Februar 2023 Katastrophales Erdbeben in Nordkurdistan/Türkei
Zerstörung, Tod, Elend und „the show must go on“
Nordkurdistan/Türkei ist geologisch gesehen insgesamt ein Erdbebengebiet höchsten Grades. Fast jeden Tag bebt irgendwo im Land die Erde. Erdbeben mit geringerer Stärke, die keine größeren Schäden anrichten. Aber immer wieder richten Erdbeben mit größerer Stärke in verschiedenen Regionen, verheerende Schäden an, innerhalb von Sekunden. Gebäude stürzen ein, Menschen werden verschüttet, verletzt oder getötet.
Eine erdbebensichere Städteplanung existiert nicht. Die Bausubstanz kann besonders bei vor 2000 errichteten Gebäuden generell einem starken Erdbeben über 7 auf der Richter-Skala nicht standhalten. Bei den nach 2000 genehmigten Gebäuden sind Baupfusch, fehlende Kontrollen durch Staat, Bezirks- und Städteverwaltungen, sowie Korruption an der Tagesordnung. Bei einem starken Beben stürzen abertausende Gebäude zusammen, zehntausende Menschen verlieren ihr Leben, die Überlebenden sind oft schwer verletzt und ihr Hab und Gut liegt unter den Trümmern.
Vor regionalen oder landesweiten Wahlen werden regelmäßig „Bauamnestien”, erlassen. Dadurch werden illegal errichtete Gebäude durch den Staat oder die Bezirks- bzw. Stadtverwaltungen legalisiert. Das ist die Ursache dafür, warum einige als „erdbebensicher“ gepriesene und horrend teuer verkaufte, teilweise luxuriöse, hochgeschossige Bauten, Einkaufszentren usw. bei dem jetzigen Erdbeben Februar 2023 wie Kartenhäuser völlig in sich zusammengefallen sind.
Nach dem zerstörerischen Erdbeben der Stärke 7,4 am 17. August 1999 in İstanbul wurden tatsächlich mehrere Gesetze zum „Schutz gegen Erdbeben“ beschlossen. Diese haben eine Umwandlung der Bausubstanz in den Städten vorgeschrieben. Bei Neubauten wurde ein verpflichtendes Bauverfahren festgelegt, dass diese einem Erdbeben der Stärke 8 auf der Richter-Skala standhalten müssen.
Zuletzt wurden 2011 die Gesetze und Verordnungen erneuert, verbessert, so dass auch internationale Erdbebenforscher:innen die Gesetze und Verordnungen in der Türkei in dieser Frage lobten.
Die Neubauten in der Türkei nach 2011 müssen dem Gesetz nach sogar, so gebaut werden, dass sie einem Erdbeben der Stärke 9 standhalten können. Erbeben mit dieser Stärke sind sehr selten. Laut der schriftlich fixierten Geschichte der Türkei wurde eine solche Stärke noch nie erlebt.
Diese Gesetze durchzusetzen ist Aufgabe des Staates mit allen seinen dafür verantwortlichen Verwaltungsorganen. Aber er hat total versagt.
Das aktuelle Erdbeben im Februar in Nordkurdistan (Süd- und Ostanatolien) in Kahramanmaraş und Hatay hat einmal mehr gezeigt, dass der Staat und seine Institutionen dies nicht gemacht haben.
Nicht das Erdbeben tötet, sondern die morschen Gebäude, die teilweise direkt auf Erdbebenplatten und mit schlechtem Baumaterial errichtet wurden! Nicht das Erdbeben tötet, sondern der Staat, der solche Bauten zulässt! Nicht das Erdbeben tötet, sondern die Gier nach Maximalprofit! Nicht das Erdbeben tötet, sondern das kapitalistische System. Nicht der Mensch und die Natur stehen im Mittelpunkt, sondern der Profit!
Wir hatten nach dem fürchterlichen Erdbeben in Istanbul 1999 einen Artikel in der TA Nr. 15 veröffentlicht. Wir haben über die Leiden der werktätigen Bevölkerung, über die Haltung des Staates und über den unwürdigen Wettbewerb der bürgerlichen Politiker:innen aus dieser Naturkatastrophe politischen Gewinn zu generieren, berichtet. Diesen Artikel können wir heute Wort für Wort über die aktuelle Katastrophe erneut veröffentlichen. Mit einer klitzekleinen Veränderung: Die Namen der Politiker:innen von damals werden mit den Namen der heute verantwortlichen Politiker:innen ausgetauscht. Nichts gelernt! Alles vergessen! Bis zum nächsten Mal! (Auszug TA 15, siehe Seite 27)
Angesichts des großen Elends der Menschen, die vom Erbeben so schwer betroffen wurden, ist das Verhalten der Politik, der Herrschenden und des Staates ein menschenverachtendes Verbrechen. Das wird so lange weitergehen bis die Arbeiter:innenklasse aufsteht und sagt: Es reicht!
Dann wird die Macht, denen gehören, die den Reichtum schaffen und die die Natur nicht als Eigentum ansehen: der Arbeiter:innenklasse und den Werktätigen.
Fakten zum Erdbeben in Kahramanmaraş und Hatay und das totale Versagen der Politik
Am 6. Februar 2023 um 4 Uhr 17 morgens bebte die Erde mit einer Stärke von 7,7 in der Großstadt Kahramanmaraş mit über 1,17 Million Einwohner:innen. Diesem sehr starken Erdbeben, viel stärker als das in Istanbul 1999, folgte nach etlichen Nachbeben, um 13 Uhr 24 ein zweites großes Erdbeben der Stärke 7,6. Das Epizentrum dieser beiden gewaltigen Erdbeben waren die Kleinstädte Pazarcık und Elbistan, im Verwaltungsgebiet von Kahramanmaraş. Kahramanmaraş-Zentrum und die nächste Umgebung wurden bei diesen zwei Erdbeben, die nur in neun Stunden aufeinander folgten zu einem Trümmerhaufen.
Dieses sehr ungewöhnliche Naturereignis, zwei aufeinanderfolgende sehr starke Erdbeben, hat aber nicht nur in Kahramanmaraş, sondern in zehn weiteren angrenzenden Großstädten verheerende menschliche und materielle Schäden angerichtet.
Eine dieser Städte war Hatay. Durch das Erdbeben sind sehr viele Gebäude eingestürzt und sehr viele wurden stark beschädigt. Gerade als die zäh anlaufende staatliche und die enorme zivilgesellschaftliche Hilfe angefangen hatten zu funktionieren, kam es in Hatay am 20. Februar zu einem weiteren Erdbeben der Stärke 6,4.
Die zwei Wochen vorher, beim ersten Beben bereits schwer beschädigten, aber noch stehenden Häuser und Gebäude brachen komplett zusammen. Die Stadtmitte Hatays wurde dem Erdboden gleichgemacht. Als ob das nicht ausreichen würde, trat in den vom Erdbeben betroffenen Städten Urfa und Adıyaman Mitte März schweres Hochwasser durch Starkregen auf.
Hunderte von Zelten und Containern, in denen Erdbebenopfer mühsam versuchten irgendwie weiterzuleben, wurden hinweggeschwemmt. Teilweise waren noch Menschen in den Zelten, 18 wurden bis zum 19. März tot geborgen.
Insgesamt kann feststellt werden: Das war die bisher größte Naturkatastrophe in der Geschichte der Republik Türkei.
In dem offiziellen „Lagebericht“ des Staates 1 von Anfang März werden folgende konkrete Informationen gegeben:
* In den vom Erdbeben direkt betroffenen 11 Städten lebten 2022 circa 14.5 Mio. Personen. Das entsprach 14 Prozent der Gesamtbevölkerung der Türkei. 13 553 283 davon in Städten und Kleinstädten, also ca. 96,7 Prozent. Die restlichen 3,3 Prozent lebten in Dörfern.
Ein Teil der Bevölkerung, 1 738 035 Personen waren Migrant:innen, die sich mit einem „Provisorischen Schutzstatus“ in der Türkei aufhielten und lebten.
* In dem Erdbebengebiet arbeiteten 3,8 Millionen Beschäftigte. Das entsprach 13,3 Prozent aller Beschäftigten in der Türkei. Nur 61 Prozent der Beschäftigten in dem Gebiet waren im System der Sozialversicherung erfasst.
* In dieser Region lag 2022 der Bestand an Gebäuden bei 2,6 Millionen. 90 Prozent davon waren Wohnungen, 6 Prozent Arbeitsstätten und 3 Prozent Öffentliche Gebäude.
* In den vom Erdbeben direkt betroffenen 11 Städten lag die Anzahl der Wohnungen 2022 bei 5,6 Millionen. Das sind 14,05 Prozent der Gesamtwohnungszahl in der Türkei.
* 9,8 Prozent des BIP (Bruttoinlandsprodukt) wurde 2022 in diesem Gebiet erwirtschaftet.
* Zur Bilanz der ökonomischen Lasten, die durch das Erdbeben verursacht worden sind, werden in dem oben genannten Bericht folgende Angaben gemacht:
„In der Gesamtlast des Erdbebens auf die türkische Ökonomie nehmen die ‚Wohnungsschäden‘ mit einem Anteil von 54,9 Prozent den ersten Platz ein. (1 073,9 Milliarden TL; das entspricht 56,9 Milliarden US-Dollar). An zweiter Stelle stehen die Schäden an der Infrastruktur, an öffentlichen Gebäuden und Einrichtungen. (242,5 Milliarden TL; 12,9 Milliarden US-Dollar). Eine wichtige Schadenssumme ist im ‚Privatsektor‘, entstanden, ausgenommen davon sind Wohnungen (222,4 Milliarden TL; 11,8 Milliarden US-Dollar). Zu dieser Schadenssparte werden die Schäden in der Industrieproduktion, Energie, Kommunikation, Tourismus, Gesundheits- und Erziehungssektor, kleine Handwerksbetriebe und Gebetshäuser gezählt. Wenn man zudem die Verluste des Versicherungssektors und Verluste der Gewerbetreibenden und makroökonomische Einflüsse mit in Betracht zieht, wird die Gesamtlast des Erdbebens auf die türkische Ökonomie etwa auf 2 Trillionen (Billionen) TL, und auf 103,6 US-Dollar geschätzt. Das würde etwa 9 Prozent des prognostizierten BIP des Jahres 2023 entsprechen.“
Das sind wahrlich enorme Summen, ungeheuerliche Verluste, eine extrem schwere Last auf der Ökonomie der Türkei. Diese Last wird wie in jeder kapitalistischen Ökonomie wieder auf die Schultern der Werktätigen abgewälzt werden.
Arbeiter:innen und Werktätige werden in der nächsten Zeit in der Türkei noch sehr viel mehr verarmen. Egal wer jetzt in den Wahlen was verspricht, egal wer an der Macht bleibt, oder an die Macht kommt.
Unermessliches Leid
Die materiellen Schäden des Erdbebens sind sehr groß. Aber sie können im Laufe der Zeit behoben werden. Aber die viel wichtigeren, schwerwiegenden, entsetzlichen Verluste sind die verlorenen Menschenleben. Weiter sind das die Verluste und Zerstörung in der Natur, an Tieren und Pflanzen, an der Umwelt, die überhaupt nicht mitgezählt werden. Verursacht wurden sie durch die katastrophale, Menschen und jedes Leben verachtende Bau- und Städtepolitik der Herrschenden, der türkischen Großbourgeoisie und ihrer Handlanger. Diese Verluste und Schäden kann kein Geld der Welt ersetzen.
Infolge der Erdbeben haben mehr als 48 000 tausend Menschen ihr Leben verloren. (Diese Angabe des Lageberichtes von Anfang März wurde laufend täglich nach oben korrigiert, weil die Beseitigung der Trümmerberge dauerte, und weiter andauert. Und unter den Trümmern werden immer wieder Tote aufgefunden.)
Die offiziell aktuell bestätigte, identifizierte Todeszahl wurde am 4. April mit 50 399 angegeben. Wir müssen davon ausgehen, dass diese Zahl im unteren tausender Bereich höher ist, weil hunderte von Menschen mit den Trümmern weggetragen wurden, bzw. nicht bemerkt wurden. Das war nachdem die Abrissarbeit mit dem Ende der Suche nach Überlebenden drei Wochen nach dem Erdbeben freigegeben wurde. Den Behörden liegen noch Anfragen von einigen hundert Menschen vor, die nach ihren vermissten Familien, Verwandten oder Bekannten suchen.
Etwa 14 Millionen Menschen sind direkt betroffen! An die 60 000 Tote. Hunderttausende Verletzte. Millionen, die ihre Wohnung, Hab und Gut verloren haben. Kinder ohne Eltern. Eltern, die ihre toten Kinder mit ihren eigenen Händen aus den Trümmern geborgen haben! Für den Rest ihres Lebens traumatisierte Millionen von Menschen.
Das Leiden der Menschen können wir nicht in Worte fassen. In Nordkurdistan/Türkei und in kurdisch/türkischen Communities in vielen Ländern der Welt finden wir wahrscheinlich keine Familie, keine Menschen, die nicht mit einem direkt betroffenen Menschen in irgendeiner Beziehung stehen! Ja, unermessliches Leid!
Und in diesem unermesslichen Leid – Wahlkampf„schlacht“ der Politiker:innen
Staatspräsident Erdoğan versuchte sich mit der Beschwörung einer „gottgegebenen Naturkatastrophe“, einer „Jahrhundertkatastrophe“ und „dem Schicksal“ aus der Verantwortung für die verheerenden Folgen des Erbebens wegzustehlen.
Ansonsten richtet er seine Wahlkampfkampagne darauf aus, dass nur er die großen Probleme, die nach Corona- und Finanzkrise, sowie durch die Naturkatastrophe entstanden sind, lösen könne. Er macht haltlose Versprechungen wie „in einem Jahr werden die Städte wieder aufgebaut sein“.
Die Opposition hingegen redet die Naturkatastrophe klein, macht für alles Erdoğan verantwortlich und verspricht, dass alles besser wird, wenn sie an die Macht kommt. Sie erklärt, dass die eigentliche Katastrophe für die Nation die Erdogan-Diktatur ist. Mit einer gelungenen Machtablösung am 15. Mai würde „Alles sehr schön werden“. Das ist ihr Wahlversprechen. Der Hauptslogan des Präsidentschaftskandidaten des „Bündnisses der Nation“, Kemal Kılıçdaroğlus (CHP) lautet: „Ich verspreche! Es werden neue Frühlinge kommen!“
Was für ein unwürdiges, heuchlerisches Hick Hack angesichts des unermesslichen Leidens der Menschen, die ganz andere, wirklich existenzielle Probleme haben als die Wahlen.
Oder „unsere“ deutschen Heuchler:innen der „feministischen Außenpolitik“! Die BRD-Regierung hat gnädig erklärt, dass sie aus „Solidarität“ die Visumsvergabe für türkische Staatsbürger:innen angesichts der Erdbebenkatastrophe erleichtern werde. Und wie sieht diese Erleichterung aus?
Nur Erdbebenopfer, die hier Verwandte ersten Grades haben, können ein dreimonatiges Visum erhalten. Vorausgesetzt die in Deutschland ansässigen Verwandten geben für ihre Rückkehr in drei Monaten eine Garantie ab. Auch müssen diese etwaige Kosten für Arzt- bzw. Krankenhausbehandlungen für ihre Verwandten aus der Türkei übernehmen.
Bis Anfang April wurden vom deutschen Staat 7 500 Visa (!) für Opfer aus der Türkei ausgestellt. Eine geradezu lächerliche Zahl. Eine brutalere Pervertierung des Begriffs Solidarität bei der angeblichen Erleichterung der Visavergabe kann man sich schwerlich vorstellen. Hut ab, vor solch einer Grünen-Außenministerin! Sie verdient eine Medaille als Meister-Heuchlerin!
Gleichzeitig haben werktätige Menschen unterschiedlichster Nationalitäten, Herkunft in diesem Land eine unermessliche, spontane Solidarität mit Tatkraft und Hilfsbereitschaft von der ersten Sekunde an entwickelt. Millionen Menschen haben versucht mit verschiedenen Mitteln Hilfe für die Erdbeben-Opfer zu leisten.
Während die Politiker:innen versuchten sich gegenseitig zu beschuldigen und sich als wahre Interessenvertreter der Leidenden zu profilieren, haben die werktätigen Menschen überall in der Welt enorme Hilfe und Solidarität geleistet.
Wir sehen wieder einmal ganz klar:
Würden die Herrschenden, die bürgerliche Klasse abgeschafft, würden die Völker selber reden, würde die Welt anders aussehen!
Dokumentiert:
TA Nr. 15, Oktober 1999 – Deutschland „hilft“ !
Es gibt nun folgende „großzügige“ Sonderregelung, daß „Familienpartner und Kinder unter 26 Jahren, deren Ehepartner mit gültiger Aufenthaltsgenehmigung/ -berechtigung in der BRD lebt“, ein 14 tägiges Visum bekommen.
Unfassbar so viel Großzügigkeit! Im Klartext: Eine Ehefrau, die vielleicht 5 Kinder hat, deren Familie umgekommen ist, womöglich auch eigene Kinder, die keine Wohnung mehr hat, die vielleicht krank ist, darf für 14 Tage ihren Mann hier besuchen, in einem Bett schlafen und ausreichend essen, und muß dann wieder zurück ins Erdbebengebiet auf die Straße, während ihr Mann, da er ja hier für das Auskommen schuftet, hier bleiben muß, um Geld zu verdienen…
Der Zynismus könnte nicht größer sein. Weiter geht die deutsch-türkische Freundschaft der Herrschenden nicht!
24 Jahre später ist die Großzügigkeit des deutschen Imperialismus unübertroffen:
Statt zwei Wochen werden jetzt gnädig zwölf Wochen gewährt!!
Krisenmanagement 2023 wie 1999! Dokumentiert in Auszügen:
TA Nr. 15 1999: Das Erdbeben in der Türkei
Es gibt viele Arten einen Menschen zu töten, man kann ihn mit seinem Haus erschlagen, man kann ihn unter den Trümmern ersticken lassen…
Am 17. August (1999) um 3.02 Uhr bebte im Kernindustriegebiet der Türkei die Erde 45 Sekunden lang … Über 15.000 offiziell angegebene Tote, über schätzungsweise 35.000 Verschüttete, die nicht geborgen wurden, Zehntausende von Verletzten, fast eine Million Obdachlose … eine fürchterliche Katastrophe für die Menschen in diesem Gebiet, eine Katastrophe vor allem für die Armen und den Mittelstand, die in nicht erdbebensicheren Wohnungen lebten. 7,4 erreichte die Erdbebenstärke auf der Richterskala. Bis heute, über drei Wochen nach dem Beben, gab es noch 10 000 Nachbeben. Das Ausmaß der Katastrophe, die vielen, vielen Toten gehen aber nicht nur auf das Konto der Natur, sondern auch auf das der Politik, auf das des Türkischen Staates, auf das seiner Finanziers und Statthalter, der westlichen imperialistischen Mächte, und insbesondere „unserer“ deutschen Großmacht!
„Eine gottgegebene, unabwendbare Naturkatastrophe?“- oder:
„Suchen wir die wirklichen Schuldigen!“
In allen türkischen Medien wird spekuliert über Ursachen und Auswirkungen des Bebens. Von Ecevit (Regierungschef) bis zum Republikspräsidenten Demirel wird die Beruhigungsparole ausgegeben: „Das war Gottes Wille!“ und damit versucht sich der Verantwortung zu entziehen.
Die Fakten sind dabei aber glasklar:
* Nordkurdistan/Türkei sind mit die erdbebengefährdetsten Gebiete der Welt. Trotzdem gab es keinerlei Schutzmaßnahmen, trotzdem gab es keine Katastrophenprävention, trotzdem wurden skrupellos von der Baumafia Pfuschbauten aus dem Boden gestampft.
* Katastrophenschutz gibt es nur auf dem Papier. Selbst das einzige Staatsorgan was „wirklich funktioniert“- für Kriege – die Armee, wurde spät, dilettantisch und zahlenmäßig schwach eingesetzt.
* Der „Wildwuchs“ und Betrug auf dem Bausektor ist bekannt! Bis zu 70 Prozent der Neubauten im Großraum Istanbul werden erst ohne Genehmigung errichtet! Es ist bekannt, daß in den Beton ungewaschener Meersand gemischt wird. Es ist bekannt, daß statt Stahl meistens Eisenschrott verwendet wird.
Es gibt etliche, die jetzt rufen, alles einreißen und endlich Einhaltung der Bauvorschriften fordern! Es gibt etliche, die jetzt rufen, der Baumafia das Handwerk legen! Aber die Baumafia ist Teil des Systems, sie ist völlig verwachsen mit dem Staatsapparat und der Bürokratie. Die Landflucht, bedingt durch Wirtschaftskrise und vor allem den grausamen Krieg in Kurdistan, zwingt viele Menschen sich der Baumafia auszuliefern. Die Einwohnerzahl von Istanbul ist laut offizieller Zahlen von 2,5 Millionen 1962 auf 12 Millionen 1999 angewachsen. Tatsächlich leben mehr als 15 Millionen in Istanbul und irgendwo muß man wohnen. Und da es kein Geld gibt, möglichst billig. Und da die Baumafia noch ordentlich Profit machen will, wird ganz billig und total morsch gebaut.
Der Staat – entgegen anderslautenden bürgerlichen Meldungen – sieht dabei nicht weg, sondern im Gegenteil er profitiert davon. Vor jeder Wahl werden viele illegal errichtete Viertel „legalisiert“. D.h. im Tausch „Wählerstimme“ gegen Wohnrecht wird der Pfusch staatlich abgesegnet und gefördert. Türkische Politiker „empören“ sich jetzt: statt 2 stöckiger Häuser in der Erdbebenregion, die laut Baugenehmigungen gestattet waren, gäbe es vier und mehrstöckige. Wenn es nicht so bitter wäre, wäre es wirklich Realsatire!
Ja sind denn alle Politiker blind?! Überall in der Türkei in den durch Erdbeben gefährdeten Gebieten wird viel höher gebaut und zwar in der Regel mit nachträglicher staatlicher Genehmigung, das wissen sie nicht?
* Es gab bereits seit Anfang der 80er Jahre klare Voraussagen, daß in dem Gebiet um Izmit am Marmarameer ein Erdbeben zu erwarten ist. Auch auf der UN-Habitat-Konferenz (über die Probleme menschlicher Siedlungen) in Istanbul 1996 wurde darüber informiert. Eine Woche vor dem Beben haben türkische Wissenschaftler einem Minister mitgeteilt, daß Anzeichen für ein kommendes Beben festzustellen seien. Bewußt wurde diese Information zurückgehalten, „um niemanden in Panik zu versetzen“.
* Ein „kleines Beispiel“ für „die Prävention“: Tüpras, die größte Erdölraffinerie der Türkei, stand kurz nach dem Beben in Brand. Die „Sicherheitspläne“ konnten leider nicht greifen, da beides – Erdbeben und Brand – gleichzeitig nicht vorgesehen war! So loderten tagelang die giftigen Brände. Die Luft, das Wasser und der Boden wurden extrem verseucht!
„Der Staat gibt Pressekonferenzen…
das Volk erstickt unter den Trümmern…“
Als die brüchigen Häuser wie Kartengebilde zusammenklappten, als die Menschen darunter begraben wurden, als die Menschen zu Hunderttausenden obdachlos wurden, als die ganze schäbige Infrastruktur vollends zusammenbrach, da zeigte sich der kemalistisch-faschistische Staat in voller Größe. Er war einfach im Erdbebengebiet „abwesend“.
Der türkische Staat hat klassisch demonstriert was ihm seine „Untertanen“ wert sind: Nichts! Ecevit druckste herum und mußte zugeben, daß er die ersten fünf Stunden mit den Verantwortlichen im Erdbebengebiet nicht kommunizieren konnte, weil Originalton: „die Telefonleitungen nicht funktionierten“. Es gab keinen Krisenstab, es gab keine Zuständigen, es gab Chaos und die Politiker tagten rund um die Uhr, machten demonstrative Besichtigungen und nichts geschah…
Weder wurde Bergungsmaterial für die Verschütteten noch Hilfe für die Obdachlosen organisiert. Tausende, ja Zehntausende sind unter den Trümmern erstickt, weil es keine Hilfe gab, weil es kein Werkzeug gab, weil es dem Staat ganz einfach egal war und ist, daß die Menschen lebendig begraben und zum Tode verurteilt wurden durch die Unfähigkeit des Staates.
Für zuständig erklärt wurde der „Rote Halbmond“, die nationale Organisation des Internationalen Roten Kreuz-Komitees, der de facto ein Staatsunternehmen des türkischen Staates ist.
Dessen Krisenmanagement sah so aus, daß er nach 8 Tagen völlig veraltete Zelte – regendurchlässig – heranschaffte und ein Feldkrankenhaus für 100 (!) Menschen errichtete.
Der Vorsitzende Kemal Demir und andere Vorstände hatten andere Verwendung für die staatlichen Gelder und Spenden. Demir lebt seit Jahren auf Kosten des Roten Halbmondes in einem fünf Sternehotel in einem Appartement für 465 Dollar mit Vollpension pro Tag. Der neue Verwaltungspalast des Roten Halbmondes in Ankara verschlang schlappe 17 Millionen Dollar.
Internationale Hilfe, wie Bergungsmannschaften, Hilfsgüterlieferungen wurden bürokratisch behindert und chauvinistisch wurden Blutspenden aus Griechenland abgewiesen („Griechisches Blut soll nicht in türkischen Adern fließen!“). Die Hilfe der Bürger untereinander wurde erschwert.
Die völlige Ignoranz und komplette Unfähigkeit des Staates im Erdbebengebiet hat zu einer unheimlichen Wut, zu völliger Enttäuschung und Empörung bei den Massen geführt.
Die türkische chauvinistische Presse hatte ein gutes Gespür dafür und stellte sich sogleich an die Spitze des Protestes und griff – für ihre Verhältnisse zunächst einmal ungewöhnlich – die Regierungs- und Staatsvertreter an.
Sie hatte gleich erkannt, daß das wirklich bedrohlich werden kann für den Staat und versuchte der Empörung Ausdruck zu verleihen und sie zu kanalisieren. Entsprechend antwortete der Staat darauf.
Auf Geheiß des MGK’s (Sicherheitsrat) und der türkischen Regierung wurde der Privatsender Kanal 6 für eine Woche verboten und die Marschrichtung an die Medien ausgegeben:
Der Staat war mit allen seinen Möglichkeiten, vor allem mit seiner Armee von Anfang an bei dem Volk und half ihm. Der Wink wurde verstanden. Seitdem berichten die Medien wieder voll auf dieser Linie!
Aber auch einige Gouverneure und Staatsbedienstete mußten Schelte einstecken. Der MHP-Gesundheitsminister (MHP ist die Partei der Grauen Wölfe, die in der Regierungskoalition ist) wurde wegen seiner türkisch-chauvinistischen Äußerungen gegenüber internationaler Hilfe zurückgepfiffen.
Es werden sicherlich noch „einige Köpfe rollen“, noch einige Bauunternehmer verurteilt… Nur es wird sich einfach nichts, aber auch gar nichts grundlegend verändern, wenn die werktätigen Menschen nicht selbst den Kampf und ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und das Regime in die Knie zwingen.
„Die Schäden für die Wirtschaft und das Kapital schnell beheben“… Die Menschen werden wieder auf der Strecke bleiben
Ein weiterer Schritt der türkischen Regierung um jede Selbsthilfe und direkte Hilfe zu unterbinden war alle Geldspenden, die nicht auf staatliche Konten eingezahlt wurden zu beschlagnahmen und auf einem Konto zusammenzuführen, sowie auf alle Sachspenden, die nicht direkt mit dem türkischen Roten Halbmond abgestimmt worden sind, mit hohen Einfuhrzöllen zu belegen.
Bereits hier kündigte sich an, wie die Hilfsmittel und die Wiederaufbauhilfen verwendet werden sollen:
Der türkische Staat wird davon profitieren. Es wird auch eine „Erdbebensteuer“ geben. Es wird neue „Bau“- Reiche geben. Es werden Armeeeinrichtungen und Staatsgebäude schnell neu errichtet.
Es wird die Umwelt katastrophal weiter vernichtet. Die Trümmer und Toten werden jetzt schon ins Meer geschaufelt und darauf werden in den nächsten Jahren wieder Kartenhäuser errichtet werden.
Es werden die Opfer auf Jahre hinaus in Zelten, Slums und im bitteren Elend leben. (…)
1 2023-Kahramanmaras-ve-Hatay-Depremleri-Raporu.pdf