100 Jahre Meds Yeghern

24. April 1915 – Völkermord an den Armeniern24. April 2015 – Zeit sich der Geschichte zu stellen

April 2015

Am 24. April 2015, jährt sich der vom Osmanischen Reich durchgeführte Völkermord an den Armenier­innen und Armeniern zum hundertsten Mal. Der 24. April 1915 wird als Jahres- und Gedenktag für den Beginn dieser grauenhaften Schlächterei begangen. Die gezielte Vernichtung von anderthalb Millionen Armenierinnen und Armenier wurde 1915-1918 von dem osmanisch/türkischen Staat politisch, militärisch geplant und barbarisch ausgeführt. Der türkische Staat leugnet bis heute den vor hundert Jahren verübten Genozid.

International kämpft die armenische Nation in der Diaspora, in Armenien und in Nordkurdistan/Türkei noch immer für die Anerkennung des Völkermordes durch den Täterstaat. Überlebende des Völkermordes und ihre Nachkommen sind in viele Länder über die ganze Welt verstreut, USA, Frankreich, Australien, Russische Föderation, Argentinien, Kanada, Deutschland, und andere. In der Republik Armenien leben heute drei Millionen Menschen.

Am hundertsten Jahrestag des Genozids wird weltweit an das Leiden und die Pein des armenischen Volkes erinnert. Viele Tagungen, Lesungen, Diskussionsveranstaltungen, Kunstaktionen und Demonstrationen werden „das unfaßbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehenen entreißen“ (Franz Werfel). Das Weiterleben des armenischen Volks im Schatten der „Meds Yeghern“ 1

manifestieren armenische Jugendliche in vielen Ländern mit ihrem Aufruf: „Unsere Wunden sind noch offen!“

Dem weltweiten Gedenken von Armenierinnen und Armeniern, demokratischen, revolutionären Werktätigen an die Opfer des Völkermordes schließen wir uns als proletarische Internationalisten mit ganzem Herzen an.

In der revolutionären ArbeiterInnen-Bewegung wollen wir in Aktionen und mit Publikationen die Geschichte der „armenischen Frage“, die Geschichte des Genozids, die Mittäterschaft des deutschen Imperialismus, die Notwendigkeit der Anerkennung des Völkermordes durch die Türkei und Deutschland, ins Bewusstsein rufen.

In Nordkurdistan/Türkei wird am 24.April 2015 ein demokratisches, revolutionäres Gedenken an den Völkermord stattfinden. Die Losung „Wir sind alle Armenier“, die Hunderttausende Menschen zum ersten Mal in Erinnerung an den ermordeten Hrant Dink, am Tag seiner Beerdigung in Istanbul als politisches Statement getragen haben, war ein bedeutendes Zeichen. Die wirklich demokratische, linke und kommunistischen Bewegung wird versuchen das in der türkisch-kurdischen Gesellschaft immer noch bestimmende Tabu der Leugnung des Völkermordes aufzubrechen. Die Demonstration von armenischen, türkischen, kurdischen, aus anderen Ländern teilnehmenden Werktätigen am 24. April 2015 wird an die Opfer des armenischen Volkes erinnern.

Die Mitverantwortung der türkischen und kurdischen Werktätigen an diesem Verbrechen wird auch erinnert werden. Demokratische und revolutionäre Organisationen werden die herrschende Staatsdoktrin der Leugnung der Schuld des türkischen Staates anklagen und die Anerkennung des Völkermordes mit allen Konsequenzen einfordern.

In diesem Jahr wird der Gedenktag öffentlich in Städten wie zum Beispiel in Diyarbakır, in denen armenisches Leben fast vollständig ausgelöscht wurde, begangen. In Istanbul und anderen Städten werden Podiumsdebatten, Kulturver­anstaltungen und Kundgebungen eine Gegenöffentlichkeit zum herrschenden türkisch-nationalistischen Diskurs schaffen.

Der türkische Staat, der sich in die Nachfolge des Osmanischen Reiches und der Türkischen Republik Mustafa Kemals stellt, leugnet zynisch bis zum heutigen Tag den Völkermord. Provokativ hat Präsident Erdoğan auf den 24./25. April 2015 – am 100jährigen Gedenktag des Völkermordes an den Armeniern – eine staatstragende, international aufgezogene „Gedenkfeier für alle Opfer“ der Schlacht in Çanakkale 2 gelegt. Vertreter aller damals involvierten Staaten sind für ein „Fest des Friedens“ von Erdoğan eingeladen worden. In beispiellosem Zynismus auch der Präsident der Republik Armeniens.

Im Vorfeld des 24. Aprils betreiben „Chef“ Erdogan, aber auch Oppositionsführer von MHP und CHP, die Nazi-„Vatanparti“, 3 weiterhin ihre infame Leugnung des Völkermordes. Gegen die armenische Diaspora wird faschistisch-rassistisch gehetzt. Die Organisation „Gencatsizlar“ 4 veranstaltet ungehindert auf öffentlichen Plätzen Kundgebungen mit Transparenten wie: „Glückwunsch zum 100.Jahrestag der Säuberung unsere Heimat von den Armeniern! Wir sind stolz auf unsere ruhmreichen Ahnen!“

Das ist ungeheuerlichste Völkermordpropaganda.

Kurze Geschichte der armenischen Frage

Was ist eigentlich „die armenische Frage“? Heutzutage wird in der Türkei der Begriff „die armenische Frage“ als Synonym für den Völkermord an den Armeniern benutzt. Gleichzeitig wird dieser Begriff verwandt, um den Völkermord zu leugnen. Der Kern der armenischen Frage ist eine nationale Frage. Mit anderen Worten: das Streben um nationale Befreiung und staatliche Unabhängigkeit der armenischen Nation! In diesem Sinne sprechen wir von der armenischen Frage. 5

Internationalisierung der armenischen Frage …

Das armenische Volk ist eines der ältesten autochthonen, christlichen Völker in Anatolien und im Kaukasus. Armenien war als Land Jahrhunderte lang ein Kriegsgebiet zwischen arabischen, byzantinischen, mongolischen, persischen, osmanischen und russischen Eroberern. Jahrhundertelang wurde das armenische Volk von diesen Mächten unterdrückt, geplündert, deportiert und ermordet…

Das Königreich Armenien fiel dem Krieg 1623-1639 zwischen dem Osmanischen- und dem Persischen Reich (damaliges Safawidenreich) zum Opfer und wurde unter ihnen aufgeteilt. Infolge des Krieges zwischen Russland und Persien, 1826-1828 wurde Ostarmenien von Russland besetzt. Den größten Teil Armen­iens (Westarmenien) okkupierte das Osmanische Reich.

Die armenische Bevölkerung lehnte sich im Kampf um Armeniens Unabhängigkeit immer wieder gegen beide Besatzermächte auf. Das osmanisch-islamische Reich hatte sich im 15. Jahrhundert als eine Weltmacht etabliert. Der Sultan war nicht nur weltliches, sondern als Khalif auch religiöses Oberhaupt. Die nicht muslimischen Völker wurden mit zusätzlichen Steuern belegt, waren aber in ihrer Religionsausübung weitgehend autonom. Ende des 18. und im 19. Jahrhundert begann der Niedergang und der innere Zerfall des Osmanischen Reiches.6

Sultan Abülhamid II. löste 1878 das Parlament auf und suspendierte die erst zwei Jahre zuvor verabschiedete Verfassung der konstitutionellen Monarchie von 1876. Er setzte verstärkt auf die muslimische Identität, verschärfte die nationale und religiöse Unterdrückung gegen Christen, Armenier, Aramäer, Assyrer, etc. mit Massakern und Pogromen. Das wiederum nutzten christliche Mächte wie England, Frankreich, Italien und das russisch-orthodoxe Zarenreich um im Namen der Verteidigung des armenischen „Christenvolkes“, der nichtmuslimischen Völker ihre Machtansprüche im Osmanischen Reich durchzusetzen. Die osmanische Weltmacht wurde zur abhängigen Halbkolonie degradiert. Die europäischen Großmächte läuteten das Jahrhundert des modernen Imperialismus ein. Ein großer Brocken der Neuaufteilung war das auseinanderbrechende osmanische Imperium.

Die armenische Frage wurde im Jahr 1878 mit dem San Stefano Vertrag und dem Berliner Vertrag internationalisiert. Der San Stefano Vertrag war ein Ergebnis des Russisch-Osmanischen Kriegs in den Jahren 1877-1878. Russland besiegte die Türkei und stand vor den Toren Istanbuls im Vorort San Stefano. Dort wurde der Vertrag am 3. März 1878 unterzeichnet. Russland spielte sich als Schutzmacht des armenischen Volkes auf und diktierte den Artikel 16, der einige der Reformen enthielt, die das religiöse Oberhaupt, der armenisch-apostolische Patriarch für die armenische Nation anmahnte. Artikel 16 lautet:

Da der Abzug der russischen Truppen aus dem von ihnen besetzten armenischen Gebiet, das den Türken zurückgegeben werden soll, Veranlassung zu Konflikten und Verwicklungen geben könnte, die die Aufrechterhaltung der guten Beziehungen zwischen den beiden Ländern unmöglich machen würde, so verpflichtet sich die Hohe Pforte, ohne weiteren Verzug die durch örtliche Bedürfnisse in den von Armeniern bewohnten Provinzen erforderten Verbesserungen und Reformen ins Werk zu setzen und den Armeniern Sicherheit vor Kurden und Tscherkessen zu garantieren.“6

Russland sicherte sich seine Beute am besiegten Osmanischen Reich durch diesen Vertrag: Verstärkter Einfluss über die Balkanländer, insbesondere die slawischen Völker im europäischen Teil der Türkei. Unabhängigkeit Serbiens, Montenegros, Rumäniens, Autonomie für Bulgarien. Die Provinzen Kars, Batum, Ardahan und die Kontrolle über die Meerengen gingen an Russland.

Alle anderen europäischen Mächte stellten sich aus unterschiedlichen Machtinteressen gegen diesen Vertrag. Schon wenige Tage nach seiner Unterzeichnung verlangte England ultimativ, einen Kongress einzuberufen, der alle Bedingungen des Friedens zwischen Russland und dem Osmanischen Reich erörtern sollte.

Am 4. Juni 1878 wurde die „Zypern Convention“ (eine geheime Vereinbarung) unterzeichnet, in der England im Falle eines russischen Angriffs dem Osmanischen Reich garantiert, es „mit Waffengewalt zu verteidigen“. Im Gegenzug sollte der Osmanische Sultan „Reformen in der Regierung ein(zu)führen und für den Schutz der christlichen und anderer Untertanen der Pforte, in Asien“ sorgen.

Auf Verlangen Englands und nach Einladung Bismarcks, der sich als „Friedensmakler“ präsentierte, tagte der Berliner Kongress vom 13. Juni bis zum 13. Juli 1878. Die Diplomaten der europäischen Mächte England, Frankreich, Russland, Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien zwangen dem Osmanischen Reich den Berliner Vertrag auf, in dem auch die armenische Frage miteinbezogen war. Der Berliner Vertrag ersetzte den Vertrag von San Stefano, und der neu verfasste Artikel 61, den Bismarck„als Kosmetik“ und damit als wertlos bezeichnete, lautete nun:

Die Hohe Pforte übernimmt die Verpflichtung, ohne weiteren Verzug, die durch lokale Bedürfnisse in den von den Armeniern bewohnten Provinzen erforderten Verbesserungen und Reformen ins Werk zu setzen und den Armeniern Sicherheit vor Kurden und Tscherkessen zu garantieren. Sie wird die in dieser Richtung gethanen Schritte in bestimmten Zeitabschnitten den Mächten bekannt geben, die ihr Inkrafttreten überwachen werden.“7

Weitere Stücke des zerfallenden osmanischen Reiches riss sich nun England (die Insel Zypern), Österreich-Ungarn (Bosnien und Herzegowina) im diplomatischen „Krieg“ unter den Nagel. Die Situation der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich verschlechterte sich mit dem Berliner Vertrag. Für die Durchführung der geforderten Reformen enthielt er weder eine Zeitvorgabe, noch wurde ein wirksamer Schutz vereinbart. Dadurch blieb die armenische Frage als internationalisierte Frage offen. Die Rivalität der europäischen Mächte um die koloniale Neuaufteilung und Zerschlagung des Osmanischen Reiches spitzte sich weiter zu und mündete im Ersten imperialistischen Weltkrieg.

Armenien, bürgerliche Revolution, nationales Erwachen

Im 19. Jahrhundert, als sich die kapitalistische Gesellschaft in Armenien entwickelte, entstand auch das nationale Bewusstsein der armenischen Nation. Unter Führung der Patriarchen entstanden orthodoxe, arme­nisch-apostolische, christliche Gemeinden. Beeinflusst von den europäischen bürgerlichen Revolutionen, besonders von 1848, wurden im Jahr 1863 in Paris von Nicolas Balian und Nahabed Russinian die Grundzüge einer armenischen Verfassung entworfen. Damit wurde eine Nationalkonstitution geschaffen, die das nationale Bewusstsein und die demokratischen Rechte der ArmenierInnen zur Basis hatte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten sich verschiedene revolutionäre Gruppen und Parteien, die unterschiedliche politische Programme verfolgten. Zwei Parteien, die für den Kampf der armenischen Nation eine bedeutende Rolle hatten, waren „Hintschak“ (die Glocke), gegründet im Jahr 1887 und „Dashnakzutjun“ (Armenische Revolutionäre Föderation), gegründet 1890 in Georgien (Mitglied der II. Internationale 1907). Hintschak forderte die staatliche Unabhängigkeit für Armenien. Die Daschnakzutjun Partei spielte in der armenischen nationalen Bewegung – neben den Patriarchen, als der religiösen Führung – die prägende Rolle. Sie hatte stärkeren Einfluss als andere armenischen Organisationen. Die Partei verstand sich als Interessenvertreterin der armenischen Nation in Russland wie im Osmanischen Reich und trat für die Autonomie Armeniens ein.

Die im Berliner Vertrag in Bezug auf die armenische Frage geforderten Reformen waren Verwaltungsreformen. Ihre Umsetzung hätte eine minimale Autonomie bedeutet. Die Situation der ArmenierInnen hätte sich etwas verbessert, aber weder die staatliche Unabhängigkeit noch die nationale Befreiung vom Joch der Großmächte wären damit erreicht worden.

Machtpoker der Großmächte und Pogrom-Strategie des Sultans

Artikel 61 des Berliner Vertrags gab den Signatarmächten das Recht, die Umsetzung der vom Osmanischen Reich geforderten Maßnahmen zu überwachen.

Russland, England, Frankreich und Italien traten als „Schutzmächte des christlichen armenischen Volkes auf“ und gaben vor, an seinen Geschicken interessiert zu sein, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Dabei agierte Russland selbst in Ostarmenien als Unterdrückermacht gegen das armenische Volk. Eine Autonomie in Westarmenien hätte die armenische Nationalbewegung auch in Ostarmenien dahingehend beeinflusst, die Bestrebungen um die Unabhängigkeit Armeniens zu verstärken. Daher spielte Russland ein doppeltes Spiel. Den politischen und religiösen armenischen Vertretern wurde Unterstützung für Reformen zugesagt und gleichzeitig versuchte sie diese gegen den Sultan im Sinne des Zarenreiches aufzuhetzen um die angestrebte Einverleibung Westarmeniens in das russische Reich durchzusetzen.

Für England war die armenische Frage nur ein Mittel, das Osmanische Reich unter mehr Druck zu setzen, um in Nordafrika (z.B. Ägypten) und in den arabischen Ländern, die damals zum Osmanischen Reich gehörten, seinen eigenen kolonialen Machtbereich auszudehnen. Um die öffentliche Meinung in England zu beruhigen, die damals Unterstützung für die Armenier einforderte, mahnte die britische Regierung hin und wieder die Einführung von Reformen in Westarmenien an.

Das Deutsche Reich als aggressiver, auf internationaler Arena in der kolonialen Aufteilung zu spät gekommener Imperialismus verfolgte die politisch-geostrategische Linie der Staatserhaltung des halbkolonialen Osmanischen Reichs. Angestrebt wurde die alleinige Oberherrschaft über das Osmanen Imperium zu erringen und die anderen Großmächte auszuschalten. Mit aller Macht unterstützte der deutsche Kaiser den Sultan gegen England, Russland und Frankreich. Aus dieser imperialistischen Konkurrenz erwuchs das Bündnis Deutschland, Österreich-Un­garn, Italien und Osmanisches Reich bzw. das was davon übrig geblieben war. Der deutsche Staat rührte nicht an der armenischen Frage, erklärte diese zur „inneren Angelegenheit“ der Türkei um „das Vertrauen des Sultans“ zu gewinnen.Lepsius beschrieb diese Gemengenlage 1896 folgendermaßen:

Aber man sagt uns, daß … jene heiligen Verträge nichts anderes gewesen sind, als eine schöne moralische Kulisse, hinter der sich das politische Intrigenspiel der Mächte zu verbergen wünschte, und daß, Armenien hin, Armenien her, keiner der Unterzeichner des Berliner Vertrages ernstlich daran gedacht hat, auch nur einen Finger zu rühren, um die hübschen Versprechungen irgend wann einmal einzulösen oder die Pforte zur Ausführung ihrer Verpflichtungen anzuhalten.“8

Die Osmanische Herrschaft unter dem „Blut-Sultan“ Abdul Hamid II. wusste um die Uneinigkeit der Signatarmächte des Berliner Vertrages und ihre Konkurrenz für die kolonialen Ziele. Ihre erklärte Bereitschaft für die Durchführung der Reformen war ein Täuschungsmanöver. Sowie die Vertreter der Signatarmächte ging auch Abdul Hamid II. von den eigenen Interessen aus und betrachtete die armenische Frage als eine Bedrohung seiner Macht. „Der Sultan fühlte sich durch Europäer und Armenier in die Enge getrieben. ‚Durch die Wegnahme von Griechenland und Rhodos hat Europa uns die Füße abgehackt’, lamentierte er, ‚der Verlust von Bulgarien, Serbien und Ägypten hat uns die Hände abgerissen, und durch die Agitation in Armenien wollen sie an unsere lebenswichtigen Organe heran und uns unsere Gedärme ausreißen. Dagegen müssen wir uns mit aller Kraft zur Wehr setzen.’“9

Laut verschiedener historischer Quellen erwogen die osmanischen Herrschenden bereits Ende der 1880er Anfang der 1890er Jahre als Lösung der armenischen Frage die physische Vernichtung der armenischen Bevölkerung in ihrem Machtbereich.

Anfang 1889 soll er (Sultan Abdul Hamid II., Anm. TA) dem ungarischen Professor Vambery anvertraut haben: ‚Ich werde die Armenier jetzt bald auf Vordermann bringen, das versichere ich Ihnen. Ich kenne ein Mittel, sie zu beruhigen.’ Zwei Tage später dekretierte die Regierung unter dem Vorwand, Maßnahmen zur Verteidigung der Grenzen in Kleinasien ergreifen zu müssen, die Aufstellung eines kurdischen Kavallerie-Corps (hamidiye oder Kavallerie des Sultans), das in Wirklichkeit die armenischen Rebellen niederwerfen sollte. Marschall Zeki Pascha wurde zum Kommandeur des 6.Armee-Corps ernannt mit dem Auftrag, die hamidiyes zu organisieren.“10

1894-96 Massaker der kurdischen Hamidiye-Söldnertruppen des Sultans

General von der Goltz, Leiter der deutschen Militärmission in Istanbul „initiierte die Einführung von bewaffneten Milizen, sogenannte Hamidiye, in den osmanischen Ostprovinzen“.11

Diese Regimenter wurden 1891 aufgestellt. Die Söldner waren nicht ausschließlich kurdischer Herkunft, aber Kurden bildeten die Mehrheit. Ihre offizielle Aufgabe war die Verteidigung der östlichen Grenzen gegen eventuelle Angriffe Russlands. Die Intentionen Sultan Abdul Hamids II. waren vielseitig. Zum einen konnte er so die Kurden selbst unter Kontrolle bringen, zum anderen, und das war das wichtigste Ziel, die Unterdrückung der ArmenierInnen organisieren.

Die Hamidiye-Milizen wuchsen von anfangs 50 000 Mann in kürzester Zeit auf 150 000 an. Sie gingen grausam gegen die armenische Bevölkerung vor, drangsalierten, plünderten und töteten. Der Sultan und seine Armeeführung warteten auf einen „Anlass“, um die armenische Bevölkerung als Schuldige hinstellen zu können, um zu ihrer Pogrompolitik überzugehen. Zum Beispiel die Vorkommnisse in der armenischen Gemeinde in Sassun (Sason) „Im Juni 1894 kam ein Landrat mit berittener Polizei erneut in die Bergdörfer, um die Steuer einzuziehen. Die Armenier erklärten sich dazu bereit unter der Bedingung, nicht mehr die Abgaben an die Kurden entrichten zu müssen. Daraufhin ‚beschimpfte und mißhandelte’ der türkische Beamte die Armenier, wie der britische Konsul von Erzurum, R. W. Graves, meldete, ‚vorauf die über ihn herfielen und ihn nach einer heftigen Tracht Prügel wieder abziehen ließen’.“12

Dieser Vorfall wurde von dem Landrat als „bewaffnete Rebellion“ der Armenier kolportiert. Tausende Armen­ierInnen flüchteten in die Berge bei Sassun und leisteten einen Monat Widerstand gegen die anrückenden Soldaten der osmanischen Armee und die Hamidiye-Regimenter. Dieser Übermacht unterlagen sie schließlich und über 8 000 ArmenierInnen wurden niedergemetzelt.

Nach diesem Massaker wurde das diplomatische Ringen zwischen den Mächten, England, Russland, Frankreich und dem Osmanischen Reich über die armenische Frage wieder intensiver. Am 11. Mai 1895 wurde eine „Denkschrift“ der russischen, englischen und französischen Botschafter mit Reformvorschlägen für die sechs Provinzen, in denen mehrheitlich Armenier Innen lebten, an die osmanische Regierung überreicht. Trotzdem hatten auch die drei Mächte kein wirkliches Interesse, die Lage der Armenier zu verbessern.

Am 17. Oktober 1895 stimmte der Sultan den Vereinbarungen über die Reformen zu. Während noch die Verhandlungen über die Reformen andauerten und der Sultan sich dazu bereit erklärte, startete die Mordmaschinerie des Osmanischen Reichs planmäßige, vorbereitete Massaker gegen die armenische Bevölkerung durchzuführen! 312 000 armenische Menschen wurden ermordet. 13

Wie reagierten die europäischen Mächte, was haben sie getan? Nur in zwei Fällen seit dem Berliner Kongress 1878 haben sie sich während der Massaker 1894-96 für die „Rettung“ der ArmenierInnen „eingesetzt“. Der erste Fall war Zeytun: die Armenier schlossen sich gegen Übergriffe zusammen und führten seit Oktober 1895 einen bewaffneten Kampf. Hier vermittelten die Großmächte zwischen dem Sultan und den Armeniern. Der zweite Fall war in Istanbul: Am 26. August 1896 belagerten 25 Armenier die Osmanische Bank um die Großmächte auf die Lage der Armenier aufmerksam zu machen. Infolgedessen wurden innerhalb weniger Tage ca. 8 000 ArmenierInnen in Istanbul gelyncht und ermordet. Die Großmächte vermittelten, woraufhin die Bankbesetzer freikamen.

Die diplomatische Heuchelei über „Reformen“ endete zunächst Anfang 1897 und die armenische Frage lag unter staubigen Dokumenten, die in Aktenschränken verschwanden…

Was die Reformen in den Provinzen betraf, so blieb es bei Versprechungen, und man kehrte wieder zur unauffälligeren Politik ständiger Verfolgungen und vereinzelter Morde zurück. Die Lage der Armenier, die den Massakern entkommen waren, verschlechterte sich weiter. Man hatte ihnen jegliche Reisen untersagt (nicht nur ins Ausland, sondern auch von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf), was das Ende ihres Handels bedeutete. Regierung und Kurden trieben erneut die Steuern mehrmals im Jahr ein und erfanden verschiedenartigsten Schikanen. Die Armenier durften keine Waffen besitzen, nicht einmal ein langes Küchenmesser oder einen Stock.“14

Infoflyer der Bolschewistischen Partei/Nordkurdistan-Türkei zum 106. Jahrestag des Völkermordes an den Armenier:innen in der Türkei. Die Vertreibung der ArmenierInnen aus ihren Städten und Dörfern in einem langen Zug in die Wüste. Im Text heißt es: Dieser Völkermord ist ein geschichtlicher Fakt. So sehr auch der türkische Staat und die Herrschenden versuchen diesen zu leugnen, welche Lügen sie auch vorbringen, nicht wird diese geschichtliche grausame Tatsache aus der Welt schaffen. … Die nationale Unterdrückung gegen die Armenier:innen existiert bis heute weiter.

Diese Situation hielt bis zur jungtürkischen „Revolution“ im Jahr 1908 an.

Jungtürkische Regierung und Hoffnung des armenischen Volks!

Die Herrschaft Sultan Abdul Hamids II. gründete auf einer massiven, andauernden Unterdrückung aller oppositionellen Kräfte, sowie nationaler, nicht muslimischer Minderheiten. Die Kriege und der Zerfallsprozess des Osmanischen Reichs riefen immer mehr Unzufriedenheit, Widerstand und Aufstände gegen die Politik des Sultans hervor. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden verschiedene geheime Verbände und Organisationen gegründet.

Der erste Kongress der oppositionellen Kräfte fand vom 4. bis 9. Februar 1902 in Paris statt. Die Initiative ging von den Jungtürken aus. Die armenischen Organisationen Daschnakzutjun und Veragazmyal Hintschak (Reorganisation) einigten sich, nicht als Einzelorganisationen sondern als gemeinsamer Block daran teilzunehmen.

Die Revolutionäre Hintschakistische Partei lehnte eine Beteiligung ab. Auf dem Kongress kamen ca. 70 Vertreter fast aller Nationen und Völker, die unter der Knute des Osmanischen Reiches standen, zusammen. Die Meinungen über die Lösung der armenischen Frage, der Durchführung der Reformen und die Intervention der europäischen Mächte, gingen auseinander.

Der zweite Kongress fand auf Initiative von Daschnakzutjun vom 27. bis 29. Dezember 1907 in Paris statt. Das im September 1907 gegründete jungtürkische Komitee für „Einheit und Fortschritt“ (Ittihat ve Terakki Cemiyeti) entsandte ebenfalls Vertreter zu diesem Kongress. „Die Delegierten warfen dem Sultan vor, das Land herunterzuwirtschaften und das Osmanische Reich in den Augen der Großmächte zu diskreditieren. Sie schlugen gemeinsames Handeln von Muslims und Christen vor, verlangten den Rücktritt Abdul-Hamids und die Ablösung des absolutistischen Regimes durch ein parlamentarisches System. Einstimmig sprach sich der Kongreß für die Anwendung revolutionärer Kampfmethoden durch die Oppositionsparteien aus. Er rief auf zum bewaffneten Widerstand, zur Nichtzahlung von Steuern, zum politischen und wirtschaftlichen Streik, zur Agitation in der Armee und zum Generalaufstand.“15

Mit dieser gemeinsamen Haltung begründeten Daschnakzutjun und das Komitee für „Einheit und Fortschritt“ gleichzeitig ihr Bündnis gegen den Sultan. Das Komitee trat anfangs radikaldemokratisch unter der Losung der französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ an. Die Daschnakzutjun arbeitete intensiv, um die Beschlüsse des Kongresses zu verwirklichen. Ihre Anhänger hatten die Hoffnung, dass mit der Entmachtung Abdul Hamids II. die Vernichtungspolitik gegenüber dem armenischen Volk endlich enden würde!

Nach einem Ultimatum der Opposition an den Sultan am 23. Juli 1908 mit der Forderung innerhalb von 24 Stunden die Verfassung wieder in Kraft zu setzen, ansonsten marschiere das 2. und 3. Armeekorps auf Konstantinopel, erklärte sich Abdul Hamid II. dazu bereit. Damit war der Putsch, eine „Revolution von oben“ erfolgreich und die in der Verfassung vorgesehen konstitutionelle Monarchie wurde wieder installiert. Die Jungtürken waren die bestimmende Kraft, beschnitten die Macht des Sultans, und hielten sich zunächst im Hintergrund. Auch wenn die Volksmassen nicht aktiv beteiligt waren, stieß diese Entwicklung unter den unterdrückten Nationen und Nationalitäten sowie den kurdischen und türkischen Volksmassen auf Zustimmung.

Für die Armenier war die Revolution von 1908 erst einmal ein Fest der Freude. Sie glaubten an die Freiheitsbeteuerungen der Jungtürken. In Konstantinopel hatten die Kadetten der Militärschule dazu aufgerufen, sich am armenischen Friedhof von Feriköy zu treffen. Vor dem Hügel, unter dem die Opfer der letzten Massaker begraben lagen, fiel die Menge auf die Knie. ‚Mit orientalischem Überschwang’, schrieb der deutsche Missionar Ernst J. Christoffel, der sich gerade in der Türkei aufhielt, ‚lag man sich in den Armen und gab sich den Bruderkuß.’ Im fernen Musch habe der türkische Militärkommandant Sani Pascha sogar einige armenische Revolutionäre ‚öffentlich umarmt’, wie die deutsche Botschaft fast entrüstet meldete.“16

Die Lage der ArmenierInnen hatte sich erst einmal verbessert. Sie „durften“ nun de jure Handel betreiben, reisen, Militärdienst absolvieren etc. Ihre Hoffnung und Freude wurden aber schon bald schwer enttäuscht.

Es folgte eine Periode von Machtkämpfen und Putschen zwischen der alten Macht, dem Sultan und der Jungtürkischen Regierung um die Vorherrschaft im Osmanischen Reich.

Aber die geschundene armenische Nation musste erleben, dass auch die Bekenntnisse der Jungtürken zu Reformen und Demokratie mörderische Lügen waren. Die Ideologie der Jungtürken, der Panturanismus setzte ebenso auf ethnische Säuberung wie die islamistische des Sultans. Bereits im Frühjahr 1909 waren neue Massaker an der Tagesordnung. Die Jungtürkische Regierung, der Sultan und die osmanische Armee organisierten Pogrome und stachelten die Bevölkerung dazu auf. Wieder wurden die Armenier als Vaterlandsverräter, die mit dem Feind paktieren, als Sündenböcke hingestellt. Über 30 000 Menschen wurden ermordet.

Abdul Hamids II. versuchte mit einem Militärputsch die Jungtürken loszuwerden. Sie entschieden den Machtkampf für sich, setzten den Sultan am 27. April 1909 ab und hievten seinen Bruder Mehmed V. auf den Thron.

Ideologisches Fundament für den Völkermord: Panturanismus!

Trotzdem zerfiel das Reich unaufhaltsam weiter. Am 29. September 1911 begann Italien den Krieg gegen die Türkei in und um Tripolis (Libyen). Er endete mit der türkischen Niederlage und dem Frieden von Ouchy, am 18. Oktober 1912. Der Italienisch-Türkische Krieg beschleunigte den Kriegsausbruch auf dem Balkan gegen das Osmanische Reich.

Im ersten Balkankrieg erklärten im Oktober 1912 nacheinander Montenegro, Serbien, Bulgarien Griechenland der Türkei den Krieg. Er endete Mai 1913 mit der Niederlage der Türkei. Der zweite Balkankrieg zwischen Bulgarien auf der einen und Serbien, Griechenland und Türkei auf der anderen Seite mit der Unterzeichnung des Friedens von Bukarest am 10. August 1913. Das Osmanische Reich musste das ganze Rest-Balkan-Gebiet, das noch von ihm besetzt war, von Adrianopel (Edirne) bis Albanien und Sarajevo abtreten.

1913 errichteten die Jungtürken ihre absolute Alleinherrschaft im Osmanischen Staat. Alle zentralen Staatsämter waren mit ihren Gefolgsleuten besetzt. Enver Pascha (Kriegsminister), Talat Pascha (Innenminister) und Cemal Pascha (Marineminister), bildeten als sogenanntes „Triumvirat“ faktisch die Regierung, eine 3-Mann-Diktatur mit weitreichenden Vollmachten.

In diesem Zeitraum entwickelten die Jungtürken einen türkisch-rassistischen Nationalismus, der die ideologische Grundlage zur Schaffung eines einheitlichen türkischen Nationalstaates nach europäischem Vorbild beisteuern sollte. Gepaart wurde dieser mit dem pantürkischen Chauvinismus.

Der Gedanke vom großtürkischen Reich – von der Adria bis zur Großen Chinesischen Mauer – der Panturanismus kam auf. In dieser Ideologie waren die Turkvölker die Herrenmenschen. Es sollten die Länder, in denen Turkvölker lebten, zu diesem einen Großtürkenreich vereint werden. Armenien war für die Pantürken ein entscheidendes Hindernis: wie ein unüberwindbarer Grenzgraben lag es zwischen den Turkländern. Wenn schon das Land nicht ausradiert werden konnte, sollte es doch von ArmenierInnen entvölkert werden. Dann würde den großtürkischen Plänen nichts mehr im Weg stehen. Dieses hochexplosive Gemisch rassistischer und chauvinistischer Hassideologie wurde in den kommenden Ereignissen zur Vernichtungsideologie weiterentwickelt.

Um die Ideologie des Panturanismus, auch Pantürkismus genannt, gesellschafts- und mehrheitsfähig zu machen, wurden an den Universitäten Lehrstühle für Türkologie eingerichtet. Als Staatsdoktrin wurde er in den Grundschulen unterrichtet und im Ausland verbreitet. Auch z.B. in Deutschland stand der Panturanismus während des Ersten Weltkrieges auf dem deutschen Lehrplan für die Volksschulen.

Da heißt es in dem Büchlein ‚Kriegsziel, Methodische Handreichungen für den Gegenwartsunterricht von Kreisschulinspektor Hauptmann, Mühlhausen i. E.: (…) Der Türke hofft wieder, sehnt sich wieder, hat wieder ein Ziel vor sich… Besonders heiß schlägt aber das türkische Herz beim Gedanken an jene jetzt russischen Lande. Heimat, Vaterland sind sie ihm. In Gedichten singen es seine Dichter, und alle singen ihnen nach:

Das Vaterland der Türken ist nicht die Türkei,

Ist nicht Turkestan,

Es ist ein weites, ewiges Land:

Turan.’“17

Armenien 2015

Die Gebietseroberungsgelüste der Jungtürken waren nach außen imperialistisch und nach innen entscheidend geprägt von einer rassistischen Türkisierungspolitik. Auch wenn gleichzeitig der Panislamismus sowie antichristliche Vorurteile eingesetzt wurden, bestimmend war die biologistische, säkulare Rassentheorie der Jungtürken.

Auf dem Weg ihre Ziele durchzusetzen, erklärten die Jungtürken Armenien und die ArmenierInnen zum „Hauptfeind“: „Wenn wir die geschichtlichen Umstände der Vergangenheit genau prüfen, finden wir, dass alle Stürme, die den patriotischen Maßnahmen des Komitees schadeten, Folge der zerstörerischen Keime waren, die von den Armeniern gesät worden waren.“18 Die Depeschen des Komitees für „Einheit und Fortschritt“ belegen, dass die Entscheidung zum planmäßigen Genozid vor dem 8. Februar 1915 gefallen sein muss. Mit der Depesche vom 25. März wurde jede Hilfe, um ArmenierInnen zu schützen, verboten und das Ziel eindeutig benannt: „die in der Türkei lebenden Armenier auszulöschen, ohne einen einzigen am Leben zu lassen.“19

Die Anführer der Mörderbande, Enver, Talat und Cemal waren die führenden Vertreter des Panturanismus/Pantürkismus an der Macht. Im Ersten Weltkrieg bot sich dann die Möglichkeit, die großtürkischen Pläne umzusetzen. Nicht nur, dass die Völker unter dem Krieg zu leiden hatten: Für die armenische Bevölkerung brachte der Erste Weltkrieg den Völkermord.

Vorbereitung des Völkermordes

Die Kriege in Tripolis gegen Italien und auf dem Balkan gegen die Balkenländer hatten das Osmanische Reich nicht nur gebietsmäßig verkleinert, sondern auch militärisch geschwächt. Die Jungtürken wollten bei der Reorganisierung des osmanischen Militärs weiterhin auf das deutsche Militär setzten. Das osmanische Reich hatte eine Jahrzehnte lange, militärische Kooperation mit der deutschen Armeeführung, wodurch ein intensiver Einfluss des deutschen Imperialismus in der Türkei abgesichert wurde.

Einer der wichtigsten Generäle in der deutschen Armee, Moltke wirkte entscheidend zwischen 1835-39 an der Strukturierung und Bewaffnung des türkischen Heeres mit. Von 1882 bis 1918 waren durchgehend deutsche Militärs in der Türkei „stationiert“. Deutschland entschied sich nach Verhandlungen mit den Jungtürken im Sommer 1913, eine Militärmission unter Führung von Liman von Sanders in die Türkei zu entsenden. Am 14. Dezember 1913 war die Mission in Istanbul angekommen und nahm sofort ihre Arbeit auf.

Am 2. August 1914 unterzeichneten Deutschland und die Türkei einen geheimen Bündnisvertrag. Offiziell erklärte das Osmanische Reich seine Neutralität, begann aber die Mobilmachung und trat Ende Oktober, Anfang November 1914 an der Seite des imperialistischen Deutschlands in den Ersten Weltkrieg ein.

Bei der Mobilmachung wurden wehrfähige Armenier, außer die wenigen, die desertierten, zum Militärdienst eingezogen.

Als stärkste politische Organisation hatte die Partei Daschnakzutjun nach ihrem VII. Kongress im August 1913 die Zusammenarbeit mit den Jungtürken beendet. Die fünf Jahre nach der „Revolution“ 1908 hatten ihnen mehrfach bewiesen, dass die Jungtürken nicht einmal die minimalen Reformforderungen für die Sicherheit der ArmenierInnen und deren Teilnahme an der Verwaltung in den armenischen Provinzen, proportional zur Einwohnerzahl, anerkennen.

Trotzdem hatte die Partei Daschnakzutjun auf dem VIII. Kongress (2. bis 14. August 1914) als der Erste Weltkrieg ausbrach, ihre Loyalität zum osmanischen Staat bekräftigt. Die Jungtürken verlangten von Daschnakzutjun, unter den Armeniern Transkaukasiens eine Revolte anzuzetteln. Daschnakzutjun erklärte trotz interner Widersprüche „Im Kriegsfall allerdings würden die Türkisch-Armenier ihr Land verteidigen und loyal ihre Pflicht tun, wie sie sie auch während des Balkankrieges getan hatten.“20

Das passte nicht in die jungtürkischen Pläne für den kommenden Krieg gegen Russland. Ohne den Krieg gegen Russland zu gewinnen, konnten sie ihre panturanistischen Ziele nicht erreichen. Die Verantwortlichen der Daschnakzutjun waren sehr bemüht, einen Vorwand für einen Angriff auf die armenische Bevölkerung zu verhindern. In einem Rundschreiben am 23. Oktober 1914, das an die Provinzkomitees versandt wurde, beschreibt das Daschnak-Büro von Konstantinopel die gefährliche Lage:

Wir möchten eure Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeit der Lage lenken, in der sich unser Land infolge des Kriegsgeschehens befindet. Mehr denn je müssen wir alle unsere Kraft darauf verwenden, Unglück von unserem Volk abzuwenden. Unser Beitrag zur Aufrechterhaltung der Ordnung und allgemeinen Sicherheit soll sein, daß wir jeden Anlaß vermeiden, der zu Konflikten oder politischen Missverständnissen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsteilen führen könnte.“21

Alle Loyalitätserklärungen und Bemühungen, um Konflikte und Missverständnisse zu vermeiden, hielten die Jungtürken nicht auf. Sie fanden bzw. sie schufen Vorwände, um zu ihren Vernichtungsplänen übergehen zu können. Die Ablehnung der Daschnakzutjun, in Kaukasien eine Revolte anzuzetteln, war der erste Vorwand.

Dass einige Armenier sich der Mobilmachung für den Krieg entzogen oder desertierten, war der nächste Vorwand. Als Hauptvorwand waren Lügen über eine armenische Rebellion und Kollaboration mit Russland fabriziert worden. Damit wurde die ganze armenische Nation zu „russischen Agenten“ und „Verrätern“ deklariert. Als erste Maßnahme vor den Deportationen haben sie die armenischen Soldaten entwaffnet und in Arbeitsbataillone gesteckt, wo sie dann gruppenweise ermordet wurden.

Um die ideologische Vorbereitung vorwärts zu treiben, Hass gegen die ArmenierInnen unter den türkischen, kurdischen, tscherkessischen und anderen Teilen der Bevölkerung zu schüren, kannte die Lügenfabrik der Jungtürken keine Grenzen. Es wurde eine ungeheure Hetzpropaganda mit verschiedensten Falschmeldungen und Manipulationen sowie Heuchelei betrieben.

Gegen Ende 1914 startete der Kriegsminister und Armeeführer Enver Pascha unter massivem deutschen Druck den Feldzug gegen Russland, was auch für die vorherigen Angriffe osmanischer, de facto deutscher, Kriegsschiffe gegen russische Schwarzmeerstädte im Oktober zutraf. … Klar ist indes, dass der katastrophale gescheiterte Russlandfeldzug, zusammen mit dem misslungenen osmanischen Feldzug im Nordiran kurz danach, den konkreten Hintergrund für die im März und April einsetzende radikal antiarmenische Politik bildete. … Die antiarmenische Propaganda 1915 erklärte die Armenier zu Sündenböcken für die Misere an der langen Ostfront und verunglimpfte sie via Komiteegesandte in den Provinzen als hinterhältige Aufständische, Schlangen und Skorpione mitten im Reich.“22

Als letzte Vorwände für den Beginn des Völkermordes benutzten die jungtürkischen Herrscher die Ereignisse Anfang März 1915 in Zeytun und nach dem April 1915 in Van. In beiden Fällen verteidigte sich das armenische Volk heldenhaft gegen mörderische Angriffe, Gewalt, Mord und Vertreibung der osmanischen Soldateska.

Aber die Herrschenden starteten einen weiteren Propagandafeldzug über angebliche Gräueltaten der verhassten Armenier. Die Lügenmaschine hatte einen armenischen Aufstand in Van konstruiert und schon während der ersten Nachrichten aus Van starteten jungtürkische Mörderbanden den Völkermord – in der Nacht vom 24. zum 25. April 1915.

Meds Yeghern – Völkermord

In der Nacht des 24. April nahm die Geschichte der jungtürkischen Pogrompolitik eine neue, barbarische Dimension an.

Mit der Verhaftungswelle beginnend am 24. April 1915 in Istanbul wurden armenische Intellektuelle, die kulturelle Elite, Wissenschaftler, Händler; kurz gesagt die führenden Persönlichkeiten der armenischen Nation verhaftet, deportiert und fast alle ermordet. Am ersten Tag wurden 235 ArmenierInnen, innerhalb kürzester Zeit 2 345 festgenommen.

Damit setzte das türkisch-chauvinistische Komitee für „Einheit und Fortschritt“, die staatlich geplante, systematisch von staatlichen Stellen und Heer durchgeführte, „ethnische Säuberung“ in Gang. Auf die Festnahme der armenischen Intellektuellen folgte in Anatolien, vor allem in Westarmenien eine blutrünstige Hetzjagd auf die armenische Nation. Unter der islamischen, türkischen, kurdischen und anderen Bevölkerungsschichten wurde chauvinistischer, religiöser Hass gegen ArmenierInnen und Christen geschürt. Die staatlichen Instanzen stachelten sie zum Mord an ihren armenischen Nachbarn, zum Raub von deren Hab und Gut an.

Am 12. Mai 1915 drohte Talat dem armenischen Abgeordneten Wartkes – er und der Abgeordnete Zohrab waren vorerst „verschont“ geblieben – „In den Tagen unserer Schwäche seid Ihr uns an die Gurgel gefahren und habt die armenische Reformfrage aufgeworfen. Darum werden wir die Gunst der Lage, in der wir uns befinden, dazu benutzen, Euer Volk derart zu zerstreuen, daß Ihr Euch für fünfzig Jahre den Gedanken an Reformen aus dem Kopfe schlagt.“23 Einige Tage später waren auch Wartkes und Zohrab festgenommen und deportiert. Die Verhaftungswelle hielt bis zum 19. Mai 1915 an. Damit war die armenische Nation „enthauptet“.

TA und Cagri armenisch

Kafile – Deportation in die Vernichtung

Nachdem die führenden armenischen Persönlichkeiten verhaftet, deportiert und fast alle ermordet waren; nachdem die meisten eingezogenen, wehrfähigen Männer, entwaffnet und zur Sklavenarbeit gezwungen wurden, um nach und nach bestialisch ermordet zu werden, waren für das Komitee für „Einheit und Fortschritt“ die Voraussetzungen für den systematisch geplanten Völkermord geschaffen. Sie gingen zu den unsagbar brutalen Massendeportationen über. Obwohl die Vertreibungen schon im Gange waren, haben sie offiziell am 27. Mai 1915 das Deportationsgesetz erlassen:

Artikel 1: Während des Kriegzustands sind die Kommandeure der Armeekorps, Armeen und Divisionen … autorisiert und verpflichtet, sofort und nachhaltig alle mit Waffengewalt zu bestrafen, die sich in irgendeiner Weise den Befehlen der Regierung zur nationalen Verteidigung und zur Aufrechterhaltung der Ordnung widersetzen oder die mit der Waffe in der Hand Überfälle durchführen oder Widerstand leisten.

Artikel 2: Die Kommandeure der Armee … dürfen im Fall militärischer Notwendigkeit und für den Fall, dass sie Spionage oder Verrat feststellen, die Einwohner von Dörfern oder Städten einzeln oder insgesamt fortschaffen und sie an anderen Orten ansiedeln.“24

Das Wort Armenier wurden nicht genannt. Aber es war für jeden klar, wer gemeint war. Die ganze armenische Bevölkerung war als „Verräter“ und „Spione“ Russlands und als Bedrohung für die „nationale Verteidigung“ und „Aufrechterhaltung der Ordnung“ denunziert worden.

Die armenische Bevölkerung wurde gewaltsam aus ihren Heimatorten deportiert und auf die „Reise ins Nichts getrieben“. Die Deportationszüge in die Wüsten und das Dahinvegetieren in den Lagern, das Leid und das Grauen dauerte Monate und Jahre, bis in das Jahr 1917. Planung und Durchführung waren so „effektiv“ von Armee und Staatsspitze organisiert, dass Talat bereits am 31. August 1915 dem deutschen Botschafter Hohenlohe-Langenburg mitteilte: „Die armenische Frage besteht nicht mehr.“25

Die Deportationen wurden offiziell als „kriegsbedingte Umsiedlung einer unzuverlässigen Minderheit“ begründet. Die ArmenierInnen sprachen von der Kafile, dem Deportationszug, der langen Kolonne. Als einige Verwaltungsmitarbeiter den Ausrottungsplan nicht ganz einhielten, wurde auch den letzten Zweiflern klargemacht: Das Verbannungsziel für die Armenier-Innen „ist das Nichts!“

Obgleich ein ganz besonderer Eifer für die Ausrottung der fraglichen Personen bewiesen werden sollte, erfahren wir, daß jene an verdächtige Orte, wie Syrien und Jerusalem, geschickt werden. Dergleichen Duldsamkeit ist ein unverzeihlicher Fehler. Der Ort der Verbannung derartiger Unruhestifter ist das Nichts. Ich empfehle Ihnen, danach zu handeln.“26 (Hervorh. TA)

Das war die grausame Realität und Praxis der Völkermörder: Armenierinnen und Armenier, Alte, Junge, Kinder, Frauen und Männer so lange zu vertreiben und auf die Todesmärsche zu schicken, bis sie an Hunger, Durst und Krankheiten zu Grund gingen – auf dem Weg ins Nichts“. Ihnen wurde immer wieder von neuem Hoffnung gemacht, dass bei der Ankunft in der nächsten Ortschaft der Marsch zu Ende gehe. Aber kaum angekommen, wurden neue Befehle für den Weitermarsch erteilt. In ihren geheimen verschlüsselten Telegrammen formulierten die Völkermord-Organisatoren, das Triumvirat, die Ausrottung der armenischen Nation deutlich.

Es ist bereits mitgeteilt worden, dass die Regierung auf Befehl des Djemiet (Komitee, TA) beschlossen hat, alle Armenier, die in der Türkei wohnen, gänzlich auszurotten. Diejenigen, die sich diesem Befehl und diesem Beschluß widersetzen, verlieren ihre Staatszugehörigkeit. Ohne Rücksicht auf Frauen, Kinder und Kranke, so tragisch die Mittel der Ausrottung auch sein mögen, ist, ohne auf die Gefühle des Gewissens zu hören, ihrem Dasein ein Ende zu machen.“27

Als Abdul Hamid II. Massaker an den Armeniern verüben ließ, ließ er auch eine Zwangsislamisierung durchführen. Wenn ArmenierInnen zum Islam konvertierten, konnten sie überleben und auch in ihren Heimatorten verbleiben. Unter dem Komitee für „Einheit und Fortschritt“ war nicht einmal das möglich. Talat stellte unmissverständlich die Haltung der Regierung klar: „Benachrichtigen Sie die Armenier, die in der Absicht, der allgemeinen Verschickung zu entgehen, den Islam annehmen wollen, dass sie nur am Orte ihrer Verbannung Muselmann werden können.“28

Die Regierung wollte auch nicht diejenigen verschonen, die zum Islam konvertierten. Die Jungtürken zielten nicht auf Islamisierung, sondern die Vernichtung der armenischen Nation. Dafür war jedes Mittel recht. Nur, wo es Unterstützung aus der kurdischen und türkischen Bevölkerung gab, konnten sich ArmenierInnen retten, indem sie Muslime wurden.

Die Deportierten waren auf dem Weg ins Nichts“ Zielscheibe der rohesten Gewalt der Soldaten der osmanischen Armee, Kurden, Araber, Tscherkessen und Türken u.a.

Die armenischen Menschen wurden nicht nur beraubt, sondern systematisch ermordet. Die Frauen, besonders die jüngeren, waren für die Raubmörder eine Kriegsbeute! Sie wurden vergewaltigt, gefoltert und ermordet. Oder von Armeeangehörigen als persönlicher Besitz „beschlagnahmt“, verschleppt und zu Sklavinnen degradiert. Dagegen schritten Talat und die Armeeführung ein und verboten diese Praktiken. Denn diese widersprachen ihrem Ziel, die armenische Bevölkerung gnadenlos zu vernichten! „Wir erfahren, dass Leute aus dem Volke und Beamte sich mit armenischen Frauen verheiraten. Ich verbiete dies streng und empfehle dringend, dass die Frauen dieser Art nach ihrer Trennung in die Wüste verschickt werden.“ 29

Die Herrschenden versuchten auch die Unterstützung und Adoption von armenischen Waisenkindern drakonisch zu unterbinden. Als Waisenhäuser elternlose armenische Kinder aufnahmen, wurde der Befehl erlassen:

Wir erfahren, dass die kleinen Kinder der bekannten Personen, die aus den Vilayets Sivas, Mamouret ul-Asis, Diarbekr und Erserum verschickt sind, als Waisen und weil ohne Unterstützung infolge des Todes ihrer Eltern, von muselmanischen Familien adoptiert oder als Dienstboten angenommen wurden. Wir fordern Sie auf, alle solche Kinder zu recherchieren und sie an den Ort ihrer Verbannung zu schicken; außerdem die Bevölkerung darüber durch Ihnen geeignet erscheinende Mittel aufzuklären.“ 30

Die Schlächter sprechen hier nicht nur die zynische Sprache des Völkermordes, sie wollten auch um jeden Preis Augenzeugen und Beweise für ihre Barbarei aus dem Weg schaffen.

In der menschenverachtenden Rigorosität, in der geradezu pedantisch-grausamen Vernichtungsplanung dieser Völkermörder äußert sich die Parallelität mit dem deutschen Faschismus und seinem Genozid an den europäischen Juden.

Es sollte keiner sich daran erinnern, was wirklich geschehen war. Journalisten oder andere Personen, die die barbarischen Aktionen auch fotografisch dokumentierten, sollten mit allen Mitteln behindert oder ermordet werden:

Wir erfahren, daß einige Berichterstatter armenischer Zeitungen, die sich in Ihrem Gebiete aufhalten, sich Photographien und Papiere verschafft haben, die tragische Vorgänge darstellen, und diese dem amerikanischen Konsul Ihres Platzes anvertraut haben. Lassen Sie gefährliche Personen dieser Art verhaften und beseitigen.“ 31

Trotz der Gefahr, verhaftet oder „beseitigt“ zu werden, hatte Armin T. Wegner, Sanitäter im Dienste des deutschen Militärs, den Mut, heimlich zu fotographieren und diese Beweisstücke zu retten. 32

Der Genozidplan der Jungtürken wurde in den Jahren 1915 bis 1917 umgesetzt. Mit der Beendigung des Ersten Weltkriegs endete auch der Völkermord am armenischen Volk.

Nach dem Völkermord

In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, von 1919 bis 1922 führte die Türkische Nation unter Führung von Mustafa Kemal einen „Nationalen Befreiungskrieg“. Die Kemalisten besetzten die ehemals russischen Provinzen Kars und Ardahan, bedrohten und verübten Pogrome an den armenischen EinwohnerInnen. Die ArmenierInnen waren auch Opfer in diesem Krieg. Laut G. Koutcharian beträgt die Anzahl der Opfer in diesen Nachkriegsjahren ca. 100 000. Weitere Folge war: Zehntausende Menschen flohen nach Ostarmenien. Ende 1918 lebten dort insgesamt mehr als 300 000 Flüchtlinge.

Auf Druck der Siegermächte England und Frankreich schuf das Osmanische Reich im besetzten Istanbul Sondertribunale (1919-1920). Darin wurden nur einige osmanische Militärs und Verwalter wegen „Kriegsvergehen“ schuldig gesprochen. Von Völkermord oder von Ausrottung der Armenier war keine Rede. Die politisch-militärisch Verantwortlichen und Befehlshaber wurden nicht zur Rechenschaft gezogen.

Weder die diplomatischen Verhandlungen der Siegermächte nach dem Krieg, die im Vertrag von Sèvres vorgesehenen waren, noch die vom US-Präsidenten, Wilson festgelegten Grenzen in den Provinzen Erzurum, Trabzon, Van und Bitlis für ein unabhängiges Armenien, noch spätere Verhandlungen für die Umsetzung dieses Plans brachten der armenischen Nation eine Lösung.

Mit dem Lausanner Vertrag wurde am 24. Juli 1923 „die armenische Frage“ begraben, und der nationalistische Völkermord an dem armenischen Volk als Teil der „ethnisch-religiösen Umgestaltung“ im Mittleren Osten völkerrechtlich abgesegnet. Da alle europäischen imperialistischen Mächte für diesen Völkermord Verantwortung trugen, wurde er damit einfach dem „Vergessen“ und Verdrängen übergeben.

Leugnung

Die Frage nach der Opferzahl des Völkermordes muss insofern diskutiert werden, da diese eine gewisse Rolle in der Leugnung des Völkermordes durch den türkischen Staat spielt. Nach türkischer Lesart werden die Zahlen der getöteten ArmenierInnen möglichst niedrig dargestellt. Demnach lebten laut Volkszählung vor dem Krieg 1,29 Millionen Armenier im Osmanischen Reich. Das Innenministerium selbst gab nach dem Ende des Weltkrieges die Zahl von 800 000 Toten an. Trotzdem beharrt die türkische offizielle Politik bis heute auf höchstens 300 000 Ermordeten.

Das armenische Patriarchat bezifferte die armenische Einwohnerzahl vor dem Ersten Weltkrieg mit ungefähr 2,1 Millionen. Lepsius veröffentlichte in seinem Buch „Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei“ eine Statistik, wonach vor dem Krieg 1 845 450 ArmenierInnen in der Türkei lebten. Wir können also davon ausgehen, dass etwa zwei Millionen Armenier­Innen vor 1915 im Osmanischen Reich lebten.

Das ist eine mit vielen Quellen übereinstimmende realistische Schätzung. Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass die armenische Bevölkerung durch die vorhergehenden Massaker und Vertreibungen dezimiert wurde. Viele Menschen waren auch wegen der unerträglichen Unterdrückung ausgewandert.

Der deutsche Geschäftsträger Radowitz in Istanbul, berichtete an Reichskanzler Hollweg bereits während des Völkermordes am 4. Oktober 1916: „…so gelangt man zu einer Zahl von über 11/2 Millionen von Umgekommenen und rund 425000 Ueberlebenden.”33

Die heute von allen ernst zunehmenden Historikern und der armenischen Community angenommene Opferzahl von über anderthalb Millionen armenischen Toten des Völkermordes steht für die fast völlige Auslöschung der armenischen Nation in Westarmenien.

Dieser Völkermord wurde vom osmanisch/türkischen Staat systematisch geplant und durchgeführt.

Eines der autochthonen Völker Anatoliens wurde aus dem Osmanischen Reich vor allem aus Westarmenien vertrieben und in der syrischen Wüste vernichtet. Damit wurde die Existenz der armenischen Nation in Westarmenien ausgelöscht.

Seine Kulturzeugnisse, Architektur, Hand- und Kunstwerke, Literatur, Musik wurden zerstört und versucht aus der Geschichte auszulöschen. Dörfer, Bauernhöfe, Stadtviertel, Häuser, Kirchen, Krankenhäuser, soziale Einrichtungen, Theater, Fabriken, Handwerksbetriebe der armenischen Bevölkerung, der Gemeinden und Kirchen gehörten wurden vom türkischen Staat enteignet, bzw. beschlagnahmt. Viele türkische und kurdische Bauern, Werktätige haben sich am Eigentum des hingemordeten armenischen Volkes schamlos bereichert.

Ohne Beteiligung der breiten Masse der Bevölkerung wäre das so nicht möglich gewesen. Nur sehr wenige, mutige türkische und kurdische Werktätigen sind dem armenischen Volk beigestanden. Die große Mehrheit der türkischen, kurdischen Werktätigen und die Werktätigen anderer mus­limischer Nationalitäten tragen eine historische Mitschuld an diesem Völkermord.

Für die auf den Trümmern des Osmanischen Reiches, 1923 gegründete, kemalistische Republik Türkei existierte keine „armenische Frage“. Die armenische Nation wurde laut Lausanner Vertrag nicht als Nationale, sondern nur als religiöse Minderheit unter dem „Sammelbegriff“ „Nicht-muslimische Minderheiten“ anerkannt. Die Politik der türkischen herrschenden Klassen beruht auf der Leugnung des Völkermordes. Bis auf den heutigen Tag ist die armenische Gemeinschaft/Nationalität in Nordkurdistan-Türkei Rassismus, türkischem Chauvinismus, Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt.

Nach dem Ersten Weltkrieg lebten noch ca. 250 000 ArmenierInnen, die dem Völkermord entkommen sind, in der Türkei. Aufgrund Jahrzehnte langer Leugnung des Völkermordes, Diskriminierung, Vertreibungen, Benachteiligung und immer wieder Verfolgung wurde die armenische Gemeinde immer kleiner. Viele ArmenierInnen wanderten aus, weil dieser Zustand nicht aushaltbar war und keine tiefgreifenden Veränderungen über all die Jahrzehnte in der Gesellschaft sichtbar waren.

Heute im Jahr 2015 leben nur noch ungefähr 70 000 ArmenierInnen in der Türkei.

Zukunft

Ja, es ist endgültig Zeit sich der Geschichte zu stellen. Der Kampf um die Anerkennung des Völkermordes ist gleichzeitig ein Kampf für die Existenz und das Wachsen der armenischen Gemeinschaft in Nordkurdistan/Türkei.

Diesen Kampf unterstützen wir mit aller Kraft. Wir fordern vom türkischen Staat die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern sofort – ohne Bedingung – mit allen Konsequenzen!

Vollständige Gleichberechtigung, Anerkennung und Unterstützung der armenischen Community in Nordkurdistan/Türkei!

Kampf gegen und Verbot jeglicher Form des anti-armenischen Rassismus und Chauvinismus!

Rückkehrrecht für alle Nachkommen der vertriebenen ArmenierInnen aus der Diaspora oder aus Armenien!

Recht auf Selbstbestimmung und auf Lostrennung für Westarmenien!

Aufklärung in Bildung und Erziehung über die Völkermordpolitik des türkischen Staates!

Rückgabe geraubter Häuser, Grund und Boden und anderes Eigentum!

Reparationszahlungen für alle beschlagnahmten Vermögenswerte!

Entschädigungen an die Republik Armenien und eine gleichberechtigte, demokratische, nachbarschaftliche Zusammenarbeit!

April 2015

Wir haben das Grauen überlebt …“

Sirak Minjasin, geb.1905 aus Kem (Van)

Ich kann das Jahr 1915 nicht vergessen, als wir durch Berge und Dörfer gingen. Es war März, stürmte, war unheimlich kalt. Das letzte Dorf am Weg nach Warag war Berdak. Wir sahen dort in den Straßen nackte ermordete Menschen, die geschwollen und verfault waren. In der Morgendämmerung sahen uns die Türken, die in den Bergen Stellung genommen haben und sie begannen auf uns zu schießen. Die Leute weinten erschrocken. Als wir bei Van ankamen und in die Innenstadt wollten, hielten uns die Türken an und begannen nach Männern zu suchen. Die Helden von Van schauten mit dem Fernglas, begannen zu schießen. Manche der Türken fielen, die anderen flohen, und wir konnten Van betreten. In Van brachte man uns in einem Schulgebäude unter. Jeden Morgen zog das Blasorchester von Van durch die Stadt, von Kindern gefolgt. Das war schon die Selbstverteidigung von Van. Ein Armenier sagte uns Kindern: ‚Geht sammelt Kugeln und bringt sie, damit ich neue mache‘. Wir gingen Kugeln sammeln und brachten sie zur Werkstatt. Es kam der Tag an dem der Kampf in Van heftiger wurde.

Aghassi Kankanjan, geb. 1904 aus Van

Bevor wir in Igdir ankamen, waren wir zehn Tage lang unterwegs gewesen, im Regen unter der Sonne, im Matsch, hungrig und durstig. Unterwegs griffen uns die Kurden oft an, sie mordeten und plünderten die Menschen. Dies geschah besonders an der Brücke von Bandimahu (Berkri), wo es zu Menschenansammlungen kam. Wieviele Mütter haben sich mit ihren Kindern in den Armen von dieser Brücke in das Wasser geworfen, um nicht in die Hände der Türken zu geraten.

Eva Tschuljan, geb. 1903 aus Zeitun

Die Türken kamen und trieben uns alle aus dem Dorf hinaus. Mit der Peitsche trieben sie uns voran. Sie trieben uns alle mit nach hinten gebundenen Händen zu einem hohen Platz, der wie eine Garnison aussah. Drin brachen sie mit Säbeln und Beilen die Hand des einen, das Bein des anderen, den Arm des dritten. Man zog uns nackt aus, splitternackt. Wir waren alle ganz nackt, ohne Hose, ohne Hemd. Es war Der-es-Sor. Am Morgen kamen sie, sammelten uns wieder, begannen uns wieder zu schlagen und ins Wasser zu werfen, unter der Höhle floss der Fluss Chabur. Sie schlugen einem den Kopf, dem anderen ein Bein, dem dritten die Arme ab und warfen alle aufeinander auf den Boden.

Bahruhi Siljan, geb. 1900 aus Nikomedia

12 Monate lang waren wir in der Wüste, kein Brot, kein Wasser, kein Haus, nichts. Von der neunköpfigen Familie bin ich allein am Leben geblieben; meine Mutter wurde vor meinen Augen umgebracht, mein Schwesterchen wurde entführt, mein anderes Schwesterchen war klein, erkrankte, starb; das mittlere Schwesterchen ging verloren, wir fanden uns nicht mehr. Man riss den Bauch meiner Schwägerin auf. ‚Hat die Giaurin (Heidin, TA) ein Mädchen oder einen Jungen im Bauch?‘ fragte ein Polizist. ‚Eine Giaurin kann nicht einen Jungen gebären, sieh!‘ sagte ein anderer und riss mit dem Schwert den Bauch vor unseren Augen auf. Ich und vier andere Mädchen, wir konnten mit Mühe in die Wälder flüchten, dort gab es einen Fluss, wir schwammen zum anderen Ufer. Ein Araber brachte mich zu sich nach Hause, sagte: ‚Töchterchen, euer Gesetz kennt es zwar nicht, aber lass dein Gesicht mit blauer Tinte tätowieren, damit man dich nicht als eine Armenierin erkennt!.‘ Ich weinte. Ich hatte weder Bettwäsche noch Kleider. Man tätowierte mir das Gesicht, schnitt mir die Zöpfe ab. Ich machte die Hausarbeit.

Chatschik Chatschaturjan, geb. 1900 aus Schenik

Es kam eine türkische Truppe, etwa sechzigtausend Mann. Sie umringten das Dorf. Die Unsrigen wehrten sich. Zweimal drangen die türkischen Truppen ins Dorf ein. Die beiden Male trieben unsere Fedajins und diejenigen, die Waffen hatten, sie zurück. Sie kamen in der Mitte des Dorfes zusammen. Drei Tage zuvor hatten unsere Leute das Dorf verlassen. Sie waren nach Antok gegangen. Die Kinder mit den Frauen. Anfang Juli gingen wir nach Antok. Kein Brot, kein Wasser, es gab nur ungesalzenes Fleisch, es war auch kein Salz da. Wir blieben dort gegen 45 Tage. Die Kämpfer kämpften. Die türkischen Truppen kamen nach Antok.

Dort wurde gekämpft. Nach 45 Tagen war unser Brot, waren unsere Vorräte alle. Geblieben war nur geröstetes Mehl. Die türkische Truppe kam. Die Schluchten füllten sich mit Kinderleichen. Die Mütter hatten sie nicht wegbringen können. Die Türken und die Kurden schossen. Von einer Kugel fielen zehn Personen. Wer floh, war gerettet. Man führte die jungen Frauen ab. Der Fluss trug so viele Leichen. Zuletzt warf man die Leute in den Fluss, um kein Pulver zu verbrauchen.

(Verjiné Svazlian, „Der Genozid an den Armeniern und die historische Erinnerung des Volkes“, 2005, S. 45, Verlag
Gitutjun, Jerewan)

Im Sommer 1915 wüteten die türkischen Truppen in den armenischen Dörfern am Musa Dagh, mordeten oder zwangen die EinwohnerInnen auf die Kafile. Fast 5 000 Menschen, Kinder, Frauen und Männer aus den Orten Vakef, Yoghun-Oluk, Khedrbek, Haji Habili und Keboussik flohen in die nahen Berge. Mit der militärischen Erfahrung des ehemaligen Offiziers der osmanischen Armee, Moses Der Kalousdian entschlossen sich die ArmenierInnen, den Mörderbanden Widerstand zu leisten. Die Gemeinschaft auf dem Musa Dagh errichtete Steinwälle und Verteidigungsanlagen. Sie konnte mehrfach türkischen Angriffswellen widerstehen. 53 Tage hielten die Widerständler stand. Um Hilfe suchend hissten sie eine selbst genähte Rotkreuzfahne. Am 15. September wurden 4 048 Menschen von französischen Armeeschiffen aufgenommen und überlebten.

1933 veröffentlichte Franz Werfel seinen Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“. In der Vorbemerkung schreibt er: „Dieses Werk wurde im März des Jahres 1929 bei einem Aufenthalt in Damaskus entworfen. Das Jammerbild verstümmelter und verhungerter Flüchtlingskinder, die in einer Teppichfabrik arbeiteten, gab den entscheidenden Anstoß, das unfassbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehenen zu entreißen.

Werfel klagt die unheilvolle Rolle aller Großmächte und das Verbrechen des Völkermordes am armenischen Volk durch das jungtürkische Regime an. Er orientiert sich dabei weitgehend an politischen Dokumenten und Fakten, die er in den Roman einarbeitet. Anhand der Aufzeichnungen von Überlebenden und Berichten setzt der Schriftsteller dem mutigen Widerstand der ArmenierInnen des Musa Dagh ein Denkmal.

Das Buch war ein Aufschrei gegen das internationale Schweigen über den Völkermord und hatte eine weltweit aufrüttelnde Wirkung. Gleichzeitig war das Werk ein Fanal, das in düsterer Gewissheit den sich anbahnenden Genozid an den europäischen Juden vorausahnte.

In Nazi Deutschland wurde der Roman sofort im Februar 1934 verboten.1938 musste Werfel emigrieren.

In den finsteren Zeiten der Nazi-Diktatur ging das Buch „Musa Dagh“ in jüdischen Ghettos von Hand zu Hand. Es war Hoffnungsträger und Zuflucht für die geschunden Menschen. Februar 1943 wurde Mordechai Tenenbaum vom Wilnaer Ghetto in das Ghetto von Bialystok, geschickt, um dort den Widerstand zu organisieren. Nach den Aufzeichnungen der entscheidenden Beratung schlägt Tenenbaum vor: „Nur eins bleibt für uns: den kollektiven Widerstand im Ghetto zu organisieren, um jeden Preis! Das Ghetto als unseren Musa Dagh zu betrachten, um ein ehrenvolles Kapitel des jüdischen Bialystok und unserer Bewegung in die Geschichte zu schreiben!“

Wir sind die kühnen Kämpfer von Musa Dagh,

Wir alle sind geübte Waffenträger,

Der Türke will uns vertreiben

Und in Wüsten vernichten.

Wir wollen nicht wie Hunde umkommen.

Wir wollen, dass man uns in guter Erinnerung hat, Ruhmvoll zu sterben ist uns eine Ehre,

Sich dem Vaterland aufzuopfern, erfüllt mit Stolz,

Wir sind alle ein tapferes Bergvolk,

Wir werden uns vor dem Feind nicht beugen,

Wir werden wie Löwen tapfer kämpfen,

Die Armee der Türken kurz und klein schlagen.

Armenisches Volkslied

Ils sont Tombés – Նրանք ընկավ

Sie fielen ohne zu wissen warum

Männer, Frauen und Kinder, die nur leben wollten

Mit schweren Schlägen von trunkenen Männern
Verstümmelt, massakriert mit vor Grauen geöffneten Augen

Sie fielen ihren Gott anrufend

Auf der Treppe ihrer Kirche oder vor ihrer Hausschwelle
Eine getriebene Herde, Kolonnen schwankend in die Wüste

Niedergeworfen von Durst, Hunger, Eisen, Feuer

Niemand erhob seine Stimme in einer euphorischen Welt
Als ein Volk in seinem Blut vermoderte

Entdeckte Europa den Jazz und die Musik
kreischender Trompeten übertönten die Schreie der Kinder

Sie fielen euphemistisch ohne Geräusch
Zu Tausenden, Millionen, die Welt rührte sich nicht
Waren einen winzig kleinen Augenblick rote Blumen
Bedeckt vom Sandsturm und mehr noch vom Vergessen
Sie sind gefallen die Sonne in ihren Augen

Wie ein Vogel im Flug durch einen Schuss zertrümmert
Um irgendwo zu sterben und ohne eine Spur zu hinterlassen

Ignoriert, vergessen in ihrem letzten Schlaf

Sie fielen im naiven Glauben

Ihre Kinder könnten weiter ihre Kindheit leben

Eines Tages auf der Erde der Hoffnung herumspringen

In einem freien Land der Menschen mit offenen Armen

Ich bin einer dieses Volkes das ohne Gräber schläft

Das gewählt hat zu sterben ohne seinen Glauben aufzugeben

Das niemals seinen Kopf unter dem Unrecht gebeugt hat

Das trotz allem überlebt hat und sich nicht beklagt

Sie fielen um in die ewige, zeitlose Nacht am Ende ihres Muts

Der Tod hat sie geschlagen ohne nach ihrem Alter zu fragen

Weil sie schuldig waren Kinder Armenien‘s zu sein

Lied zum Jahrestag des Genozids 1975

von Georges Garvarentz und Charles Aznavour,

Shahnour Vaghenag Aznavourian, Chansonnier.

Charles ist Sohn von nach Frankreich geflohenen Armeniern.

Armenien

Verschwiegene Wahrheit:

Deutschlands Verantwortung im Völkermord an den Armeniern!

Nach 100 Jahren Völkermord an den Armeniern betreibt der Haupttäter, der türkische Staat, nach wie vor seine Verleugnungspolitik. Wie verhält sich „unser“ Imperialismus, der deutsche Staat zu seiner Verantwortung an diesem Völkermord? Deutschland verschweigt die Wahrheit

Die stetigen Bemühungen der in Deutschland lebenden armenischen Community, von Demokraten, RevolutionärInnen, von fortschrittlichen MigrantInnen aus der Türkei/Nordkurdistan die Bundesregierung zur Anerkennung des Völkermordes zu zwingen, wurden bisher stets zurückgewiesen und abgelehnt.

Bundesrepublik und Anerkennung des Völkermordes

Zum 90.  Gedenktag des Völkermord 2005 verabschiedete der Deutsche Bundestag den Antrag „Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915 – Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen“. 34

Der Titel ist Programm der deutschen Haltung: Der Völkermord wird ausdrücklich nicht anerkannt. Lediglich von „Vertreibungen und Massakern“ wird gesprochen. Das Parlament stellt als zentrale politische Aufgabe „Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen“. Die aktive Rolle, die Mittäterschaft des Deutschen Reiches und seiner Generäle in der türkischen Armee bei der Organisierung und Durchführung des Völkermordes wird gezielt nicht in den Mittelpunkt gestellt. Nein, der deutsche Staat baut sich zur moralischen Instanz auf und will anderen Staaten, Türken und Armeniern eine Lektion in Versöhnung erteilen. Welcher Zynismus! Anstatt den Völkermord beim Namen zu nennen, die eigene Verantwortung zu übernehmen, und die Konsequenzen, für die deutsche Politik zu ziehen, z.B. Entschädigungen zu übernehmen, wird in dem Antrag lediglich „die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches“ eingestanden, „das angesichts der vielfältigen Informationen über die organisierte Vertreibung und Vernichtung von Armeniern nicht einmal versucht hat, die Gräuel zu stoppen.“ Im Antrag und in seiner Begründung wird die Rolle Deutschlands auf die eines „Zuschauers“ beschränkt. Das ist eine Verleugnung, Fälschung der Geschichte und der Fakten. Denn gerade „angesichts der vielfältigen Informationen“, kann und muss festgestellt werden: Der Völkermord an den Armenierinnen und Armeniern hätte ohne den deutschen Imperialismus nicht durchgeführt werden können. Die Mitwisserschaft, die Mittäterschaft, die Verantwortung des Deutschen Reiches, die aktive Unterstützung des Völkermordes für den Profit der deutschen Konzerne ist an Hand von Archivmaterial und Dokumenten eindeutig erwiesen!

Im Jahr 2007 erklärte die Bundesregierung in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke: „Die Frage nach der Rolle des Deutschen Reiches bei den Ereignissen im Osmanischen Reich 1915/16 ist von der historischen Wissenschaft bislang nicht abschließend erforscht. Eine Bewertung der Ergebnisse dieser Forschungen sollte durch Historiker unternommen werden.“

(Hervorh. TA) 35

Dieselbe Position wird in einer weiteren Antwort auf eine erneute Kleine Anfrage der Linken vom 13. Januar 2015 bezogen. 36

Das Schema ist im Grunde dasselbe, wie bei der Leugnung des Völkermordes durch die türkische Regierung und die AKP. Historiker sollen klären, ob der Völkermord überhaupt stattgefunden hat und wie deutsche Regierung und Armee agiert haben. Damit wird jede politische Verantwortung des deutschen Staates abgestritten und der Völkermord zu einem Forschungsauftrag der Geschichtswissenschaften abgetan. Gleichzeitig lehnt die Bundesregierung mit einem völlig haltlosen Vorwand ab, den Völkermord an den Armeniern im Sinne der UN-Konvention von 1948 zu bewerten: „Für die BRD ist sie (UN-Konvention, TA) seit dem 22.Februar 1955 in Kraft. Sie gilt nicht rückwirkend.“ (Hervorh. TA) 37

Das zeigt nur eins, auch nach 100 Jahren des Völkermordes ist es dringend notwendig, hier in Deutschland, die Wahrheit über den Völkermord an dem armenischen Volk unter den Werktätigen zu verbreiten und die Verantwortung des deutschen Imperialismus ins Bewusstsein zu rufen. Weiter bekundet die Große Koalition ihr Desinteresse an dem 100. Gedenktag. Auf die Anfrage der Linken „nach einer öffentlichen Stellungnahme oder Gedenkveranstaltung“ wird mitgeteilt, „die Bundesregierung verfolgt zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Planungen für eine eigene Gedenkveranstaltung 2015.“ Das ist nur die Fortsetzung der Nichtanerkennung des Völkermordes und des sich nicht der eigenen Geschichte Stellens.

Deutsch-Türkische Beziehungen im Osmanischen Reich vor dem Völkermord

Der deutsche Imperialismus, als spät und neu aufkommende Macht, mischte Anfang des 20. Jahrhunderts bei der Neuaufteilung der Welt unter den imperialistischen Großmächten heftig mit. Den ersten Völkermord im 20. Jahrhundert verübte das Deutsche Reich 1904 an den Herero und Nama in seiner afrikanischen Kolonie „Deutsch-Südwest“.

Das Osmanische Reich sollte im 19. Jahrhundert dem deutschen Imperialismus als Ausgangsbasis für den Kampf um die Neuaufteilung der Welt gegen die von England geführte Mächtegruppierung dienen. Deutschlands wirtschaftspolitische Stellungen waren auf entscheidende Punkte konzentriert: Den Bahnbau und die Rüstungsgeschäfte mit der türkischen Armee. Auf diesen beiden Gebieten hatte der deutsche Imperialismus dank seiner guten Beziehungen zum korrupten osmanischen Regierungsapparat eine Monopolstellung errungen. Die türkische Armee, mit deutschen Waffen ausgerüstet, stand unter der Kontrolle des deutschen Militarismus.

Das deutsche Monopolkapital verfügte in der asiatischen Türkei aufgrund der Eisenbahnbauten und der Tätigkeit preußischer Instrukteure in der osmanischen Armee bereits über entscheidende Positionen für die Aufnahme einer konzentrierten Expansionspolitik. Neben militärischen und wirtschaftlichen Aktivitäten nutzte der deutsche Imperialismus schon damals pa­rallel die „humanitäre“ Einflussnahme: Als Hilfskräfte der Expansionspolitik wurden Ende des 19. Jahrhunderts ca. 450 Missionare und mehrere hundert Hilfsprediger in die Türkei geschickt. Die deutsche Diplomatie hatte den im 19. Jahrhundert den allmächtigen englischen, französischen und russischen Einfluss in Konstantinopel (Istanbul) Schritt für Schritt zurückgedrängt und sich selbst mit der Zuckerbrot-und-Peitsche-Taktik in den Vordergrund gespielt.

Wirtschaftliche Interessen Deutschlands im Osmanischen Reich prägten die militärischen und politischen Beziehungen und umgekehrt die militärischen und politischen Beziehungen förderten die Entwicklung der deutschen, ökonomischen Expansion.

Ende des 19. Jahrhunderts florierten ökonomische Erschließung und Ausdehnung. So begeistert sich Staatssekretär von Bülow: „Als schon erzielte wirtschaftliche Erfolge der Kaiserreise sind zu betrachten die Erteilung eine Konzession zum Bau eines Hafens in Haidar Pascha, die Konzession eines deutschen Kabels zwischen Konstanza und Konstantinopel, die Befestigung der zwischen der türkischen Regierung und großen deutschen Firmen bestehenden geschäftlichen Beziehungen. Durch die Kabelkonzession gelangen wir in Besitz einer direkten telegraphischen Verbindung mit Konstantinopel, die voraussichtlich den Anfang zu einer neuen Weltlinie bilden wird.“38

Der Botschafter von Marschall in Konstantinopel berichtet 1898 an den Reichskanzler von Hohenlohe:

Auf wirtschaftlichem Gebiete sind die Aussichten fortdauernd günstig, und für solide Unternehmen des deutschen Kapitals und der deutschen Industrie auch in der Zukunft Raum genug zu nutzbarer Entfaltung. (…) Man wird selbstverständlich uns nicht alles allein machen lassen, sondern auch andern gewisse Konzessionen geben. Aber eines müssen wir für uns beanspruchen, nämlich die Verbindung des bisherigen Interessengebiets der Anatolischen Bahn mit dem Flussgebiete des Euphrat und Tigris und damit dem Persischen Golfe. Mag der Wunsch des Sultans, die Anatolische Bahn bis Bagdad zu verlängern, ‚Zukunftsmusik’ sein, eine Frage der Gegenwart ist es, zumal nach jüngsten Vorgängen in Ostasien, daß uns hier kein anderer dazwischenkommt. (…) Diese Dinge ernst im Auge zu behalten, halte ich für eine meiner wichtigsten Aufgaben auf wirtschaftlichem Gebiet.“39

Prägnant und unverblümt wird die deutsche Strategie formuliert: „Wir müssen das Land wirtschaftlich von uns abhängig machen, um es später politisch ‚kontrollieren’ zu können.“40 (Hervorh. TA)

Den untrennbaren Zusammenhang deutscher, im­perialistischer wirtschaftlicher Interessen mit militärischem und politischem Einfluss stellt Botschafter Marschall eindrücklich heraus: „Es ist unmöglich, von der Stellung zu sprechen, die Deutschland hier einnimmt, ohne darauf hinzuweisen, daß deutsche Politik und deutsche gewerbliche Arbeit dieselbe allein nicht geschaffen haben, sondern ein großer Teil des Ansehens, das wir hier genießen, dem deutschen Offizier und seinen Leistungen zu danken ist. Und hier tritt eine Persönlichkeit vor allen hervor, welche den Türken den augenfälligen Beweis deutschen Wissens und Könnens geliefert hat, der General Freiherr von der Goltz. Das türkische Offizierskorps weiß und erkennt an, daß es den letzten Krieg nur infolge des Wirkens dieses Mannes gewonnen hat… Wenn es gelänge, einen annähernd ebenso tüchtigen Mann als Nachfolger hierher zu bringen, so würde dies auch vom politischen Gesichtspunkte sehr zu begrüßen sein.“41(Hervorh. TA)

Deutsche Militärmission in der Türkei

In der Beschönigung der damaligen Rolle der deutschen Armee sprechen heutzutage viele Politiker und „Wissenschaftler“ von ihrer angeblichen „Beraterfunktion“. Folgende Fakten sprechen eine andere Sprache. Welche Ziele die jungtürkische Herrschaft mit der deutschen Militärmission verfolgte und welche Macht­befugnisse sie deutschen Militärs in die Hände legte, umreißt Cemal Pascha, einer der Hauptverantwortlichen im Völkermord in der Planung einer erneuten deutschen Mission im Jahr 1913 so:

Seit mehr als dreißig Jahren haben wir in unserer Armee deutsche Instruktoren, unser Offizierskorps ist durchaus nach den deutschen militärischen Methoden erzogen worden, unsere Armee ist mit dem Geiste deutscher Erziehung und deutscher Instruktion auf das engste vertraut. (…) Ich habe daher die Absicht, eine deutsche Militärmission großen Stils kommen zu lassen und selbst, falls dies notwendig sein sollte, das Kommando eines türkischen Armeekorps einem deutschen General anzuvertrauen, an die Spitze einer jeden Einheit desselben deutsche Stabs- und Subalternoffiziere zu stellen und auf diese Art ein Musterarmeekorps zu bilden. In ihm hätten die Stabs- und Subalternoffiziere der anderen Korps eine bestimmte Zeit lang Dienst zu tun, um ihre Ausbildung zu erweitern und zu vervollkommnen. Auch will ich mit dieser Mission viele Spezialisten kommen lassen, die die Aufgabe hätten, die verschiedenen Abteilungen des Kriegsministeriums, den Generalstab, die Militärschulen und Militärfabriken zu reorganisieren.“42 (Hervorh. TA)

Im Dezember 1913 traf diese deutsche Militärmission unter Liman von Sanders in Istanbul ein. Die Mission erhielt sehr weitreichendere Befugnisse und sicherte eine unbeschränkte Machtausübung für den deutschen General in der osmanischen Armee ab. Denn für die deutsche Diplomatie stand von Anfang an klar als Ziel fest: „Die Macht, welche die Armee kontrolliert, wird in der Türkei immer die stärkste sein. Es wird keiner deutsch­feindlichen Regierung möglich sein, sich am Ruder zu halten, wenn die Armee von uns kontrolliert ist.“43

Die Funktionen von Sanders werden vertraglich festgelegt: „Der Königlich Preußische Generalleutnant Liman von Sanders, Exzellenz, wird für die Kaiserlich Ottomanische Armee auf die Dauer von fünf Jahren mit dem Dienstgrade als General der Kavallerie und mit dem Titel wie mit den Rechten und Pflichten als Chef der Militärmission angestellt und für die genannte Zeit außerdem das Kommando über das erste Armeekorps ausüben. Genannter ist Mitglied des Obersten Kriegsrates. Dementsprechend wird vornehmlich bei Beratung über nachstehende Fragen seine Stimme beachtet werden, wenngleich Entscheidungen der Stimmenmehrheit bedürfen: Allgemeines über Disziplin; Beförderungswesen; Belohnungen und Strafwesen; Organisation, Reorganisation, Übungen und Ausbildung; Bewaffnung, Ausrüstung, Bekleidung, Intendantur- und Verpflegungswesen… Außerdem ist genannter General direkter Vorgesetzter aller Militärschulen, Militärschüler-Truppenteile, Lehrregimenter und Übungslager, sowie aller im Kaiserlich Ottomanischen Heeresdienste befindlichen ausländischen Offiziere.“44(Hervorh. TA)

Hintergrund für diese ungeheuren Zugeständnisse der Jungtürken an das Deutsche Reich war militärische Schwäche, mangelhafte Ausbildung, schlechte Ausrüstung der Armee und Demoralisierung in den osmanischen Truppen. Nach den „Balkankriegen“ war die Türkei nicht im Stande allein in den Krieg zu ziehen. Der deutsche Reichskanzler Hollweg stellte fest: „Daß die türkische Armee zu aggressiven Aktionen irgendwelcher Art nicht imstande sei, habe der Krieg zur Genüge bewiesen.“45

Das war die Gelegenheit für massive deutsche Einflussnahme bis hinein in den Generalstab der türkischen Armee durch den deutschen Imperialismus.

Das war die militärische Situation vor dem Ersten Weltkrieg: Ohne deutsche Militärmission, ohne deutsche Reorganisierung der osmanischen Armee, wäre das Osmanischen Reich nicht in der Lage gewesen am Ersten Weltkrieg teilzunehmen und militärisch nicht in der Lage gewesen den Völkermord durchführen.

Deutsches Reich und „armenische Frage“

Wie schon im ersten Artikel skizziert, war die grundlegende Politik des Deutschen Reiches auf die Erhaltung des Osmanischen Reiches als eigenes Einflussgebiet ausgerichtet. Die armenische Frage wurde zur inneren Angelegenheit der Türkei erklärt. Deutschland stellte sich als Schutzmacht dar, die sich nicht, wie die anderen Großmächte in Angelegenheiten anderer Staaten einmischt, sondern deren Souveränität achtet.

Auch in den Jahren 1894-96 als die Massaker gegen die ArmenierInnen wüteten, war die deutsche Haltung völlig indifferent, ja gleichgültig:

Über angebliche russische Absichten, das türkische Armenien zu okkupieren, haben wir keinerlei Nachrichten. Sagen Sie Baron Blanc, daß es für uns zunächst gleichgültig ist, wie die armenische Frage entschieden wird.“46 47

Als aber der Druck Englands auf das Osmanische Reich zunahm und sogar die Möglichkeit einer militärischen Intervention erwogen wurde, übernahm Deutschland eine geheim gehaltene Vermittlerrolle. Dem Sultan und der Pforte wurde folgender Ratschlag erteilt: „Auf Grund Euerer pp. Berichterstattung habe ich bereits am 7. d. Mts. dem Kaiserlichen Botschafter in Konstantinopel telegraphisch anheimgestellt, dort an maßgebender Stelle darauf hinzuweisen, wie vorteilhaft es sein würde, wenn der Sultan aus eigener Initiative in der armenischen Angelegenheit etwas tue, z.B. wenn er schlechte Gouverneure durch gute ersetzen würde.“14

Die armenische Bevölkerung demonstrierte am 30. September 1895 in Konstantinopel um dem Großwesir ein Memorandum zu überreichen, „das die Massaker an den Armeniern, Misshandlungen von Häftlingen, kurdische Übergriffe sowie die Korruption der Steuereinnehmer anprangerte und eine Amnestie und Reformen verlangte.“48

Nachdem die Gendarmerie den Weg versperrte, fragte ein armenischer Student den Major, mit welchem Recht der Demonstrationszug aufgehalten werde. Daraufhin schlug der Offizier den Student mit seinem Säbel und der Student schoss ihn nieder. Dieser Vorfall war Anlass für weitere Massaker. Der deutsche Botschafter kommentierte: „Die Verfolgung und Massakrierung der ursprünglich an der unsinnigen Demonstration beteiligten Armenier war nach und nach in eine systematische Hetze gegen letztere überhaupt übergegangen.“49 (Hervorh. TA)

Nur einmal wurde versucht den ArmenierInnen beizustehen. Durch die Intervention Deutschlands, Englands und anderer Signatarmächte des Berliner Vertrags wurde das Leben von ca. 30 000 Menschen verschont. „Die Angelegenheit von Zeitun… dürfte gegenwärtig als abgeschlossen anzusehen sein, wenigstens insoweit, als die Kaiserliche Regierung Interesse dafür gezeigt hat. Die 30 000 Armenier, welche menschlicher Berechnung nach dem Tode geweiht waren, sind durch die freundschaftliche Intervention der deutschen und der englischen Regierung, denen sich später auch die Regierungen der übrigen Großmächte angeschlossen haben, gerettet worden.“50

Die „Freundschaft“, das imperiale Zweckbündnis zwischen Deutschland und der Türkei ist in den folgenden Jahren und während des Ersten Weltkrieges noch fester geworden. Deutschlands Interessen überschnitten sich in dem Punkt der unbedingten Erhaltung des osmanischen Imperiums mit den Interessen der Jungtürken. Ohne Deutschland konnte das Osmanische Reich nicht verteidigt werden und ohne Erhalt des Osmanischen Reiches konnte Deutschland seine imperialistischen, kolonialistischen Ziele im Mittleren Osten nicht erreichen.

Der deutsche Imperialismus wollte auf jeden Fall auch nach den Balkankriegen (1912-1913) die asiatische Türkei erhalten. Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow beschreibt die Lage so:

Wir haben so große Interessen in Anatolien und Mesopotamien, daß wir dieselben nicht ohne weiteres anderen preisgeben können. Man mag über Marschalls Werk der Anatolischen und Bagdadbahn denken, wie man will, sie wird von unserer öffentlichen Meinung als das einzige Fazit unserer Politik der letzten Dezennien betrachtet. Ein Leerausgehen würde für uns ein zweites Marokko sein.“51

Die strategischen und taktischen Erwägungen der Politik Deutschlands kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs konkret zur „armenischen Frage“ sahen folgendermaßen aus:

Für eine um Armenien verkleinerte Türkei ist es unmöglich, den nach Westen wie nach Süden gerichteten Ausfallstoren Rußlands militärische Defensivstellungen von ausreichender Stärke entgegenzusetzen. An die Offensive gegen ein russisch gewordenes, mit Festungen und Eisenbahnen ausgestattetes Armenien ist für sie überhaupt nicht zu denken. Wollte man den nicht wünschenswerten und hoffentlich niemals eintretenden Fall setzen, daß etwa einmal die anatolische Halbinsel als türkisches Reststück verbliebe, Mesopotamien bis an den Fuß des Taurus aber englisch würde, so bliebe die russische Stellung natürlich auch diesen beiden Nachbarn gegenüber die gefährlichste, die überhaupt angenommen werden kann. Das ganze Vorderasien vom Persischen Golf bis zum Mittelländischen und bis zum Aegeischen Meer läge vor der russischen Macht da, wie ein beherrschtes Festungsglacis. Man kann sich keine Stellung ausdenken, die formidabler gegenüber ganz Westasien wäre, als die Vereinigung von Armenien, Transkaukasien und Nordpersien in der Hand Rußlands. Soll also die Türkei erhalten bleiben, so muss auch Armenien türkisch bleiben, und weil wir die Türkei stützen müssen, solange eine Möglichkeit dazu besteht, kann nicht zugegeben werden, daß Armenien in die Hand Rußlands fällt.“ (Hervorh. TA) 52

Am 2. August 1914 wurde in Istanbul ein geheimer „deutsch-türkischer Bündnisvertrag“ unterzeichnet. Darin heißt es u.a.: „3. Im Kriegsfalle wird Deutschland seine Militärmission zur Verfügung der Türkei lassen. Die Türkei ihrerseits sichert der genannten Militärmission, entsprechend den zwischen Sr. Exz. dem Kriegsminister und Sr. Exz. dem Chef der Militärmission unmittelbar getroffenen Vereinbarungen, einen wirksamen Einfluß auf die allgemeine Armeeführung zu. 4. Deutschland verpflichtet sich, das Gebiet des Ottomanischen Reiches im Falle der Bedrohung nötigenfalls mit den Waffen zu verteidigen.“53

Die deutsche Militärmission und von Sanders werden direkt an der Armeeführung im Generalstab der türkischen Armee mitwirken und gleichberechtigt Entscheidungsträger sowie Befehlsgeber sein. Deutschland wird als Bündnispartner im Osmanischen Reich Krieg führen.

Am 2. November 1914 trat die Türkei offiziell in den imperialistischen Krieg ein. (Hervorh. TA)

Deutsche Mittäterschaft am Völkermord

Die Interessen des Finanzkapitals und des deutschen Reiches waren ausschlaggebend für die imperialistische Politik in der Türkei und auch für ihre Haltung gegenüber dem Völkermord an den ArmenierInnen.

Der deutsche Reichskanzler Bethmann Hollweg spricht ganz offen die brutale, machstrategische Position aus: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht. Bei länger andauerndem Kriege werden wir die Türken noch sehr brauchen.“ (Hervorh. TA) 54

Diese Interessen bestimmten bis zum Ende des Krieges und des Völkermordes alle politischen und militärischen Entscheidungen der deutschen Regierung und machten sie zu Mitorganisatoren des Völkermordes. Es mag sein, dass der eine oder andere deutsche Diplomat, Militärangehöriger oder Missionar aus Motiven wie zum Beispiel der christlichen Religionszugehörigkeit der Armenier, sich gegen den Völkermord geäußert hat oder sich für armenische Menschen einsetzte. Aber das relativiert in keiner Weise die umfassende politische und militärische Mitverantwortung des Deutschen Reiches am Völkermord.

Deutsch-Türkische Waffenbrüderschaft

Die deutsche Präsenz im Osmanischen Reich während des ersten Weltkrieges war umfassend: „Wie ich schon in einem früheren Kapitel angedeutet habe, bestand die im Dezember 1913 in Konstantinopel eingetroffene deutsche Militärmission des Generals (kurz danach Marschalls) Liman von Sanders ursprünglich aus ca. 40 Offizieren. Schon in den ersten Monaten 1914 wurde jedoch diese Zahl erhöht und mit Beginn des Krieges setzte eine wahre Überflutung der Türkei durch Deutsche ein.

Da die Türken über das für ihre Armee unbedingt notwendige technisch gebildete Personal nicht verfügten, mussten sie notgedrungen alle wichtigeren Funktionen im Generalstab, in der Artillerie, den technischen Truppen, der Kriegsindustrie und der Marine Deutschen übertragen und nicht allein Instruktoren, Fachleute und überhaupt Organe zur Leitung der verschiedenen Diensteszweige, sondern auch das niedere Personal (Unteroffiziere, Meister, Aufseher usw.) und für die Fabriken sogar einen großen Teil der Arbeiter aus Deutschland heranziehen. Die ganze Verteidigungsinstandsetzung der Dardanellen und des Bosporus, die Bedienung der schweren Artillerie, Verstärkung der Fortifikationen, das Verbindungswesen, Legen der Seeminen, Verteidigung gegen Unterseeboote, das ganze Luftschiffahrtswesen, alle Waffen-, Munitions- und Sprengstoff-Fabriken, das Marinearsenal, die Docks usw. usw. alles übernahmen die Deutschen und besetzten es mit ihrem Personale.“22

Die Gesamtanzahl von deutschen Militärs, zivilem und politischem Personal in der Türkei während des Krieges ist bis heute der Öffentlichkeit nicht bekannt, sondern ruht in den Geheimakten. Nach Schätzungen waren ca. 800 hochrangiger Offiziere vor Ort. Sie spielten eine Schlüsselrolle in der türkischen Armee und waren in fast allen Truppenteilen sowie an allen Fronten der osmanischen Armee eingesetzt. Zum Beispiel: Friedrich Bronsart von Schellendorf, Chef des Generalstabs; Otto von Feldmann, Chef der Operationsabteilung in der türkischen Obersten Heeresleitung; Sylvester Boettrich, Bataillonskommandeur; Otto von Lossow, im türkischen Generalstab tätig und Militärattache; Felix Guse, Chef des Generalstabs der III. Armee. Insgesamt waren 18 000 bis 25 000 deutsche Soldaten in der Türkei stationiert. In Kriegszeiten waren auch die Diplomaten Teil des Krieges. Kein anderes Land hatte so viele Diplomaten und Fachpersonal entsandt wie Deutschland. Ohne deutsche Offiziere und Soldaten konnte die Türkei keinen Krieg führen und auch nicht den Völkermord begehen. 55

Deutsche Planung, Ausführung und Beteiligung am Völkermord

Es existieren durchaus glaubwürdige Behauptungen, dass die Deportationen vom deutschen Botschafter bzw. von deutschen Offizieren vorgeschlagen wurden. Der Österreich-Ungarische Generalkonsul in Tapezunt (Trabzon), von Kwiatkowski, telegraphierte am 22. Oktober 1915 an seinen Außenminister:

„‚daß die erste Anregung zur Unschädlichmachung der Armenier – allerdings nicht in der tatsächlich durchgeführten Weise – von deutscher Seite erfolgt sei.’ Und der franziskanischer Priester P. Liebl aus Wien sagte dem deutschen Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, Deutschlands Botschafter von Wangenheim habe die Deportationen ‚angeregt’.“56 (Hervorh. TA)

Darüber hinaus wurde der von dem jungtürkischen Triumvirat ausgearbeitete Deportationsplan deutschen Militärs vorgelegt und auch genehmigt. Denn deutsche Generäle und Offiziere saßen an den Schalthebeln der türkischen Armee. Über diese Billigung hat die „Deutsch-Armenische Korrespondenz“ schon im November 1918 berichtet: „Die Deportation ist in erster Linie eine militärische Maßregel gewesen und konnte deshalb den deutschen Heerführern in der Türkei nicht wohl verheimlicht werden. Tatsächlich ist der Plan auch dem Feldmarschall v. d. Goltz vorgelegt und von ihm genehmigt worden. In seiner offiziellen Fassung sah er aber auch harmlos genug aus.”57 (Hervorh. TA)

„Harmlosigkeit der offiziellen Fassung“ ist Mythenbildung und Geschichtsfälschung. Goltz selbst plädierte im Generalstab der osmanischen Armee für die „militärische Lösung.“ Otto von Feldmann gab nach dem Kriegsende zu: „… dass auch deutsche Offiziere – und ich selbst gehöre zu diesen – gezwungen waren, ihren Rat dahin zu geben, zu bestimmten Zeiten gewisse Gebiete im Rücken der Armee von Armeniern freizumachen.”58

Die deutsche Mitwirkung beschränkte sich also ausdrücklich nicht nur auf die Genehmigung der Deportationen. Sie wurden mitgeplant und durchgeführt. Der Völkermord wurde unter deutscher Beteiligung und Leitung ausgeführt.

Als Chef der türkischen Feldeisenbahn unterzeichnete Sylvester Boettrich am 16. Oktober 1915 Deportationsbefehle von Tausenden Armeniern, die beim Bau der Bagdadbahn arbeiteten. Der Kommentar von Berlin lautete: “Unsere Gegner werden einmal viel Geld bezahlen, um dieses Schriftstück zu besitzen, denn mit der Unterschrift eines Mitglieds der Militärmission werden sie beweisen, daß die Deutschen nicht allein nichts getan haben, um die Armenierverfolgung zu verhüten, sondern daß gewisse Befehle zu diesem Ziel sogar von ihnen ausgegangen, d. h. unterschrieben worden sind.”59

Alle schriftlichen und mündlichen Äußerungen waren immer von dem Bemühen geprägt, nicht etwa sich gegen die Deportationen zu stellen, sondern die deutsche Beteiligung geheim zu halten und zu vertuschen. Daher wurde peinlichst darauf geachtet, dass die Befehle mindestens auch von einem türkischen Befehlshaber unterzeichnet wurden.

Es waren nicht nur, wie auch heutige deutsche Geschichtsschreibung suggerieren will, einzelne Militärs, die wie Boettrich Deportationsbefehl unterzeichnet haben. Verstreut in den bisher zugänglichen Akten (und es existieren auch in deutschen Archiven mit Sicherheit Akten, die bis heute nicht öffentlich zugänglich sind), sind unzählige Schriftstücke, Briefe, Depeschen, amtliche wie private zu finden, dass allein diese die Systematik und die Mittäterschaft eindeutig beweisen. Wir führen nur einige ausgewählte an: „von Schellendorf kümmerte sich selbst um Details, um sicherzustellen, daß die Deportationen der Armenier auch zu dem erklärten Ziel führten: ihrer Vernichtung. So beklagte er in einer handschriftlichen Notiz, daß der deutsche Vizekonsul (und Offizierskollege) Scheubner-Richter in Erzurum Brot an die hungernden Frauen und Kinder der Deportiertenzüge verteilt hatte. Daraufhin forderte Botschafter Wangenheim die deutschen Konsuln auf, künftig dergleichen Hilfsakte zu unterlassen.“60 (Hervorh. TA)

Es ist auch Fakt, dass deutsche Offiziere Militäraktionen während des Völkermordes angeordnet und Schießbefehle gegen ArmenierInnen erteilt haben: Zum Beispiel Graf Wolffskeel hat in Urfa, Zeitun und Musa Dagh den Artillerieeinsatz angeordnet. Das Armenierviertel in Urfa und das Kloster in Zeitun wurden zerstört. Wie viele Armenier dabei ermordet wurden, ist nicht bekannt. Graf Wolffskeel schrieb am 16. Oktober 1915 an seine Frau: „Der Kampf ist beendet. Urfa ist genommen. Es ging schließlich viel rascher, als ich erwartet hatte. (…) Soweit war die Sache ja ganz interessant und hübsch. Jetzt beginnt jedenfalls wieder der unerfreuliche Teil. Der Abtransport der Bevölkerung und die Kriegsgerichte. Mit beidem brauch’ ich mich ja Gott sei Dank nicht zu befassen, das sind innertürkische Angelegenheiten, die mich nichts angehen, aber man kann schliesslich nicht vermeiden, es zu sehen, und das ist schon nicht angenehm.“61

Als die Kriegsgegner England, Frankreich und Russland sich kritisch über deutsche Offiziere äußerten, die „die türkische Bewegung gegen die Armenier geleitet und ermutigt“ haben, beschwerte sich der deutsche Konsul in Aleppo, Rößler bei Botschafter Wangenheim. Er schildert seine Vermutung, woher diese Verdächtigungen rührten und empfahl sich taktisch geschickter zu verhalten:

Auch die Tatsache daß Graf Wolffskeel den General Fakhri Pascha begleitete, wird die Vermutung genährt haben, dass die Türkei unter deutschem Rat und Einfluss handelte. Ich darf hinzufügen, daß Graf Wolffskeel auch bei den militärischen Maßnahmen gegen die Aufständischen bei Suediye Ende September Fakhri Pascha begleitet hat. Euer Exzellenz hoher Erwägung stelle ich daher gehorsamst anheim, ob es zweckmässig ist, daß ein deutscher Offiziere an einer Expedition gegen einen inneren türkischen Feind teilnimmt.”62

Gleichzeitig liefert er eine direkte und offene Bestätigung der aktiven Teilnahme deutscher Militärs an Massakern gegen die armenische Bevölkerung.

Als im Deutschen Reichstag am 09. Mai 1917 von dem sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Georg Ledebour die „Armenierfrage aufgeworfen“ wurde, äußerte sich der Staatssekretär des Auswärtigen Amts Zimmermann.

Er stellte fest, „ich habe in einer Kommissionssitzung Ende September v. J. (1916) erschöpfende Aufklärungen gegeben, auf die ich mich beziehen darf: Zur Kündigung des Bündnisverhältnisses wegen der armenischen Frage hielt und hält sich die Kaiserliche Regierung nicht für berechtigt. Denn so bedauerlich es vom christlichen und allgemein menschlichen Standpunkt ist, daß unter dem türkischen Vorgehen mit den Schuldigen auch hunderttausende Unschuldiger zu Grunde gehen, näher als die Armenier stehen der deutschen Regierung die Söhne Deutschlands, deren opferreicher blutiger Kampf im Westen, Osten und Süden durch die Waffenhilfe des türkischen Bundesgenossen wesentlich erleichtert wird. Die Verantwortung dafür, durch den Bruch mit der Türkei über der Armenierfrage die Südostflanke unsere Weltkampfstellung zu entblößen, könnte keine deutsche Regierung tragen und zwar umso weniger, als die Armenier selbst durch einen solchen Schritt nicht etwa vor weiteren Verfolgungen bewahrt, sondern erst recht der türkischen Rache ausgeliefert worden wären.‘63 (Hervorh. TA)

Auch das ein weiteres Eingeständnis der Regierung, worum es in Wirklichkeit ging und von welchen Interessen sie geleitet wurde: Von deutschen Interessen! Natürlich standen die „Söhne Deutschlands“ ihr „näher“ als die „hunderttausenden unschuldigen Ar­menierInnen, die zu Grunde gingen.“

Aber am nächsten stand ihr die „Weltkampfstellung“ des deutschen Imperialismus. Die lässt sie sich doch nicht von einigen Hunderttausenden ArmenierInnen gefährden!

Um die deutschen Interessen zu verschleiern und das Bündnis mit der Türkei „bis zum Ende des Krieges“ aufrecht zu erhalten, haben die deutschen Herrschenden, natürlich auch die offizielle Version der türkischen Regierung gegenüber den ArmenierInnen mitgetragen und übernommen. Sie beschuldigten die ArmenierInnen des „Verrats an der Türkei“ und erklärten das Vorgehen, d.h. die Massendeportationen und Massaker zu „verständlichen Maßnahmen“. So zum Beispiel Staatssekretär Zimmermann: „Die harte, aber militärisch verständliche Maßregel der Aussiedlung der armenischen Bevölkerung aus den als Operations- oder Etappengebiet vom Krieg berührten Gegenden wurde beschlossen. (…) Es wäre nicht dazu gekommen, wenn nicht die Armenier selbst dazu eine Handhabe gegeben hätten. Die moralische Schuld an den Vorkommnissen trifft neben Armeniern selbst deren Anstifter in London, Petersburg und Paris.“ 64

Der deutsche Kriegsberichterstatter German formulierte diese von Deutschland mitgetragene, offizielle türkische Version noch deutlicher: „Dabei möchte ich nicht vergessen zu erwähnen, daß sich die armenische Bevölkerung in diesem Feldzuge fast durchweg – es gab auch Ausnahmen – in der widerlichsten und verräterischsten Weise benahm, daß sie sich mit den Russen verbrüderte, ihnen Weg und Steg zeigte. Als jüngst die türkische Regierung, nachdem die Russen längst aus dem Lande gejagt worden waren, gegen diese Verräter energisch vorging, haben die armenischen Komitees im Auslande darob ein Jammergeschrei erhoben und den Gerechtigkeitssinn der Welt für ihre armen, ‚unschuldigen’ Brüder angerufen. In Wirklichkeit aber sind selbst die schärfsten Maßregeln dem gegenüber, was diese Bevölkerung sich geleistet hat, noch viel zu milde.“ (Hervorh. TA) 65

Militärzensur in Deutschland

Die Interessen des deutschen Imperialismus bestimmten auch die Haltung der Reichsregierung gegenüber der deutschen Öffentlichkeit. Das Auswärtige Amt in Berlin bis hin zum Reichskanzler unternahmen alles in ihrer Macht stehende, die Fakten über die deutsche Beteiligung im Völkermord zu unterdrücken. Also wurde vertuscht und verschleiert. Dafür war von Anfang an jedes Mittel recht. Das Motto war Militärzensur in Deutschland und Schweigen über den Völkermord. Auf einer Pressekonferenz verlautbart die Regierung in Berlin am 7. Oktober 1915:

Über die Armeniergreuel ist folgendes zu sagen: Unsere freundschaftlichen Beziehungen zur Türkei dürfen durch diese innertürkische Verwaltungsangelegenheit nicht nur nicht gefährdet, sondern im gegenwärtigen, schwierigen Augenblick nicht einmal geprüft werden. Deshalb ist es einstweilen Pflicht zu schweigen. Später, wenn direkte Angriffe des Auslandes wegen deutscher Mitschuld erfolgen sollten, muß man die Sache mit größter Vorsicht und Zurück­haltung behandeln und später vorgeben, dass die Türken schwer von den Armeniern gereizt wurden.“66 (Hervorh. TA)

Diesem Ausschluss der Öffentlichkeit und dieser Zensur stellten sich nur ganz wenige aufrechte Demokraten und KommunistInnen entgegen. Allen voran der Kommunist Karl Liebknecht, der am 11. Januar 1916 im Parlament eine Kleine Anfrage stellte, „ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, dass während des jetzigen Krieges im verbündeten türkischen Reiche die armenische Bevölkerung zu Hunderttausenden aus ihren Wohnsitzen vertrieben und niedergemacht worden ist?“ (Hervorh. TA)

Die Antwort der Regierung war, dass nähere Einzelheiten zu dieser Frage nicht mitgeteilt werden könnten. Weitere Fragen waren im Parlament nicht erlaubt. Die Spartakusgruppe prangert die Haltung der Regierung, die Verantwortung für den Völkermord und Zensur: „Ähnlich die Anfragen vom 14. Januar: Die türkische Regierung hat ein furchtbares Gemetzel unter den Armen­iern angerichtet; alle Welt weiß davon und – in aller Welt macht man Deutschland dafür verantwortlich, weil in Konstantinopel die deutschen Offiziere die Regierung kommandie­ren. Nur in Deutschland weiß man nichts, weil die Presse geknebelt ist. Auf diese Schandtaten hinzuweisen war ein Verdienst.“67

Auch ein Jahr später stellte Staatssekretär Zimmermann im Reichstag auf die Nachfragen von Lebedour fest: „Was die Ursachen und den Verlauf der auch von uns tief beklagten Vorgänge betrifft, so muß ich es mir versagen, an dieser Stelle näher darauf einzugehen.“68 Für die Abgeordneten die Näheres erfahren wollten, schlug Zimmermann einen „vertraulichem Kreis“ vor, wo gewünschte Information mitgeteilt würden. Er fügte aber gleichzeitig das alte Rechtfertigungsschema hinzu: „Nur einen Punkt möchte ich aus meinen damaligen (gemeint ist die am 6. September 1916 angefertigte Aufzeichnung, die in der Sitzung des Reichshaushaltausschusses am 29. September 1916 vorgestellt wurde, TA) Ausführungen herausgreifen: an dem Unglück des armenischen Volkes sind in erster Linie unsere Feinde selbst schuld, die schon lange vor Ausbruch des Krieges in gewissenloser Wühlarbeit die Armen­ier gegen die türkische Regierung aufgehetzt und als Werkzeuge ihrer eigennützigen politischen Pläne missbraucht haben.“ Die Entente-Mächte waren die Feinde, die für die „harte Reaktion“ des osmanischen Staates verantwortlich waren, weil sie die Armenier­Innen aufhetzten. Damit wurde die Verantwortung der Türkei und die deutsche Mittäterschaft wie immer vertuscht.

1916 wurde von Dr. Johannes Lepsius, Missionar und „Diener“ des deutschen Kaiserreichs der „Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei“ herausgegeben. Darin schilderte er eindrücklich und dokumentarisch die Völkermordpolitik der Jungtürken gegen das armenische Volk. Doch die deutsche Zensur verbot dieses Werk und beschlagnahmte den Teil der Auflage, der sie habhaft werden konnte.

Hoffmann, deutscher Konsul in Alexandrette stellte fest: „Dagegen weisen bekanntlich feindliche und neu­trale Auslandsstimmen in Parlament und Presse Deutschland eine besondere Rolle als Mitschuldiger, wenn nicht gar als Anstifter, zu. Es wird nicht leicht zu sagen sein, welche Schädigungen deutscher Interessen sich daraus ergeben.“69

Die deutsche Regierung versuchte mit allen Mitteln jegliche Berichterstattung zu unterdrücken. Tatsachen wurden durch die entsprechende Propaganda zu „üblen Gerüchten“ erklärt, die niemand verbreiten durfte. Die Ruhe an der deutschen Heimatfront sollte nicht durch die Beteiligung deutschen Militärs an Massakern gegen Christen gestört werden.

Wie der Bericht des Herrn von Scheubner von neuem bestätigt, ist sogar in weiten Kreisen der türkischen Bevölkerung die Vorstellung verbreitet, daß Deutschland die Türkei zu den Armenierverfolgungen angestiftet habe. Wir glauben von der Loyalität der Pforte gegen ihren deutschen Bundesgenossen erwarten zu dürfen, daß sie derartigen Gerüchten mit Nachdruck entgegentritt.“70 (Hervorh. TA)

Die deutsche Regierung zog sich auf ihren Status als „Nur-Verbündete“ zurück. So forderte auch der deutsche Botschafter Metternich, dass die türkische Regierung endlich Stellung nehmen und den „Gerüchten“ entgegenwirken solle. „Ich habe ihm schließlich von dem Missbrauch gesprochen, den türkische niedere Beamte sich zuschulden kommen ließen durch die falsche Behauptung, daß die Deutschen die Armenierverfolgungen begünstigten. Diese Verleumdung sei in Anatolien, wie ich von Reisenden und aus anderen Quellen unumstößlich wisse, weit verbreitet. Wir seien durchaus nicht gesonnen, die Verantwortung für die Armenierpolitik mit der türkischen Regierung zu teilen, und ich bäte ihn, diesen Gerüchten mit Nachdruck entgegenzutreten. Dem Großwesir war über derartige Gerüchte nichts bekannt. Er versprach aber ausdrücklich, sie dementieren zu lassen. Im übrigen führte er aus, daß die Armenier ein Opfer fremder, insbesondere russischer Anstiftung geworden seien.“71

Nach mehrmaliger Aufforderung erfolgte schließlich die erwünschte Stellungnahme. Mit der Antwort der vom imperialistischen Deutschland abhängigen türkischen Regierung wollte diese den Bundesgenossen „reinwaschen“ und sich gleichzeitig als unabhängige Macht darstellen: „Die Behauptungen, wonach diese Maßnahmen der Hohen Pforte (s.o.) durch gewisse fremde Mächte suggeriert seien, sind von Grund aus haltlos. Die Kaiserliche Regierung, fest entschlossen, ihre absolute Unabhängigkeit aufrecht zu erhalten, würde selbstverständlich keinerlei Einmischung, unter welcher Form auch immer, in ihre inneren Angelegenheiten dulden, und wäre es selbst von Seiten ihrer Freunde und Bundesgenossen.“72

Manipulation von Berichten und Dokumenten

Wir haben in der armenischen Frage von Anfang an energische Vorstellungen bei der Pforte (s.o.) erhoben. Wir werden vielleicht später einmal nach dem Kriege, wenn unsere Position nicht mehr so delikat ist wie heute, unsere ganzen Verhandlungen in einem Weißbuche niederlegen.“73

Wie so viele angeführte Dokumente belegen, war Deutschland von Anfang an mit dabei und hat nicht das Geringste gegen den Völkermord unternommen, sondern ihn aktiv mitorganisiert. Also ist die Aussage des Staatssekretärs Zimmermann eine glatte Lüge. Gleichzeitig gibt er die Absicht der deutschen Regierung bekannt, eine historische Dokumentation der Rolle des deutschen Kaiserreichs zu veröffentlichen. Was kann das aber für eine Dokumentation sein, wenn sie unter der Überschrift einer Lüge herausgegeben wird? Für das sogenannte Weißbuch wurden Lepsius sämtliche diplomatische Akten von Seiten der deutschen Regierung zur Verfügung gestellt, um sie zu bearbeiten und herauszugeben.

Diese Akten waren aber bewusst unvollständig und an entscheidenden Stellen zu Gunsten der deutschen Regierung manipuliert und verändert. Lepsius stand im Dienste dieses Staates und seiner Regierung und hatte selbst auch das klare politische Ziel sie von allen Vorwürfen der Beihilfe zum Völkermord reinzuwaschen. So bewertete er selbst sein Werk „Deutschland und Armenien 1914-1918 Sammlung diplomatischer Aktenstücke“ als eine „gut abschneidende Ehrenrettung Deutschlands.“ Mittlerweile ist durch die Vergleiche der Originaldokumente des Auswärtigen Amtes mit den Abschriften, die Lepsius zur Verfügung gestellt wurden, klar: Vor allem seine Auftraggeber hatten so gut wie alle Stellen in den Dokumenten gestrichen, die über die wirkliche Rolle des Deutschen Reiches Auskunft gaben. (Unter www.armenocide.de sind alle, auch die manipulierten Lepsius-Dokumente einzusehen.) Systematisch waren alle wichtigen Hinweise auf die Politik Deutschlands in Sachen Völkermord, eine Mitverantwortung sowie eine Beteiligung beispielsweise deutscher Offiziere an Repressionen gegen ArmenierInnen entfernt worden. So funktioniert Geschichtsschreibung der Herrschenden: Als Wahrheit wird festgelegt, was den Interessen der Herrschenden nützlich ist!

Armenien Konzert

Fazit: Das deutsche Werk

Der deutsche Botschafter in Konstantinopel Graf Wolff-Metternich, bezog seinen Posten im November 1915. Er legte sich mit der jungtürkischen Führung an und war ihr und auch den deutschen Vertretern vor Ort ein Dorn im Auge. Deswegen musste Wolff-Metternich im Oktober 1916 Konstantinopel verlassen. Bei seiner Rückkehr ins Reich forderte er vom deutschen Kaiser und der Regierung eine härtere Gangart gegenüber der türkischen Regierung. Er war genau über das Vorgehen der Jungtürken informiert und wusste, dass die Umsetzung des Völkermordes, der Deportationen nur mit Unterstützung und Hilfe durch das deutsche Militär möglich war. Er schrieb am 7. Dezember 1915 an Reichskanzler Hollweg unter anderem folgendes:

Auch soll man in unserer Presse den Unmut über die Armenier-Verfolgung zum Ausdruck kommen lassen und mit Lobhudeleien der Türken aufhören. Was sie leisten, ist unser Werk, sind unsere Offiziere, unsere Geschütze, unser Geld. Ohne unsere Hülfe fällt der geblähte Frosch in sich selbst zusammen. Wir brauchen gar nicht so ängstlich mit den Türken umzugehen. Leicht können sie nicht auf die andere Seite schwenken und Frieden machen.“74 (Hervorh. TA)

Metternich stellte die tatsächliche Situation dar. Es war auch ein deutsches Werk, das die türkischen Herrscher umsetzten. Das Osmanische Reich hätte ohne Deutschland keinen Krieg führen können. Nicht nur die große Anzahl deutscher Militärs, Offiziere, Soldaten, sowie Diplomaten, Fachpersonal etc. sondern auch die Finanzierung der jungtürkischen Kriegsmaschinerie war deutsches Werk: „Deutschland übernahm obendrein die Finanzierung des türkischen Kriegsapparates. 10 900 Millionen Goldmark, davon 3 900 Millionen in barem Golde, wanderten nach Konstantinopel und Sofia.“75

Der Zeitungskorrespondent v.Tyszka stellte mit deutsch-chauvinistischem, rassistischem Unterton die besondere Bedeutung der deutschen Kriegsführung in der Türkei fest: „Die Türken sind keine Systematiker. Die meisten Generale verstehen nicht zu befehlen, sie können den Unterführern nicht in die Hand arbeiten. Sie bedürfen des Lehrers, der ihnen zeigt, wie der einzelne nur im Rahmen des Ganzen mit Erfolg tätig sein kann und ihnen daher den Blick für eine Offensive eröffnet, die ihnen noch fremd ist. Deutsche Arbeit kann hierbei Großes schaffen. Ihr unvergeßlicher alter Lehrmeister v. d. Goltz Pascha müsste noch einmal die Zügel in seine feste Hand nehmen und Einheitlichkeit in das ganze Getriebe bringen. (…) Ohne die Deutschen wäre es aber nicht so gegangen, wie es gegangen ist.“ (30.09.1915) 76

Aber natürlich versuchte Deutschland auch, sich – wenn nötig – als „Freund“ der Armenier zu verkaufen um damit die Armenier loyal auf der Seite der türkischen Regierung und auch auf Deutschlands Seite im Krieg an der Kaukasischen Front gegen Russland zu halten.

Im Einverständnis mit dem Auswärtigen Amt entsandte zur gleichen Zeit die Deutsch-Armenische Gesellschaft, an deren Spitze Dr. Johannes Lepsius steht, einen armenischen Vertrauensmann nach der Türkei mit dem Auftrage, bei dem armenischen Patriarchat und den politischen Führern der Armenier in Konstantinopel darauf hin zu wirken, daß das armenische Volk im engen Anschluß an die Türkei seine nationale Kraft für den Sieg der ottomanischen Waffen einsetze und in weiser Erkenntnis seiner eigenen Interessen die türkische Regierung in der Durchführung aller maßregeln und kriegerischen Operationen in den von Armeniern bewohnten Provinzen nach Kräften unterstütze. Bei der Ausführung dieses Auftrages wurde der Vertrauensmann vom Auswärtigen Amt und den kaiserlichen Vertretung in der Türkei in jeder Weise unterstützt.“77

Deutsche Regierungsvertreter beschuldigten ihre „Feinde“, die Entente-Mächte und auch die ArmenierInnen wiederholt, dass sie Deutschlands „wohlgemeinten Rat in den Wind schlugen und selbst das Unwetter entfesselten, unter dem ihr Volk so entsetzlich leiden sollte.“ (ebenda)

Das armenische Volk musste den Tatsachen ins Auge sehen, als es schon längst zu spät war. Das christliche Deutsche Reich war keine Schutzmacht, auch wenn es sich oft als solche andiente. Der deutsche Imperialismus machte gemeinsame Sache mit den jungtürkischen Schlächtern, weil es um seine eigenen Interessen ging. Diese bittere Erkenntnis haben armenische Geistliche während des Völkermordes erfahren. Der deutsche Konsul Hoffmann in Alexandrette berichtet: „Die Armenier selbst endlich sind natürlich allgemein von unsrer Mitschuld, wenn gar von unsrer Anstiftung überzeugt. (…) So sagte mir ein ruhig denkender armenischer (protestantischer) Geistlicher: ‚Wir waren willens, loyal zu bleiben. Bis dann die Verschickung begann. Hätten wir uns damals allgemein der beginnenden Ausrottung unseres Volks widersetzt, so wären wir Herren der Lage geworden und wären heut nicht dem Untergange geweiht. Aber alle unsere deutschen Freunde in Marasch, Haruniye, Urfa, Malatia und Ma’muret-ul-Asis haben uns dringend geraten, uns zu unterwerfen; dann werde uns nichts geschehen. Das haben wir geglaubt, und daß wir auf den deutschen Einfluß gebaut haben, ist unser Verhängnis geworden.’“78 (Hervorh. TA)

Ja, die armenische Nation war Opfer der imperialistischen Mächte, und besonders des deutschen Imperialismus. Der deutsche Imperialismus war der Oberherr des Osmanischen Reiches. Deutschland hat seinen Bündnispartner militärisch, finanziell und politisch unterstützt und den Völkermord mit geplant und mit durchgeführt. Es trägt eine große Verantwortung am Völkermord. Die Deutsch-Türkische Waffenbrüderschaft im Ersten Weltkrieg war das Argument der deutschen Regierung um den Mantel des Schweigens, des Vertuschens und des Leugnens über die Mitbeteiligung, sowohl in Planung als auch in Ausführung des Völkermordes zu legen. Auch nach 100 Jahren darf diese Wahrheit nicht verschwiegen werden.

Die Völkermordpolitik Deutschlands in Afrika und in der Türkei mündete im Genozid an den europäischen Juden des Nazireiches. Hitler hat sich auf den „vergessenen” Völkermord berufen, als das Nazi-Reich den Völkermord an den europäischen Juden vorbereitet und den Vernichtungsfeldzug gegen die osteuropäischen Völker plante und umsetzte: „Nur so gewinnen wir den Lebensraum den wir brauchen. Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“

Eindringlich müssen RevolutionärInnen, Demokraten und KommunistInnen diese Schuld und Verantwortung des deutschen Imperialismus anprangern. Hätte Deutschland seine Unterstützung, Zusammenarbeit und „unverbrüchliche Waffenbrüderschaft“ aufgekündigt, hätte das Osmanische Reich den Genozid nicht durchführen können. Das ist keine Relativierung der türkischen Hauptverantwortung, aber für uns als KommunistInnen in Deutschland Hauptangriffspunkt gegen ‚unseren‘ Imperialismus. Wir treten damit den auch heute anhaltenden Verfälschungen und der bewussten Herabminderung der deutschen Rolle im Völkermord entgegen.

Seit nun hundert Jahren zieht sich diese Leugnung wie ein schwarzes Band durch die deutsche Geschichte. In den 1950er Jahren wurde die Vertuschungspolitik begründet mit einer angeblich notwendigen „protürkischen Politik“ gegenüber dem NATO-Partner Türkei. 1955 rechtfertigte der deutsche Botschafter in Ankara „‚die Ausrottung der Armenier‘ mit dem Hinweis auf die ‚Tragik des Vernichtungskampfes‘ als ein geschichtlich unvermeidliches Geschehen“, 79 Völkermordpolitik wird zum tragischen und unvermeidlichen historischen Ereignis während des Ersten Weltkrieges umgedeutet.

Auf die Anfrage der Fraktion die Linke im Januar 2015: „Inwieweit würden sich nach Einschätzung der Bundesregierung aus einer politischen Anerkennung des Genozids durch die BRD mögliche Entschädigungsansprüche von Nachfahren der Opfer an die BRD oder deutsche Wirtschaftsunternehmen, die damals im Osmanischen Reich aktiv waren, ergeben?“ lautet die zynische Antwort an die Nachkommen der ermordeten Armenier-Innen „Die Bundesregierung nimmt zu hypothetischen Fragen keine Stellung“.

Wir fordern die Bundesregierung auf, Entschädigungen im Rahmen ihrer Mittäterschaft am Völkermord an die Nachkommen der Überlebenden in Nordkurdistan/Türkei, in der Republik Armenien und der armeni­schen Diaspora zu leisten.

Wie die Werktätigen in der Türkei, so haben sich auch die deutschen Werktätigen und die Arbeiterbewegung historisch mitschuldig gemacht, an den Verbrechen ihrer Imperialisten. Der Kommunist Karl Liebknecht hat sich zwar mutig gegen den Völkermord gestellt, aber es wurde keine breite Massenbewegung entfacht um das armenische Volk zu retten und den eigenen Imperialismus anzuprangern.

2015 hat der deutsche Staat den Völkermord an den Armeniern immer noch nicht anerkannt.

Wir fordern von deutschen Staat: Völkermord an den Armeniern anerkennen! Mitverantwortung Deutschlands für den Völkermord mit allen Konsequenzen, wie Entschädigungen, übernehmen!

Im Kampf für die proletarische Revolution in Deutschland prangern wir die Völkermordverbrechen der deutschen Imperialisten an unterdrückten Völkern, wie den Armeniern im Osmanischen Reich an! Es ist die gleiche Politik die heute Kriege im Mittleren Osten oder in Afrika, ja überall auf der Welt um Einflussspähren und Machtpositionen führt. Für diese Interessen werden Völkermorde begangen, Kontinente verwüstet und die Lebensgrundlagen der Menschheit vernichtet. Es ist eine Frage des Systems!

Für den Sozialismus!

März 2015

Armenien 2015

Kleine Anfragen im Deutschen Reichstag, 11.Januar 1916

Liebknecht: Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, daß während des jetzigen Krieges im verbündeten türkischen Reiche die armenische Bevölkerung zu Hunderttausenden aus ihren Wohnsitzen vertrieben und niedergemacht worden ist?

Welche Schritte hat der Herr Reichskanzler bei der verbündeten türkischen Regierung unternommen, um die gebotene Sühne herbeizuführen, die Lage des Restes der armenischen Bevölkerung in der Türkei menschenwürdig zu gestalten und die Wiederholung ähnlicher Greuel zu verhindern?“

Präsident: „Zur Beantwortung der Anfrage hat das Wort der Dirigent der politischen Abteilung im Auswärtigen Amte, Kaiserliche Gesandte Herr Dr. von Stumm.“

Von Stumm: „Dem Herrn Reichs­kanzler ist bekannt, daß die Pforte vor einiger Zeit, durch aufrührerische Umtriebe unserer Gegner veranlaßt, die armenische Bevölkerung bestimmter Gebietsteile des türkischen Reiches ausgesiedelt und ihr neue Wohnstätten angewiesen hat. Wegen gewisser Rückwirkungen dieser Maßnahme findet zwischen der deutschen und der türkischen Regierung ein Gedankenaustausch statt. Nähere Einzelheiten können nicht mitgeteilt werden.“

Liebknecht: „Ich bitte ums Wort zur Ergänzung der Anfrage!“

Präsident:Zur Ergänzung der Anfrage hat das Wort der Herr Abgeordnete Dr. Liebknecht.“

Liebknecht: „Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, daß Professor Lepsius geradezu von einer Ausrottung der türkischen Armenier gesprochen –“ (Glocke des Präsidenten. Redner versucht weiterzusprechen. – Rufe: „Ruhe! Ruhe!“)

Präsident: „Herr Abgeordneter, das ist eine neue Anfrage, die ich nicht zulassen kann.“

1 Meds Yeghern – Große Katastrophe, Aghet – Katastrophe: Armenische Begriffe für den Völkermord 1915.

Kafile“, türkisch – Zug, Marsch, Kolonne, Deportationszug. Für ArmenierInnen in der Türkei Synonym für „die Vertreibung ins Nichts“.

2 In dem grausamen Gemetzel von Çanakkale während des 1. Weltkrieges starben über 250 000 Soldaten aller kriegsführenden Seiten. In Wirklichkeit geht es Erdoğan und der AKP um eine widerliche Jubelfeier des Sieges der Osmanischen Truppen in dieser Schlacht. Sie ist ein Mythos im kemalistischen Geschichtsbewusstsein.

3 „Vaterlandspartei“, vormals „Arbeiterpartei“, Dogu Perinçek

4 „Gencatsizlar“ – Jugendliche Anhänger von Atsiz (Nihal Atsiz, Faschist, Ahne der MHP)

5 In bürgerlichen Medien wie auch in wissenschaftlicher Literatur wird häufig der Begriff „armenischer Völkermord“ anstatt „Völkermord an den Armeniern“ verwandt. Das ist missverständlich.

6 Johannes Lepsius, „Armenien und Europa: Eine Anklageschrift wider die Christlichen Großmächte und Ein Aufruf an das Christliche Deutschland“, 1896, S. 74, Nachdruck, Printed in the USA, – Lepsius, „Armenien“

7 ebenda, S. 75

8 ebenda, S. 76

9 Wolfgang Gust, „Der Völkermord an den Armeniern, Die Tragödie des ältesten Christenvolkes der Welt“, 1993, S. 96-97, Carl Hanser Verlag – Gust, „Völkermord“

10 Yves Ternon, „Tabu Armenien, Geschichte eines Völkermords“, 1981, S. 58, Ullstein Verlag – Ternon, „Tabu“

11 Hans-Lukas Kieser, „Deutschland und der Völkermord an den Armeniern“, Armenisch-Deutsche-Korrespondenz 155, Jg. 2012/Heft 1, S. 15 – Kieser, „Deutschland“

12 Gust, „Völkermord“, S. 103

13 Gerayer Koutcharian, „Der Völkermord an den Armeniern und seine Auswirkungen“, S. 26, in Pogrom, Themen 1, Menschenrechtsarbeit für die Armenier 1979-1987, Hrg. von Tessa Hofmann und Gerayer Koutcharian

14 Ternon, „Tabu“, S. 103

15 Ternon, „Tabu“, S. 116

16 Gust, „Völkermord“, S. 127

17 Heinrich Vierbücher, „Armenien 1915, Die Abschlachtung eines Kulturvolkes durch die Türken!“, 1930, S. 47, Fackelreiter-Verlag – Vierbücher, „Armenien 1915“

18 „Depesche des Komitees für ‘Einheit und Fortschritt‘“ in Jörg Berlin, Adrian Klenner, „Völkermord oder Umsiedlung?“, 2006, S. 301 PapyRossa – Berlin, „Völkermord“

19 Berlin, „Völkermord“, S. 301

20 Ternon, „Tabu“, S. 149

21 ebenda, S. 150

22 Kieser, „Deutschland“, S. 15

23 Heinrich Vierbücher, „Armenien 1915“, S. 50

24 Berlin, „Völkermord“, S. 156,

25 Wolfgang Gust, Hrg., „Der Völkermord an den Armeniern 1915/16, Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts“, 2005, S. 291, zu Klampen Verlag, 1915-09-04-DE-001, – Gust, „Dokumente“

26 Minister des Innern, Talat, 1. Dezember 1915, Der Prozess Talaat Pascha, Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte m.b.H. in Berlin W8, 1921, Nachdruck, Reihe Pogrom, 1980, S. 134

27 Talat, 15.09.1915, ebenda, S. 133

28 Talat, 17.12.1915, ebenda, S. 135

29 Talat, 29.09.1915, ebenda, S. 134

30 Talat, 05.11.1915, ebenda, S. 134

31 Talat, 11.12.1915, ebenda, S. 135

32 Für interessierte Leserinnen und Leser schlagen wir das Buch: Armin T. Wegner, „Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste“, Wallstein Verlag, 2011, vor.

33 Gust, „Dokumente“, S. 519, 1916-10-04-DE-002

34 Drucksache 15/5689, dipbt.bundestag.de Bundestagantrag SPD, CDU/CSU, Bündnis90/Die Grünen und FDP vom 15.06.2005

35 Drucksache 16/4959,

36 Drucksache 18/3722

37 ebenda

38 „Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871-1914“, Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes, Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte m.b.H. Berlin, 1927, Im Auftrage des Auswärtigen Amtes herausgegeben von Johannes Lepsius, Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Friedrich Thimme; 26.03.1899, AAA, „Große Politik“, 12. Bd., 2. Teil, S. 579-580

39 05.03.1898, AAA, „Große Politik“, 12. Bd., Zweiter Teil, S. 561-562

40 Friedrich Naumann, „Asia“, 7. Auflage 1913, S. 164

41 05.03.1898, AAA, „Große Politik“, 12. Bd., 2. Teil, S. 561

42 AAA „Große Politik“, 38. Bd., S. 194-195

43 Wangenheim an Reichskanzler von Bethmann Hollweg, 26.04.1913, AAA, „Große Politik“, 38. Bd., S. 200

44 Vertrag zwischen türkischen Regierung und Liman von Sanders am 27.11.1913, AAA, „Große Politik“, 38. Bd., Fußnote, S. 221

45 18.11.1913, AAA, „Große Politik“, 38. Bd. S. 214

46 Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, on Marschall an Botschafter in Rom von Bülow, 19.12.1894, AAA, „Große Politik“, 9. Bd., S. 215-216

47 Stellvertr. Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, von Rotenhan an Botschafter in London Graf von Hatzfeld, 13.07.1895, AAA, „Große Politik“, 10. Bd., 3. Auflage 1927, S. 41-42

48 Ternon, „Tabu“, S. 73

49 Botschafter in Konstantinopel, Freiherr von Saurma an Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe, 04.10.1895, AAA, „Große Politik“, 10. Bd., S. 67

50 Botschafter von Saurma an Reichskanzler von Hohenlohe, 18.04.1896, AAA, „Große Politik“, 10. Bd. S. 135

51 Staatssektretär des Auswärtigen Amtes von Jagow an Botschafter in London, Fürst von Lichnowsky, 31.05.1913, AAA, „Große Politik“, 38. Bd., S. 55

52 Paul Rohrbach, „Der Krieg und die deutsche Politik“, 1914, S. 57-58, Verlag „Das Größere Deutschland“

53 www.dhm.de/lemo/html/dokumente/buendnis2/index.html

54 armenocide.de, „Diplomatische Aktenstücke, Manipulierte Dokumente“, 1915-12-07-DE-001-V, Metternich, 07.12.1915 – „Aktenstücke“

55 Joseph Pomiankowski, „Der Zusammenbruch des Ottomanischen Reiches“, 1928, S. 53 Amalthea-Verlag

56 Gust, „Völkermord“, 1993, S. 276

57 Gust, „Dokumente“, S. 593-594, 1918-11-25-DE-001,

58 Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 301 vom 30.6.1921, in Gust, „Der Völkermord“, S. 274

59 Gust, „Dokumente“, S. 371, 1915-11-18-DE-001, Anlage 2

60 Gust, „Völkermord“, S. 280

61 de.wikipedia.org/wiki/Eberhard_Graf_Wolffskeel_von_Reichenberg

62 Rößler, an Botschafter in Konstantinopel, Wangenheim, armenocide.de, 1915-10-25-DE-011-V

63 Gust, „Dokumente“, 1917-05-09-DE-001, S. 554-555

64 Gust, „Dokumente“,1917-05-09-DE-001-V, Anlage II, Zimmermann, 29.09.1916

65 Emil German, „Mit den Türken an der Front“, 1916, S. 86, Verlag August Scherl

66 Heinrich Vierbücher, „Armenien 1915“, S. 78

67 Karl Liebknecht, „Politischer Brief der Spartakusgruppe“, 27.01.1916, S.462, Gesam. Reden und Schriften, Bd., 8

68 Gust, „Dokumente“, 1917-05-09-DE-001, S. 551

69 „Aktenstücke“, 1916-01-03-DE-001-V, Anlage 1, Hoffmann, Alexandrette, 08.11.1915

70 von Jagow, Auswärtiges Amt, 29.11.1915, Dok. 205, Lepsius, „Deutschland“, S. 199-200

71 Metternich 09.12.1915, Dok. 210 Lepsius, „Deutschland“, S. 203

72 Erklärung der Regierung (Pforte), Konstantinopel 01.03.1916, Lepsius, „Deutschland“, S. LI 

73 „Aktenstücke“, 1917-05-09-DE-001-V, Anlage I, Zimmermann, Auswärtiges Amt, 29.09.1916

74 Gust, „Dokumente“, 1915-12-07-DE-001, S. 395

75 Vierbücher, „Armenien 1915“, S. 25

76 Lepsius,. „Deutschland“, S. 161

77 Gust, „Dokumente“, 1917-05-09-DE-001, S. 553

78 „Aktenstücke“, 1916-01-03-DE-001-V, Anlage 1, 8. 11. 1915,

79 Kieser, „Deutschland“, S. 18