafa Kemal an die Spitze osmanischer Truppenteile und widersetzte sich erfolgreich diesem Vorhaben. Die militärischen Erfolge seiner Armee erzwangen von den Imperialisten den Abschluss des Vertrages von Lausanne, der den 1920 zwischen den Entente Mächten und dem Osmanischen Reich geschlossenen Vertrag von Sèvre aufhob.

3 Gasi Mustafa Kemal Pascha, „Der Weg zur Freiheit, 1919-1920“, Originaltitel „Nutuk“, Deutsche Ausgabe 1928, S. 4-5, Verlag K. F. Koehler, Leipzig

4 Mohammedaner, mohammedanisch: Umgangssprachlich veraltet für Muslime und muslimisch. Mohammedanismus veraltet für Islam.

5 Kemal, „Der Weg“, S. 16

6 Taner Akçam, „Armenien und der Völkermord, Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung“, 2004, S. 126-127, Hamburger Edition

7 Kurt Ziemke, „Die Neue Türkei“, 1930, S. 126, Deutsche Verlags-Anstalt

8 Ayşe Hür, „6-7 Eylül yağmasının 59. yıldönümünde Cumhuriyetin azınlık raporu“, 07.09.2014, S. 2

9 Kemal, „Die Nationale Revolution 1920-1927“, Deutsche Ausgabe 1928, S. 263, Verlag K. F. Koehler, Leipzig, S. 263

10 Ziemke, „Türkei“, S. 282

11 „Lausanner Vertrag über den Schutz von Minderheiten in der Türkei vom 21. Juli 1923“, www.suryoyo.uni-goettingen.de/library/laussaner-vertrag.htm

12 de.wikipedia.org/wiki/Enteignung_der_Armenier_in_der_Türkei, Stand 14.07.2015

13 Kemal, „Der Weg“, S. 266

14 September 1930, Ayşe Hür, „6-7 Eylül yağmasının“, 07.09.2014, S. 4

15 Akçam, „Istanbuler Prozesse”, S. 137

16 „Enzyklopädie der Sozialistischen Sowjetrepubliken“, Bd. 1, S. 728-729, 1950, Verlag Kultur und Fortschritt Berlin