Die angeblich „Wichtigste Wahl des Jahres in der Welt“ ist gelaufen. Am 14. Mai wurden 60 Millionen 721 Tausend 745 Wahlberechtigte in Nordkurdistan/Türkei und 3 Millionen 423 Tausend 759 Wahlberechtigte aus Nordkurdistan/Türkei im Ausland, insgesamt 64 Millionen 197 Tausend 454 Staatsbürger:innen der Republik Türkei über 18 Jahre, für die Wahl des Präsidenten und des Parlaments an die Wahlurnen gerufen. Vorausgegangen war eine heftige Propagandaschlacht der zwei Feind-Blöcke, der „Erdoğan-Verehrer“ und der „Erdoğan-Hasser“. Über diese hatte ich in meiner Korrespondenz vom 15. April berichtet. i
Ergebnis der Parlamentswahlen
Die landesweite Wahlbeteiligung an den Parlamentswahlen war mit 88,92 Prozent sehr hoch. Von den im Ausland lebenden Wahlberechtigten haben „nur“ 53,80 Prozent gewählt. Auch diese Wahlbeteiligung ist als sehr hoch zu bewerten, weil die Stimmabgabe nur in Konsulaten und an Grenzübergängen möglich war. Das bedeute für diese Wähler:innen stundenlange Fahrt- und Wartezeiten in Kauf zu nehmen.
Insgesamt haben in der Türkei und im Ausland 55 Millionen 835 Tausend 895 Wähler:innen, 87,05 Prozent ihre Stimme abgegeben. Von diesen Stimmen waren 1 Million 393 Tausend 307, d.h. 2,17 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten ungültig.
An diesen Wahlen haben 24 Parteien teilgenommen. Die meisten Parteien sind unter dem Dach eines der fünf Bündnisse aufgetreten: „Cumhur İttifakı“ (Bündnis des Volkes), „Millet İttifakı“ (Bündnis der Nation), „Emek Ve Özgürlük İttifakı“ (Bündnis der Arbeit und Freiheit), „Sosyalist Güçbirliği İttifakı“ (Bündnis der sozialistischen Zusammenarbeit) und „ATA İttifakı“, (ATA Bündnis), da es eine Sieben-Prozent-Sperrklausel gegeben hat. Über den Charakter dieser Bündnisse und das Wahlsystem informierte ich die TA-Leser:innen bereits ausführlich in meiner oben erwähnten Korrespondenz. ii
Wie erwartet haben die Bündnisse „ATA İttifakı“ bestehend aus zwei und „Sosyalist Güçbirliği İttifakı“ bestehend aus drei Parteien, die Sieben-Prozent-Hürde nicht erreicht.
„ATA İttifakı“ hat mit insgesamt 1 325 635 Stimmen, davon 109 236 die Adalet Partisi und 1 216 399 die Zafer Partisi, 2,43 Prozent erhalten.
Der Stimmenanteil für „Sosyalist Güçbirliği İttifakı“ lag insgesamt bei 159 276 Wählerstimmen, davon für die „Kommunistische Partei der Türkei“, (Türkiye Komünist Partisi) 63 809; für die „Kommunistische Bewegung der Türkei“ (Türkiye Komünist Hareketi) 17 476 und für die „Linke Partei“ (Sol Parti) 77 992. Insgesamt ein Stimmenanteil von 0,29 Prozent.
Bei den anderen drei Bündnissen sieht das Wahlergebnis bei den Parlamentswahlen folgendermaßen aus:
Cumhur İttifakı – Bündnis des Volkes (Auch Sechser-Bündnis genannt)
Stimmenanteil | Prozent | Parlamentssitze | |
AKP | 19 392 462 | 35,52 | 268 |
MHP | 5 484 820 | 10.07 | 50 |
BBP | 530 770 | 0,97 | – |
YRP | 1 527 048 | 2,80 | 5 |
Insgesamt | 26 935 100 | 49,34 | 323 |
Wobei die AKP dem Vorsitzenden der Demokratik Sol Parti iii einen und der Hüda-Par vier ihrer Parlamentssitze abgegeben hat. Die AKP ist damit im Parlament momentan mit 263 Parlamentarier:innen vertreten.
Millet İttifakı – Bündnis der Nation
Stimmenanteil | in Prozent | Parlamentssitze | |
CHP | 13 802 183 | 25,35 | 169 |
İYİ Parti | 5 275 891 | 9,69 | 43 |
Insgesamt | 19 078 074 | 35,04 | 212 |
Wobei die CHP von ihren 169 Parlamentssitzen insgesamt 38 Sitze an die Parteien Saadet Partisi und Gelecek Partisi (20), an die Deva Partisi 15 und an die Demokrat Parti 3 Sitze abgegeben hat. Die Kandidat:innen dieser Parteien wurden in CHP-Listen aufgeführt. Ein CHP-Parlamentarier ist nach den Wahlen zur İYİ Parti gewechselt, so dass die CHP momentan im Parlament mit 130 Parlamentarier:innen vertreten ist.
Emek ve Özgürlük İttifakı – Bündnis der Arbeit und Freiheit
Stimmenanteil | in Prozent | Parlamentssitze | |
Yeşil Sol Parti | 4 803 922 | 8,22 | 61 |
Türkiye İşçi Partisi | 956 057 | 1,76 | 4 |
Insgesamt | 5 759 979 | 9,98 | 65 |
Wobei die Yeşil Sol Parti von ihren Parlamentssitzen zwei an die Emek Partisi; zwei an die Halkların Demokratik Partisi (HDP) (Demokratische Partei der Völker) und zwei an die Demokratik Bölgeler Partisi (DBP) abgegeben hat. Die letztgenannten beiden Parteien sind sowieso die, die Yeşil Sol Parti tragenden Parteien. Wäre kein Verbotsverfahren gegen die HDP anhängig, hätte die HDP unter ihrem eigenen Namen an den Wahlen teilgenommen. Jetzt ist die Yeşil Sol Parti mit 55 Parlamentarier:innen im Parlament vertreten.
Was bedeutet dieses Ergebnis der Parlamentswahlen?
Die AKP Erdoğans ist auch nach 21 Jahren Regierung und trotz der sehr schlechten ökonomischen Situation der werktätigen Bevölkerung, trotz des anfänglichen desaströsen Krisenmanagements beim verheerendsten Erdbeben in Nordkurdistan/Türkei nach wie vor mit Abstand die stärkste Partei. Allerdings bedeuten 35,52 Prozent der Wählerstimmen für die AKP, im Vergleich zu den vorhergehenden Parlamentswahlen 2018, einen Rückgang um 7,04 Prozent.
295 Parlamentssitzen 2018 stehen nun 263 Parlamentssitze gegenüber. Die Zeiten, in denen die AKP im Parlament allein über die absolute Mehrheit verfügte, scheinen endgültig vorbei zu sein. Im Parlament ist die Erdoğan-AKP unbedingt auf ein:en Partner:in angewiesen, um Gesetze verabschieden zu können.
Diese Partner:in hatte die AKP praktisch bereits nach dem blutigen Putschversuch der Gülenisten am 15. Juli 2016 in der ultranationalistisch, faschistischen MHP gefunden. Seit diesem Putschversuch regiert die MHP mit, ohne direkt mit eigenen Minister:innen an der Regierung beteiligt zu sein. Die Politik der AKP-Regierung wird aber durch den Pakt mit der MHP nach und nach immer nationalistischer und faschistischer.
Der Rückgang des Stimmenanteils der AKP bei den Parlamentswahlen ist zwar wichtig, aber für die Exekutive nicht ausschlaggebend. Denn die Türkei wird seit dem Regierungs-Systemwechsel 2017 mit Präsidialsystem à la turka regiert. Der direkt gewählte Präsident hat bei diesem System eine unheimliche Machtfülle und kann – wenn er es nötig findet – am Parlament vorbei durchregieren.
Insofern war die am 14. Mai parallel mit den Parlamentswahlen laufende Wahl des Präsidenten ausschlaggebend für die Machtverhältnisse und viel wichtiger als die Parlamentswahlen.
#Gewinnerin der Parlamentswahlen ist eindeutig die Cumhur İttifakı, deren Hauptparteien AKP und MHP sind. Sie haben im neuen Parlament, wie im alten, die absolute Mehrheit. Sie können jedes Gesetzesvorhaben ohne Schwierigkeiten durchbringen. Ihre Mehrheit reicht allerdings nicht für eine Verfassungsänderung. Hierfür sind 360 Parlamentarier:innen notwendig. Ebenso wenig können sie mit ihrer Mehrheit eine Volksabstimmung beschließen, denn dafür sind 400 Stimmen im Parlament notwendig. Für eine etwaige Verfassungsänderung mit anschließendem Referendum brauchen sie etwa 40 zusätzliche Stimmen von anderen Parteien. Sie benötigen allerdings keine Verfassungsänderung, um zu regieren. Aber um die Opposition, das Millet İttifakı(Bündnis der Nation) zu spalten kann ein Verfassungsänderungsvorschlag ein geeignetes Mittel sein.
#Für die ganze Opposition ist das Ergebnis der Parlamentswahlen ein Desaster. Sie ist ja lautstark im Wahlkampf mit dem Anspruch aufgetreten, die Zweidrittelmehrheit der Parlamentssitze zu gewinnen, die Verfassung zu ändern, und wieder eine „gestärkte parlamentarische Demokratie einzuführen, indem sie das Präsidialsystem abschafft. Sie hat diese Wahlen zu einem Referendum über das Präsidialsystem hoch gepushed. Sie hat diese Wahlen als „Letzte Ausfahrt vor dem Untergang der Türkei“ und als „überhaupt letzte Wahlen“ im Falle eines Wahlsiegs Erdoğans gewertet. Mit diesem Horrorszenario hat sie um Stimmen geworben. Das Ergebnis: Eine erneute Wahlniederlage gegenüber Erdoğans AKP.
#Anstatt nach den Gründen für die akute Unglaubwürdigkeit dieses Bündnisses bei der Mehrheit der Wahlbevölkerung zu suchen, wird entweder, wie der gemeinsame Präsidentschaftskandidat der Opposition Kılıçdaroğlu es macht, die Niederlage in einen Sieg umgedeutet: „Nein die AKP hat nicht gewonnen. Es ist die AKP, die verloren hat. Sie hat über 7 Prozent ihrer Wählerstimmen verloren.“ Oder aber Kılıçdaroğlu wird von seinen innerparteilichen CHP-Rivalen, vor allem dem Istanbuler Bürgermeister İmamoğlu für die Niederlage als einziger Sündenbock angeprangert.
#Die legalistische, parlamentaristische, reformistische Linke, die sich bei diesen Parlamentswahlen am 14. Mai an die HDP angehängt oder aber sich selber zur Wahl gestellt hat, erzielte einen Stimmenanteil von etwa 2 Prozent. (TIP (Arbeiterpartei der Türkei) 1,76 Prozent + TKP (Kommunistische Partei der Türkei) 0,12 Prozent + TKH (Kommunistische Bewegung der Türkei) 0,03 Prozent + Sol Parti (Linke Partei) 0,14 Prozent, insgesamt 2,05 Prozent). 2 Mandate der Emek Partisi und 4 Mandate der TIP sind nur möglich gewesen, weil diese Parteien sich unter der Schirmherrschaft der HDP in der „Emek ve Özgürlük İttifakı“ bei den Wahlen aufgestellt haben. Zwischen 2 bis 3 Prozent ist das „Stimmanteilpotential“ bei dieser Linken, die sich teilweise als sozialistisch und ja sogar kommunistisch ausgibt. Diese Parteien haben objektiv die Funktion dem bürgerlichen Wahlzirkus einen Anschein der Legitimation und Seriosität zu verleihen.
#Was die HDP betrifft, so ist sie bei diesen Parlamentswahlen unter dem Namen Yeşil Sol Parti aufgetreten. Sie hat im Vergleich zu den vorigen Wahlen 2,88 Prozent Stimmen verloren. Das liegt vor allem an den immer massiver werdenden faschistischen Unterdrückungsmaßnahmen des Staates gegen diese Partei. Tausende von Kadern, so auch die ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sind für Jahre in Knästen eingekerkert. Die Möglichkeiten, die Werktätigen durch die eigene Parteipropaganda zu erreichen, sind für die HDP unheimlich begrenzt. Unter diesen Bedingungen sind natürlich 8,8 Prozent der Stimmen als ein Erfolg einzuschätzen. Allerdings sollte die wachsende Unzufriedenheit unter den HDP-Anhänger:innen über die Politik der Unterstützung der bürgerlichen Opposition mit der Begründung „Hauptsache, Erdoğan muss weg“, auch als ein Faktor gesehen werden, der bei dem Rückgang des Stimmanteils, nicht unterschätzt werden sollte.
Ergebnis der Präsidentschaftswahl
Erste Runde:
In der ersten Runde derPräsidentschaftswahl am 14. Mai standen vier Kandidaten auf dem Wahlzettel: Der Kandidat der Cumhur İttifakı, Recep Tayyip Erdoğan, der Kandidat der Millet İttifakı, Kemal Kılıçdaroğlu. Zu diesen zwei Hauptanwärtern auf die Präsidentschaft gesellten sich noch zwei Kandidaten, die die für die Teilnahme notwendigen Unterschriften von über Hunderttausend Wähler:innen ausweisen konnten: Muharrem İnce, der in der vorherigen Präsidentschaftswahl 2018 als Kandidat der CHP ins Rennen geschickt wurde und verloren hatte. Sowie Sinan Oğan, der als Kandidat der ATA İttifakı antrat.
Die HDP, die bei den Wahlen 2018 ihren Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş ins Rennen geschickt hatte und 8,40 Prozent der Stimmen für ihn gewinnen konnte, hatte 2023 zugunsten von Kemal Kılıçdaroğlu auf eine eigene Kandidatur verzichtet. Auch der Großteil der verschiedenen linken, sich revolutionär, sozialistisch, ja teilweise kommunistisch nennenden linken Gruppen hatte ihre Unterstützung für Kılıçdaroğlu erklärt. „Es geht zuallererst einmal um die Verhinderung der Weiterherrschaft von Erdoğan“ wurde argumentiert, gegen alle revolutionären Kritiker:innen dieser reformistischen und anbiedernden Politik der Unterstützung einer Fraktion der Bourgeoisie gegen die andere.
Damit war Kılıçdaroğlu der gemeinsame Kandidat nicht nur der Millet İttifakı sondern fast der gesamten bürgerlichen und auch des „linken“ Anti-Erdoğan-Lagers.
Die Prognose für den Wahlausgang, die angeblich von allen Wählerbefragungen bestätigt wurde, war: Kemal Kılıçdaroğlu würde in der ersten Runde mit großem Abstand gewinnen. Seine Anhänger:innenschaft sprach bereits lange vor den Wahlen von ihm als „unser 13. Präsident“. Kılıçdaroğlu, dessen Hauptparolen im Wahlkampf inhaltsschwer wie folgt lauteten: „Ich bin Kemal. Ich komme.“ „Ich verspreche, neue Frühlinge werden kommen!“, verkündete im Wahlkampf seinen sicheren Sieg mit über 60 Prozent der Stimmen.
Die Kandidatur für die Präsidentschaftswahl von Muharrem İnce war für den sicher geglaubten Sieg in der ersten Runde ein Störfaktor. In einer üblen Kampagne in den CHP Medien und in den A-Sozialmedien wurde İnce zum Verräter an der Sache und als Agent von Erdoğan tituliert. Kurz vor den Wahlen wurde er faktisch auch mit der Verbreitung von Fake Pornovideos zum Rücktritt von der Kandidatur gezwungen.
Gegen die Kandidatur von Sinan Oğan hatte das Anti-Erdoğan-Lager keine Kritik. Sie ging davon aus dass diese Kandidatur eher der Cumhur İttifakı, also Erdoğan, schadet, weil er vor allem von MHP-Anhänger:innen gewählt werden würde.
Nun, es kam anders. Das Endergebnis des ersten Wahlgangs mit einer Wahlbeteiligung von 87,04 Prozent sah folgendermaßen aus:
Kandidaten | Stimmenzahl | in Prozent |
Recep Tayyip Erdoğan | 27.133.849 | 49,52 |
Muharrem İnce* | 235.783 | 0,43 |
Kemal Kılıçdaroğlu | 24.595.178 | 44,88 |
Sinan Oğan | 2.831.239 | 5,17 |
Von den abgegebenen 55 833 153 Stimmen waren 1 037 104 ungültig. iv
Das heißt, die Behauptung des Kılıçdaroğlu-Lagers, die noch in der Wahlnacht bei der Stimmzählung bis etwa Mitternacht in den Oppositionsmedien aufrechterhalten wurde, zerplatzte wie ein zu sehr aufgeblasener Ballon.
Obwohl offensichtlich war, dass ein Wahlsieg von Kılıçdaroğlu in der ersten Runde nicht möglich war, standen die CHP Bürgermeister von Ankara und Istanbul in einer von den CHP-Medien direkt übertragenen Sendung als „Vertreter unseres dreizehnten Präsidenten Kemal Kılıçdaroğlu“ auf der Bühne und erklärten unisono seinen Wahlsieg in der ersten Runde.
Zu dieser Zeit wussten beide, dass Erdoğan mit einem uneinholbaren Vorsprung vorne lag. Später rechtfertigte der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu diese offene Lüge mit den Worten: „Nun, wir wollten dadurch ja eine panikartige Enttäuschung unserer Wähler und darauf folgende mögliche unüberlegte Aktionen verhindern. Wir wollten der Demoralisierung unserer Wähler entgegenwirken.“
Die Mathematik sprach klar:
Die Präsidentschaftswahl wurde zwar in der ersten Runde nicht entschieden. Aber in der zweiten Runde zwei Wochen später bräuchte Erdoğan etwa 300 000 Stimmen mehr, um erneut gewählt zu werden. Während sein Gegenkandidat das Zehnfache dessen, etwa 3 Millionen zusätzliche Stimmen benötigte. Hinzu kam, dass eigentlich klar war, dass die in der ersten Runde an Sinan Oğan gegangen Stimmen unmöglich als Block an Kılıçdaroğlu oder Erdoğan gehen würden, sondern dass die Wähler:innen ihre Stimmen zwischen den beiden Kandidaten aufteilen würden. Weiter war auch sehr unwahrscheinlich, dass bei einer so hohen Wahlbeteiligung von 87,4 Prozent im ersten Wahlgang, für den zweiten Wahlgang noch neue zusätzliche Wähler:innen zu mobilisieren waren. Zudem hatte die Millet İttifakı bei den Parlamentswahlen eine krachende Niederlage erlitten. Die Cumhur İttifakı hatte im Parlament die absolute Mehrheit gewonnen.
Unter diesen Umständen war die zweite Runde eher ein formeller Akt, an dessen Ende die Wahl des alten Präsidenten Erdoğan zum neuen Präsidenten offiziell bestätigt wurde. Jeder politisch denkende und handelnde vernünftige Mensch, der den Tatsachen ins Auge sieht, wäre zu diesem Schluss kommen. Nicht so die bürgerliche Milleyet ittifaki und die sich an sie anhängende „linke“ Opposition in Nordkurdistan/Türkei.
Vorbereitung auf die zweite Runde und die Schande der reformistischen „Linken“
An dem der Wahlnacht folgenden Tag, erzählten uns die Märchenonkel und -tanten, TV-, Zeitungs-Kommentator:innen und Pseudo-„Analyst:innen“ in den „oppositionellen Medien“, dass eigentlich die AKP die Verliererin dieser Wahl sei. Sie hatte ja um die 7 Prozent weniger Stimmen bekommen. Außerdem konnte diesmal Erdoğan nicht in der ersten Runde gewählt werden. Damit war er definitiv der Verlierer dieser Wahl!
Vergessen waren auf einmal die Wahlziele und der Mantra-artig wiederholte feste Glaube, drei Viertel der Parlamentssitze zu gewinnen, sowie in der ersten Runde mit 60 Prozent der Stimmen die Präsidentschaftswahl zu gewinnen und das Regierungssystem zu verändern etc. Auf einmal waren die Mehrheitsverhältnisse im Parlament, das ja in dem neuen System seine Funktionen weitgehend verloren hatte, nicht mehr so wichtig.
Wichtig war jetzt das Präsidentenamt. Und wichtig war nun mehr denn je die Einheit der Opposition. Motto war: „Sich vereinheitlichend und vereinheitlichend werden wir siegen“. (Birleşe birleşe kazanacağız!) Jede Kritik und kritische Haltung in diesen zwei Wochen nutze nur Erdoğan. Leute, die Kritik an der bisherigen Linie der Führung der Parteien haben, sollen in diesen zwei Wochen ihren Mund halten und für den Sieg Kılıçdaroğlus kämpfen.
Am zweiten Tag nach der Wahlnacht trat ein ganz anderer Kılıçdaroğlu vor die Kameras. Der süßlich-säuselnde Onkel und Großvater, der von der Küche seiner Wohnung aus allen möglichen Gesellschaftsschichten, vor allem aber den Jugendlichen alles Mögliche, außer vielleicht die Sterne vom Himmel, versprochen hatte, trat nun als ein brüllender „Kämpfer-Löwe“ auf. In einem Twitter-Videoclip schlug er mit der Faust auf seinen Küchentisch und schrie: „Nicht wir haben verloren, sondern Erdoğan. Hier-bin-ich! Wir-wer-den-sie-gen! Punkt!“.
Kılıçdaroğlu hat seine rassistische, xenophobe Rhetorik extrem verstärkt, um die am rassistischsten unter den Rassist:innen, die Zafer Partisi auf seine Seite zu ziehen. So kam es zu einem Agreement zwischen Kılıçdaroğlu und dem Vorsitzenden der Zafer Partisi, Ümit Özdağ. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz wurde an die Journalist:innen ein Dokument verteilt, aus dem unter anderem hervorging, dass beide Seiten darin einig sind, alle sich in der Türkei aufhaltenden Geflüchteten in kürzester Zeit in ihre Heimat zurückzuschicken, dass der Staat gewählte Bürgermeister, die nicht staatskonform handeln, durch Vertrauenspersonen (Kayyum) ersetzen kann, dass alle Arten des Terrorismus scharf bekämpft werden, dass es keine Zusammenarbeit mit Terrorismus-Anhänger:innen geben kann. Dies alles bedeutete, dass die wichtigsten Programmpunkte der Zafer Partisi von Kılıçdaroğlu übernommen wurden. v
Spätestens ab diesem Punkt der Übernahme des Programms von der Zafer Partei musste allen klar sein, dass Kılıçdaroğlu keine, wie auch immer geartete demokratische Alternative zum faschistischen Regime Erdoğans ist sondern sein Zwillingsbruder im Geiste. Eine Wahl zwischen beiden wäre nichts anderes als die Wahl zwischen Pest und Cholera.
Was machte die reformistische Linke? Weiter so wie in der ersten Runde. Volle Kanne Unterstützung für Kılıçdaroğlu. In der gemeinsamen Erklärung des „Zentralen Leitungsgremiums (MYK)“ der HDP und des Zentralen Leitungsgremiums der Grün Linke Partei (YSP) vom 17. Mai wurde festgestellt: „Als die drittstärkste Partei des Parlaments haben wir verhindern können, dass das Regime die Wahl in der ersten Runde gewinnt. Wir sind in der zweiten Runde fest entschlossen dem Regime eine Niederlage beizubringen.
Wir werden in den nächsten elf Tagen mit dem Kampfgeist unserer Völker, der uns Luft zum Atmen und Leben einhaucht, unseren eingeschlagenen Weg weitermarschieren und wir werden mit absoluter Sicherheit siegen.“
Mit dem Ruf „Wir sind hier. Wir werden siegen“ warben HDP/YSP mit ihrer ganzen Kraft für Kılıçdaroğlus Sieg, den sie als ihren eigenen Sieg, den sie als „Sieg des Volkes über die Dunkelheit“ deklariert hatten!
Auch andere Linksreformisten wie TKP, TIP, Sol Parti, Emek Partisi etc. haben als Anhängsel der HDP für die Präsidentschaft von Kılıçdaroğlu, mit dem Programm der Zafer Partei fleißig wie die Bienen gearbeitet.
Endgültiges Ergebnis der Präsidentschaftswahl
„Geliyor gelmekte olan“: Es kommt, was sich auf den Weg gemacht hat. Das war eine der Hauptparolen Kılıçdaroğlus in der CHP-Wahlkampagne. Mit einem Foto des nach vorne marschierenden Kılıçdaroğlu verziert!
Was sich aber auf den Weg gemacht hatte und kommen würde, das war am Ende der ersten Runde glasklar. Es kam, wie es sich angekündigt hatte. Das amtliche Endergebnis der zweiten Runde mit einer Wahlbeteiligung von 84,15 Prozent lautet:
Kandidaten | Stimmenzahl | in Prozent |
Recep Tayyip Erdoğan | 27.834.589 | 52,19 |
Kemal Kılıçdaroğlu | 25.504.724 | 47,82 |
Dieses Wahlergebnis ist für die gesamte Opposition ein weiteres Desaster verglichen mit ihren im Vorfeld propagierten Wahlzielen. Gleich nach den Wahlen, in der Nacht des Wahlsiegs, hat Erdoğan die AKP-Wahlkampagne für die im März 2024 vorgesehenen Regionalwahlen eröffnet und das Ziel gesetzt: Die bei den letzten Regionalwahlen an die CHP verlorenen Großstädte, vor allem Istanbul und Ankara, zurückzugewinnen.
Während Erdoğan sofort nach den Wahlen sein neues Kabinett gebildet, die Regierungsgeschäfte weitergeführt und der AKP die Direktive gegeben hat, die Gründe für die verlorenen sieben Prozent bei den Parlamentswahlen herauszufinden und die Fehler zu beheben, diskutierte die bürgerliche Opposition, ob die Wahlen verloren wurden oder nicht.
Während Kılıçdaroğlu und seine Getreuen die Niederlage negieren und sogar versuchen, in einen Sieg umzudeuten, „Höchste Stimmzahl und Stimmanteil, die ein CHP-Kandidat je hatte!“, brodelt es in der CHP. Der Istanbuler Bürgermeister, einer der sieben Stellvertreter des durch die Wahl verhinderten „13. Präsidenten der Republik, Kemal Kılıçdaroğlu“, Ekrem İmamoğlu, ist mit einem „Manifest“ an die Öffentlichkeit gegangen. Er fordert im Namen der „Veränderung, die die Gesellschaft will“ Kılıçdaroğlu zum Rücktritt auf. Er selbst sei natürlich bereit, die „Veränderung der Gesellschaft, die bei der Veränderung in der CHP beginnen wird, anzuführen.“ Kılıçdaroğlu hat aber auf keinen Fall vor, den Vorsitz der CHP abzugeben. Denn, so seine Begründung, er sei der Kapitän und ein Kapitän würde im stürmischen Meer sein Schiff nicht verlassen, sondern es zu einem sicheren Hafen navigieren. Dieser sichere Hafen sei der Sieg bei den Regionalwahlen. Wobei İmamoğlu natürlich der Kandidat der CHP bei den Regionalwahlen sein werde. Er solle in Istanbul bleiben und die Wahl gewinnen!
CHP geht einer Spaltung entgegen
Nach den Wahlen hat sich die Parteivorsitzende Meral Akşener der İYİ Parti, Mitglied im „Bündnis der Nation“, mit einem sehr schnell zusammengezimmerten Parteikongress ihren Vorsitz bestätigen lassen. Damit hat sie praktisch alle ihre sie kritisierenden Weggefährten aus der Partei gedrängt. Diese Partei entwickelt sich zu einer Sektenpartei um ihre Vorsitzende.
Die kleineren Parteien des Sechser-Bündnisses (Bündnis der Nation) haben über die CHP-Listen insgesamt 38 Mandatsträger:innen ins Parlament geschickt. Sie wären bei einem Wahlsieg sogar mitbestimmend an der Regierung gewesen. Für sie war die Teilnahme an der Millet İttifakı ein sehr erfolg- und ertragreiches Geschäft. Alleine hätten sie kein einziges Mandat durchgekriegt!
Die Millet İttifakı gibt es nicht mehr. Einige nach der Wahlniederlage ans Tageslicht gekommene Tatsachen, wie zum Beispiel die geheimen Postenschacher-Verhandlungen zwischen Kılıçdaroğlu und der Özdağ/Zafer Partei, zeigen dass dieses hauptsächlich durch die Erdoğan-Feindschaft zusammengehaltene Bündnis auf Postenschacher und gegenseitigen Intrigen aufgebaut war. Auch wenn sie die Wahlen gewonnen hätten, wären Machtkämpfe und ein Auseinanderbrechen des Bündnisses vorprogrammiert gewesen. So wie es momentan aussieht, ist ein erneutes Bündnis und eine Zusammenarbeit dieser bürgerlichen Opposition wie bei diesen Wahlen kaum möglich, weil eine schwere Vertrauenskrise zwischen den handelnden Politiker:innen und Parteien entstanden ist.
Andererseits zeigt das Ergebnis der Wahlen auch klar, dass die Opposition in den kommenden Regionalwahlen 2024 vor allem in Istanbul und Ankara nur eine Chance hat, nämlich dann, wenn sie jeweils nur mit einem/einer gemeinsamen Kandidat:in auftritt, und wenn diese:r dazu auch noch von der HDP und der ihr folgenden reformistischen Linken unterstützt wird. Momentan erklären fast alle oppositionellen System-Parteien und auch die HDP, dass sie mit ihren eigenen Kandidat:innen bei den Regionalwahlenantreten werden. Allerdings werden die Wahlen erst in über sieben Monaten stattfinden. Und sieben Monate sind in der bürgerlichen Politik ohne Rückgrat eine Ewigkeit. Wir werden sehen.
Uns interessiert dabei natürlich vor allem die Haltung der reformistischen Linken, die bei diesen Wahlen nichts als Steigbügelhalter einer der Fraktionen der Bourgeoise waren.
Nur wenige Revolutionär:innen, kommunistische Kräfte, bzw. Organisationen kritisieren diese Haltung vehement. Auch in der HDP läuft über diese Fragen eine Diskussion. Ein Gewinn wäre es für den antifaschistischen, demokratischen Kampf, wenn Kräfte in der HDP/YSP eine Selbstkritik entwickeln und einen von der bürgerlichen Opposition unabhängigen Kurs, einen „Kurs des dritten Weges“ fordern und die Überhand gewinnen würden. Das hieße für die Regionalwahlen überall eigene Kandidat:innen mit einem volksdemokratischen Programm auf Regionalebene aufzustellen. Auch das werden wir sehen.
Was tun?
Während der Gewinner dieser Wahlen wieder einmal Erdoğan, seine AKP und natürlich die faschistische Staatsmacht der türkischen Kapitalistenklasse ist, sind die Hauptverlierer:innen, wie bei allen Wahlen unter der Herrschaft der Bourgeoisie, die Arbeiter:innen und die Werktätigen, die Völker! Niemand kann bei einer einigermaßen kontrollierbaren Wahl, bei einer Wahlbeteiligung von über 85 Prozent, wobei die ungültigen Stimmen nicht über 2 Prozent sind, ernsthaft die Legitimität des Wahlergebnisses in Frage stellen.
Die Bourgeoisie hat es wieder einmal geschafft, ihre Herrschaft über die Arbeiter:innen und Werktätigen, ihre faschistische Staatsmacht durch die Stimmen der Ausgebeuteten und Unterdrückten demokratisch zu legitimieren! Nach wie vor sind die Hoffnungen der übergroßen Mehrheit der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen, der Werktätigen in Wahlen und das bürgerliche Parlament groß. Bei dieser Illusion der Massen tragen die legalistischen, parlamentaristischen, reformistischen „linken“ Kräfte aucheine Verantwortung.
Es ist die Aufgabe der revolutionären und kommunistischen Kräfte und Organisationen durch unermüdliche systematische Aufklärungs- und Organisationsarbeit in und mit den Massen, durch unermüdliches Vorantreiben des Klassenkampfes gegen die Bourgeoisie die Illusionen über die Wahlen und das Parlament im bürgerlichem System zu zerschlagen. Dabei ist der ideologische Kampf gegen die reformistische „Linke“, die unter dem Namen demokratisch, sozialistisch, ja teils sogar kommunistisch auftritt, heute wichtiger denn je.
Nur so werden wir vorankommen im Kampf für eine neue Welt, in der nicht die Ausbeuter:innen herrschen, sondern die Arbeiter:innen und Werktätigen.
Eine Welt, in der die Menschen sich nicht als Herrscher:in sondern als Teil der Natur verstehen! Eine Welt in der keine Diskriminierung und keine Privilegierung existieren!
Eine Welt, die sich das Ziel setzt: „Jede/jeder nach ihren/seinen Fähigkeiten, Jede/jeder nach ihren/seinen: Bedürfnissen“ und diesem Ziel im ununterbrochenen Klassenkampf näher kommt!
1. August 2023
i Siehe TA Nr. 91, S. 37-52
ii Siehe TA, Nr. 91, S. 44-49
iii Die DSP und Hüda-Par haben sich dem Bündnis „Cumhur İttifakı“ für die Parlamentswahlen angeschlossen und Kandidaten auf AKP-Listen aufgestellt. Beide haben die Kandidatur Erdoğans bei den Präsidentschaftswahlen unterstützt. Sinan Oğan, der vierte Präsidentschaftskandidat der „ATA İttifakı“ hat sich in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl für die Wahl Erdoğans eingesetzt.
iv Der Name von Muharrem İnce konnte nicht von den Wahlzetteln gestrichen werden, da sie bereits einen Monat vor der Wahl gedruckt und an die Wahlbezirke verteilt worden waren.
v Nach den Wahlen stellte sich heraus, dass beim Postenschacher Kılıçdaroğlu mit dem Chef der Zafer Partei, Özdağ, im Falle des Wahlsieges von Kılıçdaroğlu, dieser ihm versprochen habe ihm das Innenministerium plus zwei weitere Ministerposten zuzuschanzen. Dieser Postenschacher sollte aber geheim gehalten werden! Dafür haben beide Männer laut Kılıçdaroğlu ihr „Ehrenwort“ gegeben.