Tribunal in Chemnitz und Zwickau 1. bis 3. November 2019

Aufruf des Tribunal „NSU-Komplex auflösen“:

Vom 1. bis 3. November 2019 bringen wir das Tribunal »NSU-Komplex auflösen« nach Chemnitz und Zwickau. (…) In Chemnitz und Zwickau lebte das Kerntrio des NSU während seiner Mordserie – eingebunden in ein »Netzwerk von Kameraden«, das bis heute existiert und aktiv ist. In Chemnitz fanden im Oktober 2018 rechte Hetzjagden auf Migrant*innen statt, es gab Brandanschläge auf migrantische und jüdische Restaurants. Von hier ging und geht eine Welle der rassistischen Mobilisierung durch das Land, aus der die alten Netzwerke des NSU gestärkt hervorgehen.

Aber hier ist auch ein Ort von widerständiger Solidarität und neuen Bündnissen gegen den grassierenden Rassismus. An diesem Ort werden wir die Täter*innen und Verantwortlichen der rassistischen Gewalt anklagen und gemeinsam mit den Betroffenen Gerechtigkeit einfordern.

Migration war und ist die Mutter aller Gesellschaften – überall. In Dresden, Chemnitz, Leipzig und vielen anderen Orten prägten Vertragsarbeiter*innen, Studierende und Exilant*innen die Migration in die DDR.

Während die »sozialistische Bruderliebe« das staatliche Selbstbild bestimmte, zielten staatliche Restriktionen, wie gesonderte Wohnunterbringungen und separierte Arbeitsbereiche, darauf ab, diese gesellschaftliche Realität von der Bevölkerung fernzuhalten. Vertrags-arbeiter*innen gelang es dennoch immer wieder, diese Isolierung zu durchbrechen. Sie knüpften Kontakte zu den Menschen der Mehrheitsgesellschaft und tauschten sich mit ihnen aus. (…)

Die DDR, im Selbstbild Klassenbeste unter den realsozialistischen Staaten, profitierte durch die migrantische Realität enorm, auch wenn sie das nie anerkannte. Nach dem Fall der Mauer prägten Migrant*innen und Geflüchtete noch stärker die sächsische Gesellschaft trotz der rassistischen Pogrome von Hoyerswerda (1991), Liebertwolkwitz (1992), Thiendorf (1991), Wurzen (2018). Sie eröffneten Geschäfte, arbeiteten in Fabriken und richteten Dienstleistungen ein. Sie sorgten mit ihren Netzwerken und Existenzgründungen für den Neuaufbau der gesellschaftlichen Strukturen und ihre Kinder wurden zu Ostdeutschen of Color. Auf dem Tribunal in Chemnitz werden diese Generationen der Migrant*innen das Wort ergreifen und das Sachsen der Vielen verteidigen und einklagen! (…)

Migration ist unumkehrbar: Wir sind migrantische Sächs*innen und sächsische Wandernde, Refugees, Leute mit vorder- und hintergründigen Migrationsgeschichten, wir sind nach Sachsen migriert oder von hier geflohen, wir sind kämpferische Gäste und solidarische Bleibende, ehemalige Vertragsarbeiter*­innen und ohne Vertrag Arbeitende, wir zählen unsere Generationen und versammeln unsere Geschichten.

Anliegen des Tribunals ist es, das zu würdigen, zu feiern und zu stärken. …

Wir sind die Zukunft – auch in Sachsen!

United against Racism – Wir klagen an!

Dieser Aufruf wurde auf dem dreitägigen Tribunal mit aller Kraft und Zukunftszugewandtheit in die Tat umgesetzt – mit eindrücklichem Erfolg und Ermutigung für alle AktivistInnen und BesucherInnen.

Nach den Tribunalen in Köln 2017 und 2018 in Mannheim hat das dritte Tribunal in Chemnitz und Zwickau die Vision vom gemeinsamen Kampf gegen Rassismus und Faschismus weiter entwickelt; durchaus auch kontrovers und mit unterschiedlichen Schwerpunkten sowie politischen Einschätzungen.

In Veranstaltungen, Begegnungen mit Betroffenen und Opfern, Initiativen, MigrantInnen, Workshops, Inszenierungen, Kultur und vielem mehr wurden Solidarität, Empörung und Trauer gelebt und antifaschistische, antirassistische Strategien diskutiert.

Der Veranstaltungsort, das Kunst- und Kulturzentrum „Weltecho“ im ehemaligen Haus der „Kammer der Technik“ mitten in Chemnitz, empfing alle BesucherInnen herzlich. Alle OrganisatorInnen gaben einfach ihr Bestes. Eine warmherzige und diskussionsoffene Atmosphäre brachte alle zusammen. Aus der ganzen Republik, zum ersten Mal vor allem aus dem Osten, waren insbesondere junge Menschen angereist.

Über 800 Menschen trafen sich auf dem Tribunal an drei Tagen. Die Internet-Anmeldung musste geschlossen werden, da die Raumkapazitäten völlig ausgeschöpft waren. Die Versorgung im großen Innenhof wurde von Restaurants gespendet, die von Nazis angegriffen worden waren. Das Programm war vorwärtsbringend und eröffnete neue Perspektiven.

Im Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ haben sich in den letzten Jahren immer mehr antirassistische, antifaschistische Strukturen, Netzwerke, Initiativen usw. zusammengefunden. Wir, AktivistInnen von Trotz alledem! haben von Anfang bis Ende am Tribunal teilgenommen, viele neue AktivistInnen kennengelernt und altbekannte freudig wiedergetroffen.

Das Programm war ungemein intensiv und breit gefächert. Wir können in diesem Artikel nur über einen kleinen Ausschnitt berichten. Darum unser Tipp: Im Internet sind auf der Webseite des Tribunals, www.nsu-tribunal.de, wie auch auf Facebook und Twitter das Programmheft, Kommentare, Videos der Veranstaltungen sowie eine Dokumentation der Berichterstattung „Presseclipping_TRBNL-Chemnitz-Zwickau“ zu finden.

Für eine gleichberechtigte Kommunikation auf Augenhöhe sorgte die unglaubliche Leistung der Übersetzungs-FreundInnen und -Kollektive. Simultan wurde in Dari, arabisch, türkisch, vietnamesisch, englisch, spanisch, französisch und deutsch übersetzt.

Diese Möglichkeit, sich in der eigenen Sprache emotional und sicher auszudrücken, war für viele TeilnehmerInnen ein tolles Gefühl.

Vielfältige Perspektiven wurden von unterschiedlichen Akteuren in den Programmpunkten entwickelt. Allein die Themen zeigen schon das ganze Spektrum:

Freitagabend:

Veranstaltung: Von Köln nach Chemnitz. Das Tribunal wird eröffnet. Der Osten bleibt migrantisch!

Samstag:

Workshop: Erweiterte DNA-Analysen in polizeilichen Ermittlungen und Antiziganismus

Workshop:»Es muss auf jeden Fall noch jemanden in Nürnberg geben, der ihnen geholfen hat« – Den NSU-Komplex in Bayern auflösen

Workshop:Sachsen (p)ost-migrantisch – Gesprächskreis Migration in Chemnitz

Stadtrundgang: Critical Walk Kaßberg Stadtspaziergang von und mit NSU-Geschichtswerkstatt Chemnitz

Film und Gespräch: Der zweite Anschlag

Workshop: Betroffenenperspektiven – Erfahrungen rechter Gewalt in Sachsen

Gespräch:Arabischer Verein für Integration und Kultur in Chemnitz

Workshop:Die doppelte Mauer – Rassismus in der DDR bis heute

Workshop: Mit Anwält*innen aus dem NSU-Prozess

Stadtrundgang: Critical Walk Heckert

Veranstaltung:

Klage: Selbstbehauptung gegen Rassismus

Ein bewegender Moment in dieser Klage war die Schweigeminute aller TeilnehmerInnen in Gedenken an Rita Holland, Mutter von Luke Holland. Sie hat den Schmerz um den Verlust ihres Sohnes nicht mehr ertragen und sich am 21. Oktober das Leben genommen. Ihr Sohn wurde 2015 von einem Nazi in Berlin ermordet. Dieser steht auch im Verdacht, in den Mord an Burak Bektaș 2012 involviert zu sein.

Anklage: Wir benennen die Täter*innen

Einklagen: Eure Kinder werden so wie wir!

In einer szenischen Darstellung erzählen die Mitwirkenden fragmentarisch von den Biografien vieler AkteurInnen des Tribunals. Ein Kaleidoskop migrantischen und widerständigen Lebens und Kampfes.

Abschluss: Gemeinsames Feiern mit DJ Kynizzle

Berichte:

Workshop

„Betroffenenperspektiven –
Erfahrungen rechter Gewalt in Sachsen“

Vorbereitet und moderiert wurde das Treffen von MitarbeiterInnen der Opferberatung für Betroffene rechtsmotivierter und rassistischer Gewalt, „RAA Sachsen e.V., Projekt Support für Betroffene rechter Gewalt“ und freiwilligen UnterstützerInnen.

Über 60 BesucherInnen nahmen teil. In der Halle des Veranstaltungsortes wurde eine Ausstellung präsentiert, mit der die Angriffe von Nazis auf MigrantInnen, migrantisch aussehenden und antifaschistisch auftretenden Menschen grafisch dokumentiert wurde.

Demnach gab es seit 1990 in Sachsen insgesamt 317 faschistische Angriffe – 481 Menschen waren Opfer. Bei diesen Angriffen wurden 17 Menschen getötet.

In dem Workshop wurde zuerst über den Mord an Jorge Gomondaiaus Mosambik berichtet. 1991 wurde er in Dresden morgens um vier Uhr in der Straßenbahn von etwa 20 angetrunkenen Neonazis zusammengeschlagen und aus der Straßenbahn ge­­worfen. Die Täter wurden von der Polizei gefasst, aber nicht festgenommen und nicht nach Waffen durchsucht. Von der Gruppe wurden nur drei, erst 1993 (!), vor Gericht gestellt, die alle „keine Erinnerung an die schon zwei Jahre zurückliegende Nacht“ hatten!

Die Staatsanwaltschaft bewertete das Verbrechen als „eine dumme Tat der Jugendlichen“ und forderte für zwei Täter zwei Jahre Jugendstrafe auf Bewährung. Der dritte, erwachsene Täter wurde zu sechs Jahren Haft verurteilt!

Der Staatsanwalt hat in seinem Plädoyer auf „mangelnde attraktive Freizeitbeschäftigungsangebote“, die „solche Taten begünstigen“ hingewiesen! Zynischer geht es nicht.

Der Bruder von Jorge Gomondai, der zum Tribunal eingeladen war, aber nicht kommen konnte, übermittelte eine Videobotschaft, in der er zum gemeinsamen Kampf gegen den Rassismus überall aufgerufen hat.

Sie wurde vom Auditorium begeistert aufgenommen.

Dann wurde über konkrete Überfälle in Hoyerswerda, Pirna, Wurzen, Bautzen, Limbach und Plauen gesprochen. Verschiedene Betroffene und AntifaschistInnen haben ihre Erfahrungen mit Überfällen von Faschisten mitgeteilt.

Eindrücklich wurde klar, antifaschistische, antirassistische Arbeit in Sachsen fordert ungeheuren Mut. Denn unzählige, verschiedene faschistische Gruppen wie „Sturm 34“ „Old school society“, „Freie Kameradschaft Dresden“, „Combat 18“ (vom Innenministerium verboten), „Gruppe Freital“ haben in dem Bundesland ihre Hauptstützpunkte.

In Chemnitz ist die Faschistentruppe „Revolution Chemnitz“ seit 2018 aktiv. Sie hat auch die Demonstra­tion im August mit pogromartigen Hetzjagden organisiert. Vor 2018 wurden in Chemnitz jährlich durchschnittlich etwa 20 faschistische Übergriffe öffentlich, nach dieser Demo waren es bereits zwischen August und November über 60.

In dem Workshop wurde auch klar unterstrichen, dass rassistische Gewalt nicht erst seit dem Mauerfall existierte. Auch zu Zeiten der DDR wurden viele vietnamesische, kubanische, mosambikanische VertragsarbeiterInnen rassistisch verfolgt und auch ermordet. Als ein Beispiel wurde die Geschichte des 1986 in Borne/Bad Belzig ermordeten Jugendlichen Manuel Alberto Diogo aus Mosambik angeführt.

In den Vorträgen und den Diskussionsbeiträgen wurde immer wieder unterstrichen, wie wichtig es ist, dass wir uns offensiv gegen die Demagogie wenden, wenn Rassismus als eine Reaktion auf „Sozialprobleme“ zurückgeführt wird. Es ist eine zutiefst menschenfeindliche Ideologie, die bekämpft werden muss.

In dem Workshop wurden die Betroffenen-Geschichten während des Vortrags von einer Künstlerin in Zeichnungen festgehalten. Diese wurden nach Ende des Workshops ausgestellt.

Workshop:

Sachsen (p)ost-migrantisch – 
Gesprächskreis Migration in Chemnitz

Aus aktuellem Anlass, dem Anschlag auf die Synagoge in Halle, wurde dieser Workshop erweitert auf die Bedeutung des Kampfes gegen den Antisemitismus. In dem Workshop, der sehr stark besucht war, wurden die Zusammenhänge der verschiedenen Formen des Rassismus thematisiert.

Die besondere Dringlichkeit, in der antirassistischen Arbeit den Antisemitismus aufgrund der deutschen Geschichte des Genozids an den JüdInnen Europas besonders in den Fokus zu nehmen, wurde hervorgehoben. Selbstkritisch wurde vielfach festgehalten, dass wir das noch nicht ausreichend in unserem politischen Alltag umsetzen.

Auch den Versuchen der Hierarchisierung von Rassismus, des gegeneinander Ausspielens von Betroffenen von Antisemitismus, Antiziganismus und Antiislamismus durch staatliche Akteure des institutionellen Rassismus treten wir zu wenig entgegen.

Anhand von ausgewählten politischen Statements nach dem Anschlag in Halle am 9. Oktoberwurde konkret darüber diskutiert. Der Inhaber des Kiezbistros in Halle, İzzet Çağaç, in dem der Nazitäter einen Menschen ermordete, hatte in einem Facebook-Beitrag am 13. Oktober tief getroffen angemahnt:

Der Präsident Steinmeier war am Ort. Er hat die jüdische Synagoge besucht wie auch mein ganzes Team. Er legte eine Blume vor die Tür und sprach mit dem Pastor. Meine Mitarbeiter sind immer noch unter Schock. Der Bundespräsident hätte ihnen auch 1-2 Sätze sagen können. Ich bin sehr enttäuscht darüber, dass bei uns dieses Massaker war und der Präsident kein Wort an meine Mitarbeiter verloren hat. Wenn der Präsident eines Landes für die Opfer kommt dann bitte mit allen Opfern reden. Auch uns ist er verpflichtet zu beruhigen und zu trösten … vielen Dank für ihren Besuch Herr Steinmeier“.

Die Mitarbeiter standen bei dem Gedenken einige Meter von Steinmeier entfernt vor der Synagoge. Ein FDP-Politiker antwortete auf den Beitrag kaltschnäuzig, der Bundespräsident sei die falsche Adresse, da hätte sich Herr Çağaç an das Protokollamt wenden müssen! Auch wenn Steinmeier in den folgenden Tagen İzzet Çağaç persönlich angerufen hat, so zeigt doch genau dieser Ablauf, dass Betroffene nicht wirklich im Fokus stehen. Es geht um politische Routine, um das Ansehen Deutschlands aber nicht in erster Linie um die Opfer und Betroffenen.

Auch alle AktivistInnen und am Programm teilnehmenden Initiativen, antirassistischen Netzwerke, MigrantInnen und Betroffene rassistischer Gewalt können wir nicht aufzählen, aber einen kleinen Überblick geben: Ali Tulașoğlu (Chemnitz, Besitzer des Restaurants Mangal, das Nazis in Brand gesetzt und zerstört haben), Newroz Duman (Welcome United), Hannah Zimmermann (Offener Prozess), Phuong Thuy & Phuong Thanh Nguyen, Duc Hoan Nguyen & Thi Lien Huong Pham (Werdau), Ibraimo Alberto & Julia Oelkers (Berlin), Fatma Kar (Berlin), Paulino Miguel (Heidelberg), Initiative 12. August Halle, Arabischer Verein für Integration und Kultur in Chemnitz, AJZ Geschichtswerkstatt Chemnitz, Anja Reuss (Zentralrat Deutscher Sinti und Roma), Antonia von der Behrens & Anna Luczak (Rechtsanwältinnen, Nebenklagevertreterinnen der Familie Kubaşık im NSU-Prozess), Mitat Özdemir, Initiative Keupstraße (Köln), Burak Bektaș Initiative, weitere Betroffene und Opfer rassistischer Gewalt.

Tribunal geht nach Zwickau

Über 120 Tribunal-TeilnehmerInnen machten sich am frühen Sonntagmorgen auf den Weg nach Zwickau. Angekündigt im Programm ist „Gedenken an die Opfer des NSU, Städtische Gedenkveranstaltung. Einweihung der Gedenktafeln für die zehn Opfer des NSU im Beisein der Stifter*innen der Tafeln.“

Angekommen in Zwickau „empfängt“ uns bereits auf dem Bahnsteig eine zehnköpfige Truppe Polizisten in Kampfausrüstung. Vor dem Bahnhof weitere Wannen.

Wir machen uns auf den Weg zum Schwanenteichpark, dem Ort der Gedenkstätte. Durch eine menschenleere Stadt werden wir von drei Polizeitransporter „begleitet“. Dieser „Service“ wurde uns bis zur Abfahrt geboten. Wo auch immer wir angehalten und herum gelaufen sind. Vor dem Park verteilen wir untereinander die in der Nacht vorbereiteten Kartonschilder mit unseren Forderungen.

Der Gedenkort liegt mitten in der Stadt, an einer Straße, umgeben von Bäumen. Vor einem Monat wurde hier ein Baum gepflanzt, der an das erste NSU-Opfer EnverȘimșek erinnerte. Daneben eine Sitzbank der Künstlergruppe Sternendekorateure, die zum Verweilen und Nachdenken einlädt. Kurz nach der Aufstellung des Baums wurde er von Nazis in einer Nacht- und Nebelaktion abgesägt!

Das Stadtparlament hatte daraufhin beschlossen: Wir werden auf diesem Feld zehn Bäume pflanzen, die an die zehn Opfer (dazu später) der NSU-Morde erinnern. Auf die Idee, ein solcher Ort könnte die starke Zwickauer Naziszene auf den Plan rufen, kamen die Initiatoren vor dem Anschlag nicht! Daher wurde dieser Ort gar nicht geschützt!

In ihren Erklärungen zur Verwüstung der Gedenkstelle ging es den StadtpolitikerInnen im Prinzip nicht wirklich um einen ernsthaften Kampf gegen den sich ausbreitenden Rassismus, sondern um Imagepflege! Die Stadtregierung würde nun diesen Park der Erinnerung Tag und Nacht schützen. Mit Polizeipräsenz und sogar mit Bewegungsmeldern in der Nacht! Es gehe ja letztendlich um das „Ansehen der Stadt Zwickau“ und „Deutschlands“, das es zu verteidigen gelte.

Die internationale Reputation Zwickaus und ihrer mittelständischen Industrie stehe auf dem Spiel. Wie würde denn im Ausland reagiert werden, wenn in Deutschland nicht einmal ein Gedenkbaum an einen Nazimord geduldet wird!

Als wir den Gedenkort erreichen sind etwa 200 vor allem ältere BürgerInnen der Stadt um ein Zelt versammelt, das als Technik und Bühne diente, um an der Eröffnung des Gedenkortes teilzunehmen. Zwei Polizisten in „Ausgehuniform” sind als offizielle Vertreter der Polizeidirektion Zwickau vor Ort, die einen Ge­­denkstein für Michèle Kiesewetter gespendet hat. Der ältere ist gleichzeitig Einsatzleiter der mit etlichen Mannschaftswagen präsenten Polizeikräfte. Alle VertreterInnen der Staatsgewalt standen aufgereiht da.

Neben der Polizei, die SPD-Bürgermeisterin Pia Finteiß, Vertreter der Fraktionen der CDU, FDP und der Linken aus dem Stadtparlament, ein Pastor und der Vertreter eines Bischofs. Nicht wenige Presseleute. Sie stehen da und warten, dass es losgeht, der Pflicht genüge getan wird. Kein Plakat, kein Transparent, nichts. Die Veranstaltung war offensichtlich als Aktion konzipiert, in der die Stadt sich als „weltoffen und antirassistisch“ selbst feiert.

Aber nur solange bis wir mit unseren Schildern, auf denen stand, worum es eigentlich geht, ankamen:

Kein Schlussstrich! Kein Gedenken ohne die Betroffenen! Solidarity! Bleiberecht! Antiracism! Migration ist unumkehrbar! Nie wieder NSU! NSU-Komplex auflösen! Wo sind die Angehörigen? Zuhören! Gemeinsam gedenken! Solidarität mit den Betroffenen! Halitstraße jetzt! Opfer sind keine Statisten! Hiç unutmadık – unutmayacağız! Der NSU war nicht zu dritt! Die Forderungen der Betroffenen umsetzen! Entschädigung aller Betroffenen! Solidarität! Warum wird noch immer nicht auf die Angehörigen gehört?

Wir haben unser blaues Transparent, das wir für das erste Tribunal in Köln gemalt hatten, mitgebracht. Mit Porträts der neun vom NSU-Netzwerk ermordeten migrantischen Opfer und mit dem Slogan „Nazis und Staat Hand in Hand! Organisiert den Widerstand!“

Es wurde von einigen TeilnehmerInnen des Tribunals kritisiert, dass auf dem Transparent nur die neun migrantischen Opfer abgebildet sind. Es fehle das zehnte Opfer der NSU-Morde, die Polizistin Michèle Kiesewetter. Wir haben uns dafür bewusst entschieden, da wir ihre Ermordung nicht als eine rassistisch motivierte Tat einschätzen. Wenn es tatsächlich ein NSU-Mord war, wobei wir den ermittelnden Behörden überhaupt nicht trauen und an ihrer Version dieses Verbrechens großen Zweifel haben, haben die Mörder sie nicht aus einer rassistischen Motivation heraus getötet.

Trotzt dieser Kritik wurde das Transparent aber von allen AktivistInnen als eine gemeinsame Intervention gegen diese staatliche Abfeierei verstanden und auch mitgetragen.

Es folgten die offiziellen Reden! Ausgenommen der Rede der Vertreterin der Linkspartei waren sie geprägt von der Idee, Zwickau sei eine „Stadt der demokratischen Mitte.” Bürgermeisterin Pia Findeiß hob hervor, es müsse gegen „Rechts- und Linksextremismus“ gekämpft werden. Und das bei der Eröffnung eines Gedenkortes für die Opfer eines faschistischen Netzwerkes, dessen eine Hochburg die Stadt Zwickau war und immer noch ist! Welch ein Hohn! Welch eine Dreistigkeit! Welch eine Tatsachenverfälschung!

Es gibt in Deutschland keine migrantischen Opfer rassistischer Morde, die von „Linksextremisten“ verübt wurden. Mit solchen Gleichsetzungen werden die Nazi-Faschisten in Schutz ge­­nommen!

Die Bürgermeisterin befasste sich in ihrer Ansprache mit der „glorreichen kulturellen Vergangenheit der Stadt Zwickau.“ Aber weder sie noch irgendeine/r der anderen, offiziellen RednerInnen nannten die Namen der Opfer der NSU-Morde!

Die Namen der Menschen, um die es bei der Gedenkstätten-Eröffnung gehen sollte! Vertreter beider christlichen Kirchen waren geladen und hielten Reden. Aber kein islamischer Vertreter, kein/e Imam/Imamin, kein alevitischer Dede war eingeladen worden. Die zehn Gedenktafeln wurden sogar von einem Pfarrer geweiht. Wie übergriffig und respektlos! Christliche Vereinnahmung selbst noch im Tod. Auf Nachfrage bei der Bürgermeisterin, warum kein islamischer Vertreter eingeladen wurde, kam die fatale Antwort, es gebe keinen in Zwickau.

Für die Gedenkfeier für die Opfer des faschistischen NSU, die aus rassistischen und auch antiislamischen Hass getötet wurden, kann kein islamischer Religionsvertreter aus einer anderen Stadt eingeladen werden?

Tribunal-AktivistInnen fragten während der offiziellen Veranstaltung bei den Organisatoren an, ob Mitat Özdemir, Opfer des Nagelbombenanschlags in der Keupstraße/Köln, der am NSU-Tribunal Chemnitz teilgenommen hat, sprechen kann. Auch er war als Betroffener des NSU-Terrors nicht eingeladen worden. Die offiziellen Veranstalter konnten das nicht ablehnen. Er sprach das zentrale Problem in seiner kurzen, prägnanten Rede an:

Ich bin traurig, ich bin sehr traurig, ich habe gerade einen Kranz gesehen, die Namen sind falsch geschrieben. Also es wird nicht so ernst genommen, wie es sein soll. So ein Gefühl habe ich hier. Deswegen bin ich sehr traurig. Es fehlen hier Angehörige und Opfer. Ich habe gehofft, dass ich alle hier sehe, die Betroffenen, und mit ihnen spreche. Wir haben in Köln ein Attentat auf der Keupstraße erlebt. Man wollte da einen Massenmord vorbereiten. Sie haben auch vieles geschafft. Eben habe ich ein Gedicht gehört von einer Dame. Es ist nicht vorbei. Ich glaube wir sind gar nicht im Bewusstsein was wir hier erleben. Es muss viel ernster genommen werden. Freunde, es ist nicht mehr 5 vor 12 sondern es ist fast 12 Uhr. Es wird diese braune Suppe uns alle schlucken, wenn wir nicht langsam wach werden.“

Die Angehörigen der ermordeten Opfer sind zu dieser Veranstaltung nicht eingeladen worden! Einfach „vergessen!?“ Im Nachhinein werden lächerliche Ausreden geliefert: Die „Ombudsfrau Barbara John sei Sprecherin der Angehörigen. (Was nicht stimmt!) Sie wurde angefragt und habe mitgeteilt, die Angehörigen wollten nicht teilnehmen” und „Die Adressen der Angehörigen sind gesperrt. Wir konnten sie nicht erreichen.” (Bürgermeisterin Finteiß) Das zeigt so offensichtlich, es geht und ging bei dieser Veranstaltung nur um die Selbstdarstellung der Stadt und des Staates.

Gamze Kubașık, die Tochter von Enver Kubașık hat am Freitag vor der Veranstaltung empört protestiert. Ihre Familie wurde „nicht zur Idee der Gedenkbäume gefragt und auch nicht zur Gedenkfeier nach Zwickau eingeladen”. Weitere Familien der NSU-Opfer haben sich zu Wort gemeldet und ihr Erschrecken über diesen Umgang geäußert. Es geht nicht nur um eine Einladung, es geht um die gesamte Gestaltung des Gedenkortes, der Gedenktafeln und der Veranstaltung.

Warum sind es nicht die betroffenen Familien, die darüber entscheiden, wie das Gedenken zu gestalten ist? Der deutsche Staat, die Städte Chemnitz und Zwickau haben13 Jahre lang die zur Fahndung ausgeschriebenen Nazi-Mörder nicht gefasst. Die Angehörigen der NSU-Opfer wurden jahrelang von den Ermittlungsbehörden, Medien und Politik verdächtigt und drangsaliert. Und dann bestimmt der Staat, bestimmen die Repräsentanten der Stadt Zwickau über das Gedenken?

Die Angehörigen werden nicht gehört, weil sie faktisch nicht zählen. Einige Namen der Opfer des NSU wurden auf den Gedenktafeln fehlerhaft geschrieben. Die Texte über die ermordeten Menschen und die Sponsorennennung sind übergriffig und unsensibel. i

Keine Empathie mit den Opfern und Angehörigen! Wir denken, die Familien hätten den geschmacklosen, kaltherzigen Worten über ihre Liebsten auf den Steinen auf keinen Fall zugestimmt.

Im Zentrum stand nicht das Gedenken gemeinsam mit den Angehörigen und die Trauer um die Opfer: Nicht die notwendige Scham, Betroffenheit und das Eingeständnis von Mitschuld der staatlichen Institutionen und der Mehrheit der Bevölkerung Zwickaus wurde thematisiert. Die Stadt in der sich die NSU-Mörder elf Jahre frei und unbehelligt bewegen konnten, instrumentalisierte das Gedenken für sich.

Die „Zeremonie” war ein Desaster. Viele AktivistInnen waren sich einig, wie wichtig es war als Tribunal ein Zeichen dagegen zu setzen!

Ende der Gedenkveranstaltung
Polizeiübergriffe auf AktivistInnen

Die AfD, die heutige größte legale Partei der Nazis in Deutschland, beteiligte sich mit einem Kranz an der Eröffnung des Gedenkortes für die Opfer der NSU-Morde! „Im stillen Gedenken an die Opfer/AfD“ stand auf der Kranzschleife und wurde einen Tag vorher von einer AfD-Delegation abgelegt. Diese heuchlerische Unverschämtheit hat sich eine junge Aktivistin nicht gefallen lassen. Sie hat die Schleife mit dem AfD-Namen abgeschnitten.

Das war aber von Seite der Zwickauer Polizei eine Sachbeschädigung, die nicht geduldet werden konnte und sofort geahndet werden sollte! Aggressivste Jungbullen der Zwickauer Polizeidirektion haben die junge Aktivistin wie eine Verbrecherin gejagt und versucht, sie in das Polizeiauto zu zerren und abzutransportieren. Wir haben versucht das zu verhindern.

Es kam zu wilden Rangeleien und heftigen Wortwechseln. Wobei die Polizei auch Reizgas einsetzte. Besonders eine Dreier-Gruppe von Polizisten hat sich provokativ und extrem aggressiv verhalten. Während der ältere Einsatzleiter, den guten Oberbullen spielte und die Gemüter zur Ruhe mahnte. Am Ende konnte das Polizeiauto nicht wegfahren und die Aktivistin wurde gleich vor Ort freigelassen.

Als die Eröffnungsveranstaltung zu Ende ging, entsorgte eine andere Aktivistin den ganzen Kranz in einen städtischen Mülleimer an einer Bushaltestelle. Das Bild von Polizisten, die mit Papier, Stift und Kamera bewaffnet an diesem Tatort nach Spuren der „verbrecherischen Täter“ suchten, war eines der bleibenden Bilder des Tages! Folgender Kommentar spricht für sich selbst und den stumpfen grünen „Antifaschismus“: „Als dumme Tat bezeichnete Grünen-Stadtrat Wolfgang Wetzel die Zerstörung des AfD-Kranzes, der später noch in einen Papierkorb gestopft wurde. ‘Wenn man den Opfermythos des Rechtsnationalismus bestätigen will, muss man genau das machen.’”ii

Einen Tag später am 4. November, machte Kanzlerin Merkel einen kurzen Abstecher vom Festakt für den Produktionsstart des E-Autos im Werk Zwickau am Gedenkort. Die Stadt war völlig abgeriegelt, 350 Polizisten im Einsatz. Eine kleine Gruppe von ca. 20 PolitkerInnen, Kretschmer, Findeiß und Barbara John, handverlesene SchülerInnen. Angehörige der Opfer waren natürlich wieder nicht geladen. Die Nazis demonstrierten fern ab. Das ist die offene Stadt Zwickau!

Stadtrundgang in Zwickau

Wir haben danach die vom Tribunal und der Ge­­schichtswerkstatt Zwickau organisierte Besichtigungstour zu zwei Orten, wo die NSU-Mörder gehaust haben, unternommen. Die Tour führten junge Frauen der Geschichtswerkstatt und informierten uns über die Geschichte dieser Stationen. Wir konnten dabei genau sehen und erleben, dass es ein Ding der Unmöglichkeit ist, dass die angeblich ermittelnden Zwickauer Polizeikräfte die in der „Illegalität lebenden” NSU-Mörder nicht bemerkt haben. Die Wohnung, in der sie sieben Jahre logierten war ein vierstöckiges Haus mitten in der Innenstadt. Mit den Nachbarn waren sie gut befreundet. Die Naziszene ging ein und aus. Ihre spätere Wohnung in der Frühlingsstraße, hier lebten sie dreieinhalb Jahre, war ein zweistöckiges Haus in einer gutbürgerlichen Wohngegend. Hier kennen sich alle gegenseitig. Jeder ankommende, vorbeigehende „Fremde“ fällt auf. Auch bei unserem Besuch standen viele AnwohnerInnen hinter den Gardinen und beobachteten uns. Der im NSU-Prozess zu einer lächerlichen Strafe verurteilte Obernazi A. Eminger war häufiger Besucher beim NSU-Kerntrio. Mit seinen Nazi-Tätowierungen und Aussehen eindeutig als Nazi auszumachen.

Nach diesem befremdlichem Stadtrundgang ging es zur Eröffnung des Interim-Dokumentationszentrums der Zwickauer Geschichtswerkstatt mit anschließender Podiumsdiskussion: „Was bleibt? Zum Stand der NSU-Aufarbeitung im Jahr 2019“ in einer verkehrsberuhigten Einkaufsstraße Zwickaus. Eine Ausstellungsdokumentation über den NSU informierte sehr detailreich über seine Aktivität speziell in Sachsen, Chemnitz und Zwickau. Junge AktivistInnen hatten für uns alle, über 100 BesucherInnen einen sehr schönen Empfang mit super leckerem veganen Essen vorbereitet. Es war eine wunderbare solidarische kämpferische Atmosphäre. Danke für alles an alle, die in Chemnitz und Zwickau die ganze Organisation geschultert haben.

Die Aktion in Zwickau, wie auch das Tribunal in Chemnitz waren für alle ein voller, motivierender Erfolg im Kampf gegen Rassismus und für solidarisches Miteinander! Weiter so!

Presseerklärung RA Sebastian Scharmer

Am heutigen Tag habe ich als Anwalt von Gamze Kubașık von Pressevertretern erfahren, dass am 3. und 4. November 2019 in Zwickau das Mahnmal für die Ermordeten des NSU erneut eingeweiht werden soll. Diese Informationen ha­­ben Gamze Kubașık und ihre Familie heute von mir das erste Mal gehört, nachdem ich sie ebenfalls allein von Me­­dien­vertretern bekommen hatte. (…)

Gamze Kubașık sagt dazu: „Ich finde es natürlich gut, wenn an den Mord an meinem Vater erinnert wird und auch die Menschen in Zwickau daran erinnert werden, dass unter ihnen über Jahre hinweg unbehelligt mordende Neonazis des NSU wohnen konnten. Aber ich finde es eine Unverschämtheit, dass man mich als Tochter nicht wenigstens vorher fragt, mich nicht informiert, uns noch nicht einmal zur Eröffnung einlädt. Es geht doch auch um meinen Vater und sein Andenken. Ich weiß auch gar nicht, ob ich möchte, dass in Zwickau ein Baum für ihn gepflanzt wird, wenn man dort gar nicht sicher sein kann, dass er nicht wieder abgesägt wird. Ich glaube auch, dass die Bundeskanzlerin Angst hat, sich unseren Fragen und Vorwürfen zu stellen. Sie hatte uns damals vollständige Aufklärung versprochen, die wir bis heute nicht bekommen haben. Wahrscheinlich hat man uns deshalb ganz bewusst nicht eingeladen.“

i Gespendet haben beispielsweise die DPFA Akademiegruppe, die Gebäude- und Grundstücksgesellschaft Zwickau mbH (GGZ), die Zwickauer Energieversorgung mbH (ZEV), das kommunale Krankenhaus (HBK), die Volkswagen Sachsen GmbH oder die Polizeidirektion Zwickau.

ii www.freiepresse.de/zwickau/zwickau/das-gedenken-und-seine-schattenseiten-artikel10650963